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Eine unbändige Wut hatte Lady Braybrookes ohnedies belebte Gesichtsfarbe zu einer apoplektischen Röte gesteigert, die ihre Erben, wenn sie sie in diesem Augenblick gesehen, mit Hoffnung erfüllt hätte. Sie trampelte erregt mit den Füßen unter ihren steifen Röcken und bildete den denkbar schärfsten Gegensatz zu der blassen Unbeweglichkeit ihrer Nichte Amabel. Sie war wie eine brennende Kohle neben einer weißen Schneeflocke, und es mochte nur verwundern, daß ihre lodernde Nähe das blasse Angesicht nicht zum Schmelzen brachte.
»Es bleibt unfaßlich,« sagte William Bautry, »und ich vermag auch nicht die unsinnigste Vermutung über sein Verschwinden aufzustellen.«
»Aber ich!« fuhr die Dame Lady Braybrooke dazwischen. »Benedict Arundell ist der ärgste aller Spitzbuben! Doch können wir hier nicht ewig wie Statuen stehnbleiben! Komm, meine Nichte, laß uns in deine Wohnung zurückkehren.«
Sie ergriff Amabels Arm und zerrte sie zum Wagen.
Als die bis dahin ganz verstörte, in ihrer Angst verstummte Amabel sich mit ihrer Tante allein fühlte, wurde sie von einer Nervenkrise befallen; ihre schönen Züge verkrampften sich; ein leidenschaftliches Schluchzen hob ihre Brust, und wenn nicht ein Tränenstrom ihrem Schmerz Luft gemacht hätte, so wäre sie daran erstickt.
»Der Verlust von fünfzigtausend Arundells wiegt nicht eine der Perlen auf, die deinen schönen Augen entfallen, meine arme Kleine«, sagte Lady Elinor und versuchte Miß Vivian zu beruhigen. »Aber ich hatte es dir vorausgesagt: ein wirklicher Edelmann läßt seine Braut nicht an der Kirchentüre stehen, um sich mit einem Freund zu unterhalten! Sir Alan Braybrooke zum Beispiel wäre einer solchen Ungezogenheit niemals fähig gewesen! Und was mag erst dieser Sidney für ein Mensch sein! Wahrscheinlich der Bruder irgendeiner Kreatur, die von dem Lumpen Arundell verführt wurde und nun mit ihrem Balg auf den Armen in einer Spelunke auf ihn wartete.«
»Meine liebe Tante, Sidney hat keine Schwester; das weiß ich von Benedict«, unterbrach Amabel ihre redselige Tante. »Dieser Argwohn fällt also dahin. Außerdem wäre Sir Benedict unfähig . . .«
»Papperlapapp, ihr jungen Dinger habt immer gleich eine Entschuldigung bereit, wenn es sich um solch einen Stutzer mit gebrannten Favoris handelt, der seine Augen mondwärts verdreht, wenn er abends mit euch schön tut. Dein Benedict war ein poetischer Poet. Ich kann diese Art nicht leiden. Man weiß mit ihresgleichen nie, auf welchem Fuß man tanzen soll. Sie haben die unverständlichsten Ansichten und eine Art verkehrter Logik, die zu den erstaunlichsten Schlüssen führt! Sie schwelgen in hirnverbrannten Glücksgefühlen und wollen in eingebildeten Schmerzen vergehen. Was aber in der Ehe not tut, das ist ein auf das Reale gerichteter Kopf. Sir Alan Braybrooke . . .«
»Aber, liebe Tante, es ließe sich doch auch denken, daß er das Opfer eines heimtückischen Anschlags geworden ist. Wenn man ihn überfallen hätte . . .«
»Mein liebes Kind, ein Überfall in London am hellichten Tage, fünfundzwanzig Schritte von einer ganzen Reihe Equipagen entfernt, in Gegenwart eines ganzen Heeres von Lakaien und Polizisten!«
»Wenn Sir Benedict nicht zurückgekehrt ist, so kann nur der Tod ihn aufgehalten haben,« schluchzte Amabel und netzte ihr Taschentuch mit einer Tränenflut. Einige Minuten lang schüttelte ein krampfhaftes Weinen die Gestalt des armen Mädchens.
