Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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XII

Als er zu Ende gelesen hatte, stürzte sich der Graf, wahnsinnig vor Schmerz und Wut, auf die Verfolgung des geheimnisvollen Wesens, das, seine Erschöpfung nützend, ihm Ediths Briefe und jenen Pakt, der ihn an einen unbekannten Willen band, auf die Knie gelegt hatte. Aber umsonst durchlief er die langen Alleen, umsonst forschte er in jedem Gebüsch. Freilich war die Nacht stockfinster, und nur das trübe Licht einer fernen Laterne leuchtete seiner richtungslosen Jagd.

Müde dieser unsinnigen Verfolgung verließ er den Park und wandte sich, ohne recht zu wissen, was er tat, in die Richtung von Primrose-Hill.

Die Häuser begannen sich allmählich zu lichten. Schon mischten sich Wiesen und Felder dazwischen, und bald war er auf freiem Feld und begann den ersten der Hügel zu ersteigen.

Während seiner Wege und Umwege war viel Zeit verflossen, und ein später Novembermorgen sandte seine bleichen Strahlen zwischen großen, zerfetzten Wolken hindurch, die gleich riesenhaften Leichen das Schlachtfeld der vergangenen Sturmesnacht bedeckten. Nichts mochte weniger an Homers rosenfingrige Eos erinnern als dieser echt britannische Sonnenaufgang.

Volmerange ließ sich zu Füßen eines halbentlaubten, im herben Morgenhauch erzitternden Baumes auf die Erde fallen und zog aus seiner Tasche die halbzerfetzten Briefe Ediths hervor. Sie ließen freilich keinen Zweifel an seinem Unglück zu. Aber ihr Inhalt machte einen gezwungenen Eindruck, und die Leidenschaft äußerte sich in Verlegenheitsformen, als hätte die Schreiberin mehr einer unbewußten Bezauberung als einem wahren Impuls gehorcht. Diese Lektüre verschärfte nur noch sein Leiden; und doch bedurfte er ihrer, um seinen Racheakt vor seinen eigenen Augen zu rechtfertigen. Denn kaum war die wilde, schreckliche Tat begangen, als auch schon Zweifel, nicht an der Gewißheit ihrer Schuld, wohl aber an der Rechtmäßigkeit seines Strafurteils, ihn verzehrten. Vor seinen Augen schwebte wie ein verkörperter Vorwurf die weiße Gestalt, die durch die Nebelwolken im dunkeln Abgrund verschwunden war. Er stellte sich die bange Frage, ob er seine Rechte als Gatte und Edelmann nicht mißbraucht hatte, als er an dem jungen, schönen, lebensfrohen Geschöpf das furchtbare Gericht vollzog! Wie schrecklich auch ihre Schuld gewesen sein mochte, die grausame Strafe machte ein unschuldiges Opfer aus ihr. Er würde denjenigen, der ihm am vergangenen Morgen seine nächtliche Mordtat prophezeit hätte, für toll gehalten haben. Und nun war es Wirklichkeit, daß er eine Wehrlose unbarmherzig seiner Rache aufgeopfert hatte. Er war zum Mörder an der Frau geworden, der er sich vor Gott und den Menschen als Beschützer angelobt hatte. Die furchtbare Hinrichtung mochte vor den Gesetzen der Ehre vielleicht zu Recht bestehen; aber sie erfüllte ihn mit Abscheu vor sich selber. Und wie? Hätte er nicht zuerst den Verbrecher, den Verführer richten müssen? In seiner blinden Raserei hatte er Edith getötet und sich damit jede Möglichkeit zunichte gemacht, den Ursachen ihrer Schuld auf den Grund zu kommen. Er hätte Edith zuerst den Namen des Verführers entreißen und diesen dann langsam und mit barbarisch erfinderischer Grausamkeit foltern müssen. Denn die furchtbare Rachgier seines Herzens konnte durch eine rasche Todesstrafe nicht beschwichtigt werden.

