Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XI

Wir nützen die Zeit in der die ›Belle-Jenny‹ bei günstigem Fahrwind zehn Knoten [Seemeilen] in der Stunde zurücklegt, um in unserer Erzählung einige rückwärtige, aber notwendige Schritte zu tun. Wir schulden dem Leser eine Erläuterung, warum Miß Edith sich mitten in der Nacht auf der Themsebrücke befand und, statt in dem warmen, duftenden Brautgemach den Küssen eines geliebten Gatten zu erliegen, fast von den gierigen Wogen verschlungen wurde.

Wir erinnern uns des Mannes von ärmlichem Aussehen, der am Ausgang der Kirche dem Grafen von Volmerange ein versiegeltes Billett zugesteckt hat. Dieses Billett hatte der vielbeschäftigte Graf uneröffnet in seiner Tasche gelassen, um es nach den Aufregungen dieses Tages gelegentlich in Muße zu lesen. Am Abend nun, als er, allein gelassen, auf Edith wartete, die von ihren Mädchen entkleidet wurde, fühlte er das Papier in seinem Rocke knistern, und halb zerstreut erbrach er das Siegel und las. Im selben Augenblick meldete die Zofe, daß Edith seiner warte.

Er richtete sich starr auf und stand da wie die Statue des Komtur bei Leporellos Einladung zum Gastmahl seines Herrn. Seine geballte Faust zerknitterte das verhängnisvolle Papier. Tödliche Blässe bedeckte sein Gesicht, und in blutunterlaufenen Höhlen glänzten hart die blauen Augen. Seine Schritte fielen schwer wie von Stein auf das Parkett; er bewegte sich unter der Wucht des Schlages, der ihn getroffen hatte, wie jener Geist aus Marmor.

Edith lag halb versteckt im durchsichtigen Schatten des Bettvorhanges in ihren spitzenbesetzten Kissen. Keine mädchenhafte Röte bedeckte ihre blutleeren Wangen, deren Blässe sich kaum von dem weißen Linnen abhob, auf dem sie ruhten. Eine furchtbare Ratlosigkeit hatte sich ihrer bemächtigt. Das Bewußtsein ihrer Schuld peinigte sie. Sie wußte sich keinen Rat. Zwanzigmal war das unselige Bekenntnis auf ihre Lippen getreten, und immer wieder versagte ihr der Mut. Die unverständliche, fast nur durch übernatürliche Mächte zu erklärende Verbindung mit jenem andern wurde ja von keinem Menschen auch nur geahnt. Jeder, der Edith kannte, hegte das unbedingteste Vertrauen in ihre Reinheit, so daß sie zuweilen selber an ihre Schuld kaum zu glauben vermochte. Nichts wollte ihr diese vernichtende Beichte erleichtern. Ihr jähes Erröten und Erblassen, ihr beklommenes Schweigen – alles wurde als jungfräuliche Scheu vor der nahen Heirat gedeutet. Die Liebe selbst erklärte zur Genüge ihre Aufregung; Tränen im Auge einer Braut sind nichts Unnatürliches. Jeden neuen Tag nahm sie sich vor, zu sprechen, und jeder Tag ging ohne ein Geständnis zur Neige. Die Hochzeitsvorbereitungen wurden getroffen, ohne daß sie den Mut fand, sie zu verhindern, und ihre Eröffnung wurde immer unmöglicher. Edith liebte Volmerange, und trotz ihres aufrichtigen Wesens und einer natürlichen Abscheu vor Lüge und Verstellung fehlte ihr die Kraft, mit eigner Hand die Axt an das Glück ihres Lebens zu legen. Ihr Schicksal machte sie feige, und wie alle Verlorenen, die auf ein Unmögliches warten, das ihrer Not ein Ende machen soll, ließ sie den Dingen ihren Lauf. Jetzt aber war der furchtbare Augenblick gekommen; wie die geduckte Taube, die über sich den kreisenden Falken spürt, erwartete sie bebend in Angst und Schrecken den Todesstoß. Jetzt war es ihr unbegreiflich, daß sie nicht längst gesprochen und im Bewußtsein ihrer Schmach Volmerange von sich abgewehrt hatte. Aber jetzt war es zu spät.

