Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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III

Obgleich das Haus, vor welches wir unsern Leser geführt haben, nicht sonderlich einladend anmutet, so hegen wir doch die Hoffnung, daß er einwilligen werde, es unter unserer Führung (und unserem Unbekannten um ein kleines vorauseilend) zu betreten.

Von außen war weiter nichts Auffälliges an ihm wahrzunehmen; es paßte sich im großen ganzen den anderen Häusern dieser Gasse an. Doch gab ihm die schmal zusammengepreßte Fassade, auf deren Kosten sich die übrigen Baulichkeiten zwanglos ausbreiteten, ein verbissenes und verärgertes Ansehen; ja, man hätte es mit einem Schelm vergleichen können, der in eine achtbare Gesellschaft geraten ist. Seine Backsteine von ungesundem Gelb stachen von dem roten und gesunden Anstrich der gegenüberliegenden Behausungen unangenehm ab und gemahnten an die fahle und unreine Hautfarbe eines Wüstlings. Um nicht mit einem schielenden oder lädierten Auge um sich blicken zu müssen, stellte es sich ganz blind. Seine Fenster waren geschlossen und ließen, wie alles an diesem Hause, den Wunsch erkennen, jede Annäherung fernzuhalten. Nach Londoner Art war es durch einen kleinen mit einem Gitter eingefaßten Graben von der Straße getrennt. Dieses Gitter war schwarz wie die Umfriedung eines Grabes und vollständig mit jenem undurchdringlichen Kohlenstaub überzogen, der den ganzen englischen Himmel bedeckt. Er erbrachte den deutlichen Beweis für den völligen Mangel an Ordnung und Sauberkeit der Insassen dieser Behausung, sofern sie überhaupt bewohnt war; denn nichts ließ auf das Vorhandensein menschlicher Wesen schließen. Aus dem toten Kamin drang keine Rauchwolke, und der kupferne Knauf der Hausglocke war mit Staub und Grünspan bedeckt und schon seit langem von keiner menschlichen Hand mehr berührt worden. Nichts zeugte von Leben an dem eingeschlafenen, trübseligen und vom Regen ausgewaschenen Gemäuer.

Wer jedoch dieses Haus einer aufmerksamen Prüfung unterzog, der mußte entdecken, daß die zusammengepreßte Front, die nur den zwei Fenstern eines Zimmers in jedem Stockwerk samt dem engen Treppengehäuse Raum gewährte, nichts als die Maske für ein zweites Gebäude hergab, das weit von der Straße zurück lag, und dem es sozusagen als Durchgang diente. Denn die Stufen, die zum Eingang emporführten, waren in der Mitte abgenutzt und ausgehöhlt und gaben Zeugnis von einem häufigeren Besuch, als es die Vernachlässigung des Hauses vermuten ließ.

In der Tat öffnete sich die Türe auf einen langen, dunkeln und feuchten Gang, in dem sich eine eisige Stickluft staute: es war die Luft eines Grabes, Kellers oder Kerkers. Die Holzverschalung dieses engen Schlauches zeigte in Mannshöhe einen fettigen Glanz, der vom Abtasten vieler Hände zeugte, die darin ihren Weg gesucht hatten. Den Boden bedeckte der teils klebrige und teils holprige Belag, den schmutzige Schuhsohlen dort zurückgelassen hatten. Nach wenigen Schritten versiegte das spärliche Licht, das von dem angelaufenen Oberfenster der Türe noch bis hierher gedrungen war, und während einer ziemlich langen Strecke führte der Gang durch vollkommenes Dunkel. Auch wollte es einem vorkommen, als ginge es durch dichtes Mauerwerk hindurch, das keinen Lichtstrahl von außen zugelassen hätte; an manchen Stellen schien sich der Weg – nach der aus dem Gestein sickernden Feuchtigkeit zu schließen – sogar unter der Erde fortzusetzen.

Dem Unerfahrenen, der sich zum erstenmal in diesen Gang gewagt hätte, wäre durch das fortwährende Anprallen an unsichtbare Mauern bald jeder Richtungssinn verlorengegangen.