Auch des geheimnisvollen Verbandes gedachte Volmerange, dessen Schwurformel dem geneigten Leser schon bekannt ist; und er empörte sich über die gewaltsame Rückforderung seiner Person nach so vielen Jahren vollkommenen Schweigens. Denn obwohl er jenen Schwur freiwillig abgelegt hatte, so bäumte sich jetzt doch sein ganzes Wesen gegen diese Vergewaltigung seines freien Willens auf. Gewiß, er hatte sich gebunden; jedoch verführt von einer ganz jugendlichen Begeisterung, alle Kräfte seines Geistes und Körpers einer großen, gemeinsamen Sache zu weihen. Und war es nötig, darum der Stimme des Herzens zu entsagen, aufzuhören ein freier Mensch zu sein: willenloses Werkzeug zu werden in einer unbekannten Hand?

Plötzlich fiel ihm das seltsame Zusammentreffen von Ediths Schuldbeweisen mit der Mahnung an seinen Schwur auf. Wollte man ihn durch diesen furchtbaren Schicksalsschlag von jeder menschlichen Bindung lösen? Wollte man sich seine Verzweiflung zunutze machen, die ihn Hals über Kopf in die unmöglichsten Unternehmungen stürzen würde? Jetzt fiel ihm auch das Wort eines einflußreichen Bundesbruders ein: Gott schuf die Frau, auf daß sie den Mann an allzu großen Werken verhindere! Indem man ihm also die Schmach derjenigen, die er liebte, vor Augen hielt, hoffte man ihn widerspruchslos von der Wahrheit des Shakespeare-Wortes »Schwachheit, dein Name ist Weib!« zu überzeugen und ihm diese Lockspeise zu vergiften.

»Ach,« sagte er zu sich selber, »wem ist hinfort noch zu trauen, wenn die Stirne lügt, wie der Mund; wenn die Reinheit Trug und die Schamhaftigkeit nur Maske ist; wenn der himmlische Funke nur der Widerschein des höllischen Feuers; wenn das Herz der Rose wurmstichig ist; wenn der jungfräuliche Kranz die entfesselten Locken der Ausschweifung ziert!

Edith – Edith! Ich hatte dir furchtlos und ohne Arg die Ehre meines alten Stammes anvertraut. Ich hätte geschworen, daß du die alte ritterliche Ehre, das königliche Blut Indiens, das in meinen Adern fließt, keusch fortpflanzen würdest! – Und doch liebte sie mich! Ich weiß es gewiß!« rief er aus und schlug mit der Faust heftig auf sein Knie. »Nein, ihr schmachtender Blick kannte keine Lüge; ihre Stimme sprach den echten Ton der Liebe; ein Teufel hatte hier seine Hand im Spiel! Und doch: wies sie meine Anschuldigung auch nur ein einziges Mal zurück? Verteidigte sie sich auch nur mit einem einzigen Wort? Nein! Sie ist schuldig – schuldig – schuldig!« fuhr er fort, das Wort mit monotoner Beharrlichkeit wiederholend, wie einer, der die Besinnung schwinden fühlt und sich an die letzte Silbe klammert, die dem ertrinkenden Verstand zum rettenden Strohhalm werden soll.

Träne auf Träne rollte langsam und unaufhörlich über sein Gesicht. Er dachte nicht daran, sie zu trocknen. Wie den Kehrreim einer alten Ballade wiederholte er: »Sie ist schuldig – schuldig – schuldig!«