Es muß zu Ediths Rechtfertigung gesagt werden, daß sie wohl schuldig, aber nicht unwürdig war. Sie gehörte zu jenen Naturen, die das Böse wohl anrühren, aber nicht durchdringen kann. Sie war wie der Marmor, den der Schmutz besudeln, nicht aber verderben kann, und den die Wasser des Himmels weißer und reiner waschen, als er zuvor gewesen. Ja, selbst ihrem Falle lagen edle Regungen zugrunde. Xaver hatte sich Edith in der Rolle eines Unglücklichen genähert. Er hatte den Unterdrückten, Verbannten, von den starren Vorurteilen der Aristokratie Niedergehaltenen gespielt. Immer wieder hatte er ihr vorgehalten, daß die Tochter Lord Harleys ihre Liebe nur einem Pair von England, einem eleganten und reichen Lord schenken würde. Und alle diese Dinge brachte er im Ton schlichter, kühler Ergebenheit und glühend verhaltener Leidenschaft vor und verführte so Ediths edle, ritterliche Natur zu jener unseligen, trostspendenden Hingabe. Sie wollte für dieses verkannte Genie, für den ausgestoßenen Engel, in dem sie den Dämon zu spät erkannte, die gütige Vorsehung spielen. Und so gab sie sich ihm hin – für Liebe haltend, was nur Mitleid war. Aber die echte Leidenschaft Volmeranges hatte ihr den verhängnisvollen Irrtum nur zu bald offenbart. Zudem warf der nunmehr triumphierende Liebhaber alle Verstellung beiseite, und statt einer Verbindung Ediths mit Volmerange entgegenzutreten, schien er diese aus irgendeinem übeln, finsteren und gänzlich unfaßbaren Grund zu befürworten. Andererseits liebte Volmerange Edith so abgöttisch, daß bei einem Geständnis dieser Art für seinen Verstand zu fürchten gewesen wäre. So mochte es kommen, daß Edith sich seiner Liebe dennoch nicht ganz unwürdig hielt, und ihr Schweigen darf nicht als Verworfenheit gedeutet werden.

Als sie Volmerange eintreten sah, erkannte die Unglückliche sogleich, daß sie verloren war. Der Graf näherte sich dem Bett mit automatischer Langsamkeit und hielt dem verzagten Mädchen, das sich furchtsam in die Kissen drückte, das bewußte Papier unter die Augen. »Sprechen Sie,« schrie er mit zugeschnürter, keuchender Stimme, »sprechen Sie es aus, daß die Anschuldigungen in diesem Briefe erlogen sind, und ich will Ihnen glauben, und sollte selbst das Licht der Wahrheit mir die Augen blenden!«

Die Unglückliche, vor Angst halb Wahnsinnige hatte sich aufgerichtet und starrte mit stieren, erloschenen Augen, zitternden Lippen und völlig entfärbtem Gesicht auf das Papier, das ihr Todesurteil enthielt – als blickte sie in ein Medusenantlitz.

Bei ihrem heftigen Auffahren hatte sich das Band, das ihr Haar zusammenhielt, gelöst, und jetzt fluteten die dunkeln Locken ihr über Hals und Brust und hoben deren leblose Blässe noch deutlicher hervor. Desdemona hätte nicht erschrockener die Schicksalsfrage des Mohren von Venedig entgegennehmen können, und wenn Volmerange auch nicht dessen nächtliche Hautfarbe besaß, so war doch seine Miene nicht minder wild und fürchterlich.

Ein Augenblick voller Angst und Bangen folgte. Draußen brüllte der Sturm. Der Regen prasselte gegen die Scheiben, und es war, als stemmte der Wind ein Knie gegen das Fenster, um als Zuschauer bei der nächtlichen Szene einzudringen. Das ganze Haus erbebte in seinen Fugen; die Türen ächzten in den Angeln, und durch das Treppenhaus ging ein unheimliches Winseln. Die niedriggeschraubte Lampe flammte zuweilen im wehenden Zugwind heller auf und warf fahle Lichter auf die nächtliche Schreckensszene. Eine Uhr schlug zehn Schläge; ihre sonst silberklare Stimme hatte sich düster verwandelt.

Jetzt beugte sich Volmerange mit knirschenden Zähnen und flammenden Augen über das Bett, faßte Edith mit brutaler Gewalt an beiden Armen und wiederholte in abgehackten erregten Lauten seine Frage. Schaum bedeckte seine blutig zerbissenen Lippen.

Als das unglückliche Mädchen die selbst in der Verzerrung noch wunderbaren Züge eines zürnenden Erzengels so nahe vor sich sah, schwanden ihr die Sinne, und der Schwindel einer nahenden Ohnmacht schloß ihre Augen. Sie wäre ihr erlegen, wenn Volmerange nicht durch ein heftiges Schütteln, das ihr fast die Arme aus den Gelenken riß, sie zu sich gebracht hätte. Er zerrte sie aus dem Bett bis in die Mitte des Zimmers, wo sie unter einer plötzlichen Schwäche in die Knie brach.