Unser Fremdling, dem die seltsame Gestalt im aschgrauen Kittel als Führer diente, ging mit festen, aber vorsichtigen Schritten, indem er den einen Fuß erst hob, wenn der zweite bereits festen Boden gefaßt hatte: nicht daß er eine Falle oder etwas Derartiges fürchtete; denn sein Führer schritt ihm ja voran. Aber er fühlte sich von jenem unbestimmten Schauder erfaßt, der auch das tapferste Herz im Banne solcher Grabesluft und Finsternis zwischen zwei engen Mauern befallen mag. Seine Hände suchten mit unwillkürlichem Griff die beiden kleinen Pistolen, die an gewohnter Stelle in seiner Manteltasche steckten.

Endlich zeigte sich am fernsten Ende des nachtschwarzen Korridors ein rötlicher Schein, der auf ein erleuchtetes Zimmer schließen ließ, dessen Licht durch die Ritzen der mangelhaft schließenden Türe drang.

Der Führer ließ als Signal ein merkwürdiges Winseln hören, worauf das Knarren eines Riegels aus dem Innern antwortete, und plötzlich strömte aus der halbgeöffneten Türe eine rote Lichtflut in den schwarzen Gang.

Wir machen von unserem Recht als Erzähler Gebrauch und betreten vor dem Fremden den seltsamen Raum, in welchem dieser erwartet schien, obwohl es – aufrichtig gesagt – unmöglich war, die Art der Beziehungen zu erraten, die einen jungen Mann von so edler und reiner Gesichtsbildung mit den kuriosen Gastgebern dieser Spelunke verbinden mochten.

In dem ziemlich breiten Raum wurde der Blick zunächst von einem altertümlich gebauten Kamin angezogen, in dem, hinter einem Gitter, ein lebhaftes Kohlenfeuer knisterte, dessen flackernde Lichter das Zimmer erhellten. Denn das Fenster, dessen untere Scheiben vorsichtig mit Kalk beschmiert waren, ging auf einen jener lichtlosen Schächte hinaus, die man in den Großstädten als Hof bezeichnet, und die oberen, hell gelassenen Scheiben ließen nur ein paar Giebel, ein unordentliches Durcheinander von Ziegeldächern in schreienden Farben und einige Dachrinnen und geschwärzte Bretterverschläge erkennen – kurz, die ganze Misere eines elenden und verrufenen Viertels. Die durch zahlreiche Rücken und Schultern nach unten abgescheuerten Wände zeigten in der obern Hälfte die Spuren eines ehemaligen Anstrichs von finsterem Rot, wie getrocknetes Blut. Auf solchem Hintergrund hatten die jeweiligen Bewohner dieses Ortes eine Menge phantastischer Zeichnungen und Arabesken angebracht, die mit ihren weißen Umrissen an die Schildereien auf etruskischen Vasen erinnerten und eine nicht minder reine und primitive Kunst verrieten.

Das Lieblingsthema der unbekannten Künstler, wie es zwischen den ausschweifenden Ornamenten am häufigsten auftauchte, war – es muß gesagt werden – ein Galgenbaum, der seine Früchtchen schaukelt. War nun dieser Einfall durch eine gewohnheitsmäßige Gedankenverbindung entstanden, oder hatte der verfängliche Anblick der in England beliebten drei Deckenpfosten, die oben durch Querbalken zu einem Triangel verbunden werden, den Künstler verführt – dies bleibt eine delikate Frage. Ungeachtet ihrer groben Manier fesselten die Zeichnungen durch eine gründliche Kenntnis des Gegenstandes. Auf barbarische Weise und die ungeheuerlichsten anatomischen Freiheiten nicht verschmähend, wurde eine so packende Echtheit der Bewegung und Haltung bei diesen kleinen baumelnden Gestalten erzielt, wie sie eine sehr entwickelte Kunst oft nicht mehr erreicht. Die Schlinge saß am rechten Fleck und verriet den aufmerksamen Habitué des Theaters zu Tiburn. Die grotesken, mit grausigem Humor hingeworfenen Skizzen machten den Betrachter gleichzeitig lachen und erbeben. Verschiedene Ansichten, Aufrisse und Pläne des Gefängnisses von Newgate wechselten mit dem bereits genannten einladenden Gegenstand ab und ersetzten den Mangel an technischer Schulung durch gründliche Sachkenntnis und lebendige Erinnerung. Seltsame Profile, die Pfeife zwischen die Zähne geklemmt, schnitten einem gekrönten Löwen oder anderem apokalyptischen Getier höhnische Grimassen. Schiffe, die an Phantastik denen von Della-Bella nichts nachgaben, wiegten sich auf unwahrscheinlichen Meeren. Alles war mit großen Strichen und ohne zarte Rücksicht für die Nebenschilderung auf die Wand gesetzt. Daten, Zahlen und Worte in den wunderlichsten Schriftzügen verwirrten dieses erschreckliche Gesetzbuch noch mehr, aus dem nur drei Worte mit aller Deutlichkeit hervorgingen: Laster, Faulheit und Verbrechen.