Mittlerweile war es Tag geworden. Vor den Höhen von Primrose-Hill lag ganz London ausgebreitet, das jetzt gleich einem dampfenden Wasserkessel zu rauchen begann. Der Anblick war überwältigend. Breite Streifen bläulichen Nebels zeigten die Windungen der Themse an, von den schrägen Strahlen der Morgensonne getroffen, hoben sich aus dem Dunstmeer da und dort die spitzen Pfeile der Kirchtürme. Gerade gegenüber ragten die schwarzen Massen der beiden Westminster-Türme auf. Der Herzog von York stand wie eine winzige Puppe auf seiner schlanken Säule. Weiter zur Linken loderte das Feuermonument mit bronzenen Flammen zum Himmel auf; der Tower versammelte seine Bollwerke um sich; St. Paul wölbte seine von zwei Türmen flankierte Kuppel. Licht und Schatten spielten auf diesem grandiosen Häusermeer, in dem hier und dort die Parks und Squares wie grüne Inseln schwammen. Aber Volmerange, dessen regungsloser Blick das wunderbare Schauspiel mit tiefster Anteilnahme in sich aufzunehmen schien, sah in der Tat gar nichts. Ediths bleicher Schatten schwebte vor seinem Blick. Seine Raserei hatte sich gelegt und einer solchen Zerknirschung Platz gemacht, daß eines Kindes Willen ihn hätte lenken können. Seine ganze Lebenskraft schien sich in der ungeheueren Aufregung erschöpft zu haben. Er erlag dem Bewußtsein seiner Freveltat.

Mühsam versuchte er sich aufzurichten; aber die Knie versagten ihm den Dienst. Eine Wolke schwamm vor seinen Blicken; seine Stirne bedeckte sich mit kaltem Schweiß, er sank zur Erde zurück.

Im selben Augenblick ging ein Mann von ehrlichem Aussehen und in einfacher Kleidung unten auf der Straße vorüber. Es war eine jener Gestalten, denen man tausendmal begegnen kann, ohne sie wiederzuerkennen – so sehr trug sie Maske und Kleid der großen Masse.

Der Mann eilte auf Volmerange zu, der von Aufregung und Müdigkeit erschöpft und vom rauhen Morgenwind erstarrt in Ohnmacht zu fallen drohte.

»Was ist Euch, Herr,« sagte er mit teilnehmender Miene, »Ihr seht blaß und leidend aus.«

»O, nichts von Bedeutung; eine vorübergehende Schwäche«, hauchte des Grafen verlöschende Stimme.

»Ich segne den günstigen Zufall, der mich hierhergeführt hat. Ihr seht in mir einen Arzt, der sich auf dem Wege zu einem Kranken in Primrose-Hill befindet. Ich führe bei mir, was Euch wieder zu Kräften bringen wird«, sagte der Mann, indem er ein Futteral aus seinem Rock zog, das ganz der Instrumententasche eines Chirurgen glich, und dem er ein Fläschchen mit Riechsalz entnahm.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Mir ist in der Tat nicht wohl«, murmelte der Graf mit hängendem Kopf.

Der Wunderdoktor entkorkte das Fläschchen, dem alsbald ein durchdringender Geruch entstieg, und hielt es dem Kranken unter die Nase. Aber das Mittel brachte keineswegs die von uns erwartete Wirkung hervor. Denn statt Volmerange aus seiner Betäubung aufzurichten, schien es diese noch zu verstärken, und die tiefen Atemzüge, mit denen er die Medizin einsog, verbrauchten den letzten Rest seiner Kräfte.

Den vermeintlichen Arzt aber beunruhigte die tiefere Ohnmacht des Kranken durchaus nicht; statt das übel wirkende Fläschchen zu entfernen, hielt er es Volmerange nur noch dichter vors Gesicht.

Auf den Schwächezustand folgte eine vollkommene Lethargie. Volmerange wurde zur leblosen Puppe; seine Arme hingen schlaff herab, sein Kopf fiel von einer Schulter zur anderen.

»Köstliche Erfindung!« murmelte der sonderbare Arzt, sehr befriedigt von der merkwürdigen Wirkung seines Mittels. »Jetzt läßt sich mit ihm reden; weiß er doch nicht, ob er sich im Himmel, auf der Erde oder in der Hölle befindet. Er ist jetzt so umgänglich wie ein Warenballen oder eine acht Tage alte Leiche, und er würde mir ohne Widerspruch bis nach China folgen. Aber jetzt aufgepaßt, ob sich kein Wagen zeigt, in dem ich ihn unterbringen könnte.« Mit diesen Worten stellte sich der Fremde in die Mitte der Straße, um einen möglichst weiten Ausblick zu gewinnen.