»Wohlan,« sagte Volmerange, »Sie müssen sterben!« Und er begann wie ein Besessener im Zimmer nach einer Waffe zu suchen, um seine Drohung auszuführen.

»O Herr, verschonen Sie mich«, hauchte Edith mit versagender Stimme. Aber Volmerange suchte noch immer; denn für gewöhnlich ist ein Brautgemach nicht mit Dolchen, Pistolen, Totschlägern und sonstigen Mordinstrumenten ausgestattet.

»Tod und Teufel!« knirschte er, »soll ich ihr die Hirnschale an dieser Wand einschlagen, sie mit diesen Händen erdrosseln, ihr die Adern mit diesen Nägeln aufreißen oder sie unter der Matratze unseres Brautbettes ersticken? Haha, das wäre allerliebst!« fuhr er mit irrem Lachen fort. »Das wäre ein gelungener Auftritt – sehr dramatisch – ganz wie bei Shakespeare in der Tat!«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Und er näherte sich drohend der Knienden, die mit hängenden Armen und mit auf die Brust gesenktem Haupt in der Flut ihrer dunkeln Locken wie die Magdalena des Canova anzusehen war. Als sie den Wütenden auf sich zukommen sah, gab ihr der Selbsterhaltungstrieb Geistesgegenwart und Kraft, plötzlich wie eine Feder emporzuschnellen. Sie lief zu der großen Glastüre, die in den Garten hinausführte, öffnete sie mit der automatischen Geschicklichkeit einer Nachtwandlerin und warf sich, getragen von den Schwingen der Furcht, in die nachtschwarzen Alleen; hinter ihr Volmerange.

Ihre zarten nackten Füße achteten nicht des harten Stein- und Muschelkieses. Das regennasse Gebüsch peitschte ihr Gesicht und Schultern und hielt sie an ihrem fliegenden Nachtgewande fest. Sie fühlte Volmeranges glühenden Atem beinahe schon im Nacken; und zuweilen war ihr, als packte sie schon der Griff des wütenden Verfolgers. So erreichte sie die Terrasse und riß sich im Hinabspringen an den Stachelkronen der Mauer das Fetzchen weißes Zeug ab, das Lord Harley als einzig greifbares Zeichen bei seinen Nachforschungen zurückblieb. Fast gleichzeitig war auch Volmerange hinabgesprungen, und die Flucht nahm ihren Fortgang.

Schon begannen ihre Kräfte sie zu verlassen, ihre Knie wankten, das Blut klopfte in den Schläfen und ihre Brust keuchte. Zwei, drei Straßen hatte sie auf dieser Flucht eines gehetzten Wildes zurückgelegt. Sie waren zu dieser vorgerückten Stunde und wegen des heftigen Unwetters menschenleer; selbst wenn ein verspäteter Straßengänger ihren Weg gekreuzt hätte, so wäre er ihr wohl kaum zu Hilfe gekommen. Denn sie glich in ihrer mangelhaften Bekleidung ganz einem Freudenmädchen, das sich aus einem wüsten Handel flüchtet.

Jetzt war Edith auf ihrer Flucht bis zur Themse gelangt und wollte eben mit erlahmenden Schritten und erschöpftem Atem die Blackfriars-Bridge überkreuzen. Aber in der Mitte der Brücke brach sie kraftlos zusammen. Die wunden Füße trugen sie nicht länger. Das von Nässe und Kot besudelte Nachtgewand klebte an ihrem zitternden Körper, und ihr Kopf fiel schwer gegen das Geländer. Sie war entschlossen, ihr armes Leben der Rache des Verfolgers nicht länger streitig zu machen. Der Tod von seiner Hand erschien ihr süß, da sie doch nicht mehr für ihn leben durfte.

Als der Graf sie eingeholt hatte, packte er sie an den Schultern und rief noch einmal: »Schwören Sie mir, daß der Inhalt dieses Briefes falsch ist!«

Edith hatte, nachdem die körperliche Angst überwunden war, ihre natürliche Ruhe wiedergefunden, und sie antwortete:

»Der Brief spricht die Wahrheit. Ich werde auch mein Leben nicht mit einer Lüge retten!«

Da hob sie Volmerange wie eine Feder empor und schwang sie über dem finstern Abgrund einige Male hin und her. Das unsichtbare Wasser rauschte in wüsten Wirbeln unter den Brückenbogen. Nie hatte eine schwärzere Nacht über der Themse gelegen.

»Finsterer Abgrund, bewahre du auf immer das Geheimnis von Volmeranges Schmach«, sagte der Graf, indem er sich mit halbem Leib über die Brüstung lehnte.