Aber die Ausschmückung des Raumes war nicht ausschließlich diesen phantastischen Eintragungen überlassen worden; eine gepflegtere Kunst machte sich an den in Holz geschnittenen und kolorierten Tafeln geltend, wie sie als Einladung zu Leichenbegängnissen angefertigt werden. Da waren zu sehen: der siebenarmige, mystische Leuchter; die keusche Susanna mit ihren Greisen; das Porträt von Georg III., die Heimkehr des verlorenen Sohnes; die Hauptpositionen des Boxkampfes; die Heldentaten von Jack Sheppard und Jonathan Wild, der Cids und Bernardos de Carpio dieser Räuberromanzen; Hahnenkämpfe und berühmte Bulldogg-Jagden; Schilderungen der Rennen von Epsom und New-Market und so weiter.

Eine erstickend heiße, von Kohlenstaub, Tabaksqualm und Whiskydunst geschwängerte Luft erfüllte das Zimmer und stellte nicht geringe Anforderungen an die Geruchsnerven seiner Insassen, die aber keineswegs davon belästigt schienen: im Gegenteil erhellte ein derbes Wohlbehagen ihre gewöhnlichen und bleifarbenen Gesichter. Sie trugen schwarze Anzüge mit Atlaswesten und runde Hüte. Aber die Kleidungsstücke, die ihre Abstammung vielleicht sogar auf den schönen Brummel zurückführen konnten, mochten manche Pilgerfahrt und manches Mißgeschick bestanden haben, ehe sie bei den jetzigen Besitzern gelandet waren. Die traurig zugerichteten, in tadellosem Schnitt gehaltenen Fräcke aus einem einstmals seidig glänzenden Tuch behielten selbst in der Erniedrigung ein gewisses Etwas, das von ihren ehemaligen modischen Besitzern herrührte und wie eine trübselig lächelnde Karikatur oder wie ein lautloses Spottgedicht anmutete.

Nur einer unter ihnen verzichtete auf diese herabgekommene Eleganz. Er trug ein rotwollenes Hemd, eine geteerte Hose und einen Lederhut, dem eine gewöhnliche Schnur als Kinnband diente: es waren die Kleider des gemeinen Matrosen.

Ein Ausdruck von außergewöhnlicher Kühnheit ließ die Härte und Gewöhnlichkeit, die sonst seinem Gesicht anhaften mochte, vergessen; in seinen kalten, hellblauen Augen blitzte ein Funke von Intelligenz. Übrigens schienen auch die anderen ihm mit einem gewissen Respekt zu begegnen, obgleich er mit ihnen über denselben Tisch gebeugt saß und aus dem gleichen Kruge sein Doppelbier schlürfte.

»Was meinst du, Saunders«, wandte sich einer der Männer im schwarzen Rock an den rotblusigen Matrosen. »Die Stunde naht, in der wir den Gentleman, für den wir unsere Künste spielen lassen sollen, zu erwarten haben.«

»Ja«, lautete Saunders' lakonische Antwort, der sich während des Trinkens damit befaßte, eine schwarze, in einem Tuche befindliche Masse mit seinen Fingern zu kneten.

»Kennst du ihn, Saunders? – Ich meine den Gentleman«, fuhr der Sprecher fort.

»Nein«, antwortete der entschieden einsilbig geartete Saunders.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»So, so,« fügte der Schwarzrock hinzu, wie um dem Gespräch einen würdigen Abschluß zu geben, und beugte sich mit nachdenklicher Miene über die Tischplatte.