Er brauchte nicht lange auf seinem Posten auszuharren, denn eine Kutsche rollte mit Donnergetöse und blitzenden Rädern in einem für kontinentale Begriffe ungeahnten Tempo in der Richtung nach London daher. Der angebliche Arzt machte ein Zeichen, und der Wagenlenker hielt bei dem Hügel an, auf dem Volmerange bewußtlos ausgestreckt lag.

»Hilf mir, den Gentleman in Deine Kutsche zu bringen. Er hat sein Abendessen etwas zu reichlich mit spanischen und französischen Weinen begossen und ist bei seiner kleinen Morgenpromenade unter diesem Baum da eingeschlafen. Ich kenne ihn gut und werde ihn in sein Haus zurückbringen.«

Der Kutscher half, den Bewußtlosen in den Wagen zu heben, ohne weitere Fragen zu stellen; denn ein betrunkener Edelmann ist etwas zu Alltägliches, um darüber in Erstaunen zu geraten. Als er jedoch auf seinen Bock zurückkletterte, seufzte er melancholisch auf mit den Worten: »Wie gut hat's solch ein Lord, daß er schon am frühen Morgen betrunken sein darf!« Nach diesem Stoßseufzer trieb er die Pferde an und lenkte sie in der Richtung einer Vorstadtstraße Londons, wo sich ein bestimmtes Haus nach der Beschreibung seines Auftraggebers befinden mußte.

Nach wenigen Minuten hielt der Wagen vor einer in eine Mauer eingelassenen kleinen grünen Tür, deren Messingknopf golden glänzte. Halbentlaubte Bäume ragten hinter der abgedachten Mauer empor und ließen auf einen ausgedehnten Garten schließen, der das Haus von der Straße trennte.

Der Mann, dem Volmerange das herzstärkende Mittel verdankte, ergriff jetzt den Messingknopf und zog ihn mehrere Male in gewissen Abständen, was eine bestimmte Bedeutung zu haben schien.

Alsbald erschien ein Diener an der Tür, dem unser Mann ein paar Worte zuflüsterte, worauf dieser wieder ins Haus lief, um kurz darauf mit zwei Gefährten von olivgrüner Hautfarbe und fremdartigem Gesichtsschnitt zurückzukehren. Die beiden hoben Volmerange aus dem Wagen heraus und brachten ihn in einen jener runden Pavillons, wie sie in London häufig an die Wohnhäuser angeschlossen sind.

Der reichbelohnte Kutscher fuhr seines Weges, ohne sich einen Gedanken über seine Fahrgäste zu machen. Er hatte in der vergangenen Nacht vier Herzöge und Marquis nach Hause oder anderswohin gefahren, deren Zustand ihm nicht weniger problematisch erschienen war als der seines letzten Passagiers.

Inzwischen riß der falsche Doktor ein Blatt Papier aus seinem Portefeuille, bedeckte es mit Zeichen und Worten einer unbekannten Sprache, und nachdem er das Schreiben dem Diener übergeben, zog er sich zurück. Das Haus, in das man Volmerange gebracht hatte, machte einen reichen und vornehmen Eindruck und schloß den Verdacht einer Diebes- oder Mörderhöhle vollkommen aus. Ein weiß und rosa gestrichener Balkon warf seinen zierlichen Schatten auf die Marmorplattform. Im Innern des Hauses standen auf Marmorkaminen große, fleckenlose Spiegel aus einem Stück und warfen den Anblick riesiger blumengefüllter Chinavasen zahllos zurück. Die Kristallkuppel eines ungeheuren, an den Salon anstoßenden Treibhauses wölbte sich über einem wahren Urwald: Fächerpalmen, Bambus, Tulpenbäume, Lianen, Passionsblumen, Pampelmusen, Opunzien und Kletterrosen gediehen hier zu tropischer Üppigkeit. Sie spreizten ihre Stacheln, zückten ihre Dolche, reckten die Spitzen ihrer ungeheuerlich geformten Blätter; ließen ihre Kelche wie Farben- oder Duftbomben platzen und bewegten die langen Blütenblätter wie Flügel von Tropenschmetterlingen.