Dann öffnete er die Hände . . .

Ein schwacher Klagelaut – der Seufzer einer sterbenden Taube – das war Ediths letztes Gebet.

Der Sturm stieß ein langes, klagendes Schluchzen aus, als die leichte, weiße Flocke wie eine verlorene Feder aus dem Gefieder des Schwans im dichten Nebel verschwand, um in die schwarzen Fluten zu tauchen, ohne daß man im Wasserrauschen und Windgestöhn, im Knarren der Schiffe und Ketten, dieser ganzen tausendstimmigen Jeremiade der sturmgepeitschten Nacht den Fall auf das Wasser hätte vernehmen können.

»Jetzt kommt die Reihe an den anderen!« knirschte Volmerange, sich rückwärts wendend. »Ich muß ihn finden, und sollte er sich im untersten Höllentrichter versteckt haben.« Und damit stürzte er sich mit raschen Schritten und kalter Entschlossenheit von neuem in das Straßengewirr.

Bei dem raschen Tempo des Erzählens haben wir versäumt, von einem Manne zu berichten, der sich gleich einem Schatten an die Mauer von Volmeranges Haus gedrückt hatte. Stand er für sich selber oder für einen anderen Wache? Das wissen wir nicht. War er ein Dieb, ein Liebhaber, ein Spion? Feind oder Freund? Hatte ihn ein inneres Gefühl diese Katastrophe vorausahnen lassen? Oder wollte er ihr als unsichtbarer Zeuge beiwohnen? Allen diesen Fragen müssen wir die Antwort zunächst noch schuldig bleiben. Wir wissen nur, daß der nächtliche Herumtreiber Ediths Sprung von der Terrasse, Volmeranges Verfolgung und seinen Racheakt an der Themse mit angesehen hatte, ohne in das furchtbare Schauspiel einzugreifen. Als nun Volmerange nach vollbrachter Tat in die innere Stadt zurückkehrte, folgte ihm dieser Schatten wieder in einiger Entfernung, wobei er seine Schritte genau nach denen des anderen richtete, um ihn weder aus den Augen zu verlieren, noch selbst von ihm bemerkt zu werden.

Mit wirrem Kopf, das Herz von Wut und Reue zerfleischt, raste Volmerange weiter, bis er sich im Regents-Park, von Erschöpfung, Schmerz und Verzweiflung übermannt, auf eine Bank zu Füßen eines Baumes niederließ. Seine Sinne verließen ihn; der Kopf hing ihm zwischen den Schultern, sein kräftiger Körper knickte kraftlos zusammen. Jener Erschöpfungszustand war über ihn gekommen, in dem die menschliche Natur im Übermaß des Leidens allen körperlichen und seelischen Qualen sich entzieht.

Während er also bewußtlos vor sich hindämmerte, näherte sich der Schatten mit so leisen, leichten Schritten, daß kein Sandkorn bewegt, kein Grashalm niedergetreten wurde. Er legte ein sonderbar geformtes Papier und ein Kuvert mit mehreren Briefen auf Volmeranges Knie nieder; dann verbarg er sich lautlos zwischen den Bäumen und war nicht mehr zu sehen.

So vorsichtig indes sein Tun gewesen sein mochte – es hatte Volmerange dennoch aus dem Schlummer aufgestört. Er entdeckte sogleich die auf geheimnisvolle Weise zu ihm gelangten Papiere und eilte mit ihnen unter die nächste Laterne. Das Kuvert enthielt Ediths Briefe, die ihre Schuld klar bewiesen. Das sonderbare Papier hatte folgenden Inhalt:

»Ich schwöre, niemals über mich selbst verfügen zu wollen; mich weder durch eine Ehe noch sonstige menschliche Bande den hohen Verpflichtungen der Junta entziehen zu wollen. Ich schwöre, bei dem Gott, der die Welt erschaffen; bei dem Dämon, der ihren Untergang will; beim Himmel und der Hölle; bei der Ehre meines Vaters und der Tugend meiner Mutter; bei meinem adeligen Blut; bei meiner Christenseele; bei meinem freien Manneswort; bei dem Gedächtnis der Helden und Heiligen; bei meinem Degen – und, wenn unsere Religion auf einem Irrtum beruhen sollte – bei Feuer und Wasser; bei den Quellen des Lebens; bei den geheimen Kräften der Natur; bei den Sternen, als den unerforschlichen Lenkern der Geschicke; bei Chronos und Jupiter; beim Acheron und Styx, die die Götter selbst verpflichten. Unterschrieben mit meinem Blut.

Volmerange.«


 << zurück weiter >>