Jetzt erhob sich Saunders, ging auf das Kaminfeuer zu und hielt die braune Masse, die er auf das in Form einer Maske geschnittene Tuch gebreitet hatte, über die Flamme.

»Ich glaube gar, du willst mit der schönen Nancy zum Maskenball gehen«, begann der beharrliche Sprecher von neuem.

»Ich hätte nicht übel Lust, Noll, dir diese Pastete auf die Fresse zu pflastern und damit ein für allemal deinen Schnabel zu stopfen, unerträglicher Schwätzer!« entgegnete Saunders mit der lieblichen Stimme eines Eisbären, der auf seiner Scholle von einem Walfischjäger mit der Hakenstange gekitzelt wird. »Schau lieber mal durch die Falltür, ob die anderen schon angekommen sind.«

Noll begab sich in eine Ecke des Zimmers, rückte ein paar Kisten und einige Ballen zur Seite, ergriff einen im Boden eingelassenen Ring und lüftete mit seines Kameraden Bob Hilfe eine schwere Falltür. Sie hob sich, und ein naßkalter Lufthauch strömte herein und verlor sich im Qualm des Raumes.

Mit äußerster Anspannung seiner dünnen Arme gelang es Bob, den Falldeckel halbgeöffnet festzuhalten. Jetzt kniete Noll nieder und streckte seinen Kopf in den Schlund. Das Dunkel war so tief, daß man nichts zu unterscheiden vermochte; doch ließ die Frische der Luft nicht auf einen Keller schließen. Ja, es gelang sogar dem aufmerksamen Ohre, ein fernes, dumpfes Wasserrauschen zu unterscheiden.

»Ich höre nichts«, sagte Noll nach einigen Augenblicken gespannten Lauschens. »Jetzt will ich es noch mit dem Signal versuchen.« Und damit stieß er einen singenden Kehllaut aus, dem aber nur das Echo Antwort gab.

»Eigentlich,« sagte Saunders, »brauchen wir sie noch gar nicht; und es ist auch kein besonderes Vergnügen, in diesem schwarzen Loch zu warten. – Es wird heute zeitig Nacht, fuhr er in Gedanken fort, die Augen auf die kleinen Scheiben gerichtet, durch die man den Himmel hätte erblicken müssen, wenn sich nicht der Nebel dichter und dichter vor ihm herabgesenkt und ihn völlig zugedeckt hätte. »Um so besser; unser Geschäft wird desto leichter vonstatten gehen . . . Bob, steht die Lastfuhre bereit, die den Ausgang der Gasse versperren soll, damit uns keiner bei der Arbeit stört?«

»Jawohl, Meister Saunders, Cuddy wartet schon bei seinen Pferden und wird euch eine Barriere herstellen, durch die nicht einmal ein Hase schlüpft. Der Schlingel ist zu gebrauchen. Er hat sich zurecht gemacht, daß man glauben könnte, er habe zeit seines Lebens Pferd und Wagen geführt; und doch wird keiner von uns behaupten wollen, daß dies sein eigentlicher Beruf sei«, sagte Bob lachend und entzückt über seinen witzigen Einfall. »Ihr werdet euer Werk so ruhig zu Ende bringen können, als befändet ihr euch in einem Wald oder auf einer einsamen Insel.«

»Du bist zu gescheit, Bob,« sagte Saunders, »nimm dich in acht, sonst wirst du nicht bis zu deinem seligen Ende am Leben bleiben.«