Die beiden dunkelbraunen Diener legten den immer noch schlafenden Volmerange auf einen Diwan nieder und zogen sich dann schweigend zurück.

Die Ankunft dieses Fremden, den sie heute zum erstenmal erblickten, erregte bei ihnen nicht das geringste Erstaunen.

Schon einige Minuten lang lag Volmerange immer noch unter der Wirkung des Betäubungsmittels da, ohne daß sich irgend jemand vom Hause gezeigt hätte. Das Zimmer, in dem er ruhte, wies neben einer einfach gehaltenen Vornehmheit einige Absonderlichkeiten auf, die einem aufmerksamen Beobachter auffallen mochten. Eine kostbare indische Matte bedeckte den Boden; auf einem Kamin stand ein Bildwerk der indischen Dreifaltigkeit: Brahma, Wischnu und Schiwa; ein Schild aus Elefantenhaut, ein Krummsäbel, ein malayischer Kris und zwei Wurfspieße schmückten als Trophäen die Wände. Dieser charakteristische und in London weniger als anderswo auffallende Zierat schien die Wohnung eines in Kalkutta zu Reichtum gelangten Nabobs oder eines hohen Beamten im indischen Staatsdienst anzuzeigen. Endlich wurde ein Brokatvorhang beiseite geschoben, und auf der Schwelle erschien ein sonderbares Wesen.

Es war ein Greis von hoher, leicht gebeugter Gestalt, der sich auf einen elfenbeinernen Stock stützte. Sein mageres, ausgetrocknetes, sozusagen mumifiziertes Gesicht erinnerte an Leder aus Cordova oder an Tabaksblätter aus Havanna; dunkle Ringe zogen sich um die tiefliegenden Augen, die wie die Lichter eines Raubtiers sprühten und durch das Alter nicht einen Funken ihres Feuers eingebüßt hatten. Seine gekrümmte Adlernase war völlig fleischlos und glänzte wie ein nackter Knochen. Die hohlen, von tiefen Falten zerfurchten Wangen klebten an den Kiefern; dünne Lippen spannten sich über die Zähne, die vom vielen Betelkauen gelb wie Gold gefärbt waren. Die Gelenke seiner Hände erinnerten an diejenigen eines Orang-Utangs und waren von einer Haut bedeckt, die sich in vielen Querfalten wie der Spann eines Husarenstiefels darüber legte. Eine kleine, rote Perücke aus Fuchsschwanzgras saß auf dem braunen, von der Sonne gegerbten Schädel, in dem die Leidenschaften fixer Ideen zu brüten schienen. An seinen Ohrläppchen schaukelten sich wie an einem Stückchen alten Leders zwei goldene Ringe.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Dieses gelbe, schrumplige, faltige Gespenst, dessen Gelenke beim Gehen vor Trockenheit knackten wie die Knie Don Pedros, schien nicht nur hundert-, sondern tausendjährig zu sein. Sein Alter mochte ans Fabelhafte grenzen; aber die Augen, das einzig lebendige in dem erstorbenen Gesicht, hatten das Feuer ihrer Jugend bewahrt. In ihnen sammelte sich die ganze Kraft dieses erloschenen und nur durch einen mächtigen Willen auf der Erde zurückgehaltenen Körpers.

Hätte Volmerange nicht in den unlösbaren Banden dumpfen Schlafes gelegen, so wäre er beim Nahen dieser phantastischen Erscheinung, wie von einem Traumspuk erschreckt, zurückgefahren. Denn trotz des weiten schwarzen Rockes, der seidenen Hosen und Strümpfe, die einem Minister angestanden hätten und gar nicht geisterhaft wirkten, schien der Greis geradeswegs einer anderen Welt zu entsteigen.