*

Während sich diese Dinge in dem oben beschriebenen wunderlich ausgeschmückten Raume zutrugen, steuerte eine gegen Wellen und Strömung unempfindliche, leichtgebaute und fischartig geschweifte Jolle die Themse hinauf, von vier Männern gerudert, deren Bewegungen eine so mathematische Taktsicherheit innewohnte, daß sie wie von einem inneren Mechanismus hervorgebracht schienen. Ohne einen Tropfen zu verspritzen, bewegten sie die Ruder so leicht wie eine schöne Frau ihren Fächer. Obschon der zunehmende Nebel das Vorwärtskommen erschwerte und die Gefahr eines Zusammenstoßes in den engen Wasserstraßen, die bis zur London-Bridge eine Art von Venedig bilden, beständig wuchs, schlängelte sich die Jolle mit unerhörter Geschicklichkeit durch alle Hindernisse hindurch. Ihr staunenswerter hellseherischer Instinkt erinnerte an gewisse Insekten, deren Fühlhörner man mit einigem Recht als Tastaugen bezeichnen könnte. Als das Boot die London-Bridge hinter sich hatte, deren ungeheure Bögen schwarz aus dem hellgrauen Himmel heraustraten – an die Wirkung jener Malmanier von Martynn erinnernd, die der Engländer mit »babylonisch« bezeichnet – und sich nun in einem verhältnismäßig freieren Becken befand, schoß es mit verdoppelter Eile dahin. Der Forelle gleich, hätte es sich weder von einer Mühlenschleuse noch von einem Wasserfall aufhalten lassen.

Bald waren nacheinander die Brücken von Southwark und Blackfriars passiert, und sich nun dichter an das Kai haltend, flog es an Temple-Hall und Temple-Gardens vorbei; streifte Somerset-House und glitt unter den niedrigsten Bogen der Waterloo-Brücke. In nächster Nähe des Ufers haltend, schlüpfte es unter eine durch unterkellerte Strandbauten gebildete Wölbung. Einige mit Waren beladene Schiffe stauten sich dort; und ihre aus Ziegelsteinen und Holz aufgetürmte Fracht erhielt im trügerischen Licht des sinkenden Tages den Anstrich eines Kauf- oder Lagerhauses. Es glitt in den Schatten dieser Wölbung hinein, die sich tiefer ausdehnte, als es zunächst den Anschein hatte; denn nicht weit von der Einfahrt verbarg eine plötzliche Krümmung ihren weiteren Verlauf. Nach wenigen Minuten vorsichtigen Ruderns zogen die Männer das Fahrzeug aus dem Wasser. Einer von ihnen erfaßte mit sicherem Griff einen an die Mauer festgeschmiedeten Ring und befestigte daran die Jolle. Dann sprang einer nach dem andern auf die erste, vom Wasser noch halbbedeckte Stufe einer Treppe, die sie trotz der Dunkelheit mit gewohnter Ortskenntnis ohne weiteres fanden. Ein Gitter, das von den Matrosen jetzt geöffnet wurde, versperrte für gewöhnlich den Zutritt. Von hier führten Stufen aufwärts unter ein Deckengewölbe, mit dem der Kopf des voranschreitenden Matrosen in unsanfte Berührung geriet.

»Der Teufel hole meine Zerstreutheit! Jetzt habe ich mich um eine Stufe verrechnet und trage nun meine Strafe als stattliche Beule am Kopf; ein Glück, daß mein Schädel ebenso hart ist wie ein Beefsteak in der ›gekrönten Artischocke‹.«

»Holla, Snuff, was gibt's? Was hast du da zu murmeln wie ein altes Weib, das seinen Rosenkranz abbetet? Anstatt mit deinem Schädel Kurzweil zu treiben, würdest du besser das Signal geben. Hältst du es für ein Vergnügen, auf dieser Treppe zu warten, die steiler ist als eine Galgenleiter?«

»Ich werde gegen die Decke klopfen und gleich den Schrei ausstoßen.«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Ein dumpfer Schlag grollte durch das unterirdische Gewölbe; gleich darauf folgte ein klagend langgezogenes Geheul.

»Was wühlt da unter unseren Füßen?« rief Saunders, der bei dem bekannten Zeichen aufgesprungen war; und mit dem Absatz auf den Boden stampfend fügte er hinzu: »Gib Frieden, alter Maulwurf!« womit er Hamlets Worte an den Geist für seinen Gebrauch variierte. Denn Saunders hatte vor kurzer Zeit im Drury-Lane-Theater dieses Stück des alten Shakespeare gesehen, das nicht ohne tiefe Wirkung auf seine rauhe, aber poetische Natur geblieben war.

Die Fallklappe wurde zurückgeschlagen und ließ aus dem feuchten Loch nacheinander vier Gesellen auftauchen, die zwar keinen Anspruch auf Wohlanständigkeit erheben durften, jedoch vom Witterungswechsel in freier Luft frischrote Gesichter aufzuweisen hatten; und der Ausdruck von Schlauheit und Mut, die sich nicht immer auf geraden Wegen betätigen mochten, kleidete sie gut.

»Habt ihr noch einen Gin oder Whisky übrig?« rief der erste, der seinen Fuß ins Zimmer setzte, und lief sogleich zum Tisch, um die herumstehenden Flaschen auf ihren Inhalt zu prüfen.

»Ach Gott,« sagte der zweite, »wenn sich Bob und Noll nur eine Viertelstunde gegenübergesessen haben mit nichts als einer Flasche zwischen sich, dann stirbt die arme Kleine gar bald an der Auszehrung.«

»Nun, nun, weine nicht, Snuff«, tröstete Noll und holte aus einem Winkel eine gefüllte Flasche herbei. »Beelzebub selber würde sich nach einem Schluck aus diesem Halse die Lippen lecken. Das ist reinstes Vitriol, flüssiges Feuer, ohne die geringste wässerige Beimischung! Geht's dir auch so wie mir: je näher ich mich an ihn heranmache, desto schwächlicher erscheint mir der Gin!«

»Wie das Leben, mein Alter: je näher du dran kommst, desto verblasener die Illusionen! Und doch haben wir alle einmal an die Kraft des Gin geglaubt! Mein Gott, so ist die unerfahrene Jugend!« schloß Snuff in melancholischem Tonfall und nahm einen tiefen Schluck von dem blauen Teufelsdestillat.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Das Konzil war nunmehr vollzählig versammelt, als nach dem bekannten Erkennungszeichen der Fremde mit seinem Führer den Raum betrat.

Er ließ seine klaren Augen über die ehrwürdige Spitzbubenversammlung hinschweifen, die ihre Blicke unwillkürlich senkte; ausgenommen Saunders, dessen Gesicht wie ein Rachen aus einer Schar von Mäulern oder wie ein Eber unter Schweinen aus allen anderen herausragte. Waren die übrigen nur lasterhafte Schelme, so steckte in ihm das Urelement des Verbrechens. Seine Kameraden brachten es nicht über den gewöhnlichen Dieb; er aber war der geborene Pirat.

Mit dem feinen Instinkt des Gebildeten erkannte der Fremde sofort, daß Saunders der Beste von der nichtswürdigen Gesellschaft war. Mit einem Blick erhob er ihn zum Haupt der Bande, und so war es denn auch Saunders, an den er zuerst das Wort richtete:

»Ist alles nach dem verabredeten Plan bereit?« fragte der Unbekannte mit ruhig gebietender Stimme.

»Gewiß, Mylord, wir harren nur noch des Winkes Eurer Gnaden, um ans Werk zu gehen«, antwortete Saunders höflich, doch ohne eine Spur von kriecherischer Unterwürfigkeit.

»Wohlan, die Stunde der Entscheidung ist gekommen!«

»Los, Bob«, rief Noll. »Sag dem Cuddy, daß er sich mit seinem Karren in der Gasse aufstellen soll.«

Nach einigen vergeblichen Versuchen, seinem enthaarten Filzhut mit dem abgeschabten Ärmel etwas Glanz zu verleihen – denn er pflegte zu sagen: es empfiehlt sich, in allen Lebenslagen ein Gentleman zu bleiben – schob sich Noll hinaus.

Saunders ergriff mit seiner schweren Hand die Pechmaske und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Der Mann, den ich in der Gasse unten in ein Gespräch verwickeln werde: der ist es, den müßt ihr greifen. Aber keine Gewalttätigkeiten oder Mißhandlungen! Habt ihr verstanden?«

»Seid unbesorgt, Mylord! Der Gentleman soll so behutsam angefaßt werden wie eine Kiste, auf der ›Zerbrechlich‹ steht«, sagte Noll in erhabener Haltung.

Um kein Aufsehen zu erregen, verließen die Mitglieder der Bande einzeln das Zimmer und lungerten gleich darauf in harmlosester Weise drunten auf der menschenleeren Gasse herum. Der Fremde begab sich allein der Kirche von Sankt-Margareth zu.


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