Aber es war nichts Übelwollendes in seinen Zügen zu lesen, als er sich dem Diwan näherte. Im Gegenteil, ein Ausdruck von Zufriedenheit, ja die Andeutung eines Lächelns zeichnete sich, so gut es gehen wollte, auf seinem mit tausend Runzeln bekritzelten, vorsintflutlichen Gesicht ab, das die Hautfarbe der Pharaonen zierte.

In der Hand hielt er das Papier, das der Unbekannte dem Diener übergeben hatte, als er Volmerange ablieferte, und der Inhalt des Schreibens mußte ihn angenehm berühren; denn als er es ein letztes Mal überflog, ehe er es dem Feuer übergab, murmelte er mit halber Stimme: »Dieser Bursche ist wirklich brauchbar. Ich werde Anweisung geben, daß man seinen Eifer belohne.« Nach diesen Worten ließ er sich neben Volmerange nieder, um die Verflüchtigung des Schlafmittels abzuwarten. Als aber der junge Graf noch immer nicht erwachen wollte, rief er die beiden braunen Diener zurück und ließ Volmerange auf ein Ruhebett ins Nebenzimmer legen.

Dieser Raum war mit orientalischer Märchenpracht ausgestattet und konnte an Glanz und Reichtum von keinem Palast in Benares oder Haiderabad übertroffen werden. Zierliche Säulen aus weißem Marmor, um die sich eine Rebengirlande wand, deren Blätter aus Smaragden und die Trauben aus Granaten bestanden, trugen eine köstlich eingelegte, ziselierte, in viele Felder abgeteilte, mit Blumen, Sternen und phantastischen Ornamenten reich überwucherte Decke. Die Wände entlang lief ein Fries, auf dem die wichtigsten Geheimnisse der indischen Theogonie abgebildet waren. Da sah man Gottheiten mit Elefantenrüsseln und Polypenarmen, Lotosblumen, Zepter und Geißeln in Händen tragend. Bedeutungsvolle Arabesken, die geheimnisvolle Gedankensymbolik der Weltenschöpfung ausdrückend, rankten sich um die belaubten Glieder von halb mensch-, halb tierhaften Ungeheuern. Trotz ihrer hierarchischen Steifheit und einer fast kindlich primitiven Ausführung waren diese Schilderungen doch von außerordentlicher Lebendigkeit. Das Gewirr der Linien schien sich vor den erstaunten Blicken geheimnisvoll zu regen, und die Gestalten waren bei aller Ruhe bewegt. Zwischen den Säulen und diese verbindend, fielen in schweren Falten Vorhänge aus Goldbrokat nieder.

Ein Teppich, dessen krauses, tausendfarbiges Muster an den Kaschmirschal einer Gigantin erinnerte, bedeckte den Boden. Das von matten Fensterscheiben milchig gedämpfte Licht ließ diese asiatischen Herrlichkeiten noch unwirklicher erscheinen. Aus kleinen in den vier Ecken des Zimmers aufgestellten Schalen stieg von verbrennendem Räucherwerk ein durchsichtiges, bläuliches Gewölk auf und gab dem ohnehin wundersamen Raum eine märchenhafte Unwirklichkeit. Durch diese dampfenden Schleier hindurch flimmerte es von Gold, Granaten und Kristallen, und die Skulpturen und Reliefs gewannen ein eigentümliches Leben. Sie begannen zu schreiten; die Säulen drehten sich in Spiralen um sich selber, und sei es, daß der Duft der aus großen Vasen wuchernden exotischen Blumen oder die Kräuter in den Räucherpfannen jene berauschende Wirkung ausströmten, die das Geheimnis Indiens bleibt – alles in diesem Raum schien nach wenigen Minuten die wechselnde, unfaßbare Wesenheit von Träumen anzunehmen.

Nicht lange, so kehrte der sonderbare Greis zurück. Er hatte sich seiner europäischen Kleidung entledigt, und ein kunstvoll gewundener Turban auf seinem rasierten Schädel ersetzte die Bastperücke von vorhin. Zwei weiße, mit einem geweihten Stift gezogene Linien zeichneten sich auf seiner fahlen Stirne, und in seiner Nase hing ein mit Brillanten besetzter Ring. Ein Gewand aus feiner, weißer Wolle bedeckte seinen Leib von den Schultern bis zu den Füßen in geraden, von keiner Körperrundung unterbrochenen Falten und hob seine Magerkeit noch deutlicher hervor. Der weiße Turban und das makellose, lange Kleid standen in seltsamem Gegensatz zu der kupferroten Hautfarbe und verliehen der maskenhaften Erscheinung ihre unverkennbar indische Zugehörigkeit.

Ganz so mochte der Gläubige aussehen, der die Höhle von Elephanta oder den Tempel Jaggernaut verläßt, um in feierlichen Schritten der blutigen Spur des heiligen Wagens zu folgen.

Er stand aufrecht zu Häupten des Ruhebettes und wartete geduldig, bis die betäubende Wirkung des Narkotikums sich verziehen und Volmerange aus seiner Besinnungslosigkeit erwachen würde.

Schon hatte dieser die Augen halb geöffnet und gewahrte verschwommen durch den Schleier seiner Wimpern hindurch die luftigen Säulen, die schwindelerregende Deckenpracht und den alten Inder, der wie ein Phantom neben ihm aufragte und ihn mit dem unverwandten Blick einer Traumgestalt betrachtete. Aber was er sah, schien nicht dem wachen Leben, sondern den schimärischen Welten seiner Phantasie anzugehören. Auch ein weniger erschüttertes Bewußtsein wie das von Volmerange, der in Primrose-Hill eingeschlafen und auf diesem üppigen Ruhebett eines Palastes wie in Aurengs Zeb – dreitausend Meilen entfernt – wieder erwachte, hätte sich in diesen Rätseln nicht zurechtgefunden. Ungewiß, ob er schlafe oder wache, rührte er sich nicht und versuchte nur den abgerissenen Faden seines Bewußtseins neu zu verknüpfen. Endlich entschloß er sich, die Augen ganz zu öffnen, und ließ nun die erstaunten Blicke über seine Umgebung schweifen, von der Wirklichkeit mehr und mehr überzeugt.

So phantastisch auch der Raum sein mochte, in dem er sich befand, so zeigte er doch deutlich die Spur menschlicher Hände. Nicht Geister, die die ungreifbaren Wunder der Traumherrlichkeiten aufbauen, hatten diese Säulen gefügt, die Decken bemalt, die Reliefs ausgehauen. Er ruhte nicht auf einem Wolkenbett, sondern auf schweren, kostbaren Polstern. Er sah ganz deutlich chinesische, riesengroße Päonien mit scharlachroten Blütenbüscheln aus japanischen Porzellan-Gefäßen winken. Ein sehr wirklicher Wohlgeruch streichelte seine Sinne. Die Gestalt des Inders, wie mit den Pinselstrichen einer nächtlichen Phantasie hingezaubert, warf doch einen deutlichen Schatten und ragte in greifbarer Plastik neben ihm auf.

Volmerange richtete sich also auf seinen Armen in die Höhe und stellte, wie der Held in der Tragödie, der aus seiner Verwirrung erwacht, an das weiße Gespenst die in solchen Fällen übliche Frage: »Wo bin ich?«

»An einem Ort, der Sie als Herrn und Meister kennt,« antwortete der Inder mit einer tiefen Verbeugung.

In diesem Augenblick ertönte hinter einem Vorhang ein Geriesel von kleinen Glockentönen, der Vorhang schob sich zur Seite, und eine dritte Person betrat das Gemach.


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