»Nun, nun,« beschwichtigte Lady Elinor, beunruhigt durch Amabels verzweifeltes Gebaren. »Daraus, daß ein Bräutigam aus einem mehr oder weniger geheimnisvollen Grund verschwindet, folgt nun nicht, daß in der ganzen Welt kein zweiter zu finden wäre.«
»Ach, ich weiß, daß ich ihn nie wiedersehen werde. Eine bange Ahnung sagt mir, daß er auf ewig für mich verloren ist.«
»Dumme Phantastereien! Gibt es überhaupt Ahnungen? Ich wenigstens habe keine. Das mag für Schottland, wo man auch etwas über ein »zweites Gesicht« faselt, ganz recht sein. Aber hier im Westend von London wird die Zukunft nicht vorausgeahnt.«
»Diese Kirche war so schauerlich! Mich ergriff ein tödlicher Schrecken, als ich ihre Schwelle betrat.«
»Lediglich die Einwirkung eines früheren Jahrhunderts und der Steinkohle! Nichts weiter als eine gotische Phantasmagorie! Hättest du zum Beispiel die neue, dem Parthenon nachgebildete Kirche von Hannover-Square gewählt, die kreideweiß angestrichen ist, und wo alle feinen Ehen Londons geschlossen werden, so hättest du von deinen prophetischen Ahnungen nichts gespürt, und deine Zukunft wäre dennoch dieselbe geblieben.«
»Ach, liebe Tante, Sie folgern grausam! Ich fühle es: eine gewalttätige Hand hat im Weltenbuch die Seite, auf der sein und mein Schicksal verzeichnet stand, ausgestrichen.«
»Aber, liebes Kind, selbst auf die Gefahr hin, dein Herz noch mehr zu betrüben: warum denn durchaus übernatürliche Erklärungen suchen, wo es vielleicht ganz einfache Gründe gibt: eine andere Frau zum Beispiel . . .«
»Wie können Sie so etwas glauben, liebe Tante, dann würde ich lieber seinen Tod beweinen! Sir Benedict Arundell ist einer Lüge oder eines Verrates unfähig. Sein Mund redet, was sein Herz denkt, und was sein Herz denkt, das künden seine Augen. Warum auch sollte er mich täuschen? Aus welchem Grunde? Trägt er nicht einen würdigen Namen? Ist er nicht ebenso reich wie ich? ebenso jung . . .?«
»Ebenso schön! sag es nur gleich. Ja, ihr beide wart ein schönes Paar!« seufzte Lady Elinor, nicht unempfindlich für die Überzeugungskraft, die von Amabels Worten ausging; und ihr Zorn begann allmählich einer echten Besorgnis Platz zu machen. Sie begriff endlich, daß das, was sie bisher nur für ein Unrecht angesehen, ebensogut ein Unglück sein konnte; und alsbald begann das Violett ihrer Wangen dem Purpur und dieser dem Scharlach zu weichen, um zuletzt in einem normalen Wangenrot zu enden, was für sie eine Art von Erblassen bedeutete.
Nach wenigen Minuten hielt der Wagen, und Miß Amabel Vivian stieg wortlos, verzweifelt und einsam die Treppe empor – dieselbe Treppe, die sie mit freudeklopfendem Herzen, lachenden Lippen und die festlich behandschuhten Finger auf dem Arm des Geliebten vor kurzem hinabgeeilt war.
Die Überraschung ihrer Kammerfrauen, die sie also zurückkehren sahen, war unbeschreiblich. Aber Lady Elinors Ausbrüche gaben ihnen bald alle nötigen Aufschlüsse. Und obgleich die äußerste Diskretion englischer Dienerschaft ihnen jegliche Gefühlsäußerung über das Unglück ihrer jungen Herrin untersagte, so zeugten doch ihre verstörten Mienen, die Behutsamkeit ihrer Schritte, die Angst, den so schweren und berechtigten Kummer zu stören, für die lebhafte Teilnahme, die sie trotz ihrer untergeordneten Stellung für sie empfanden.
Miß Amabel hatte sich ganz vernichtet in einen Sessel geworfen, dem Spiegel gegenüber, der kurz zuvor die Vollendung ihrer bräutlichen Einkleidung mit angesehen hatte. Wenn es möglich wäre, daß ein Spiegel, seiner flüchtigen Treue zum Trotz, das leiseste Gefühl für den Gegenstand hätte, den er wiedergibt, ohne ihn wirklich zu besitzen, so müßte sich dieser erstaunt und gerührt gefragt haben, ob es wirklich noch dasselbe Gesicht war, das vor wenigen Stunden so hell, so strahlend, so glücklich und zuversichtlich geblickt hatte und nun bleich, verstört und ganz verzweifelt auf seiner stahlblauen Fläche wieder erschien!
Ach, die lieblichen Teerosen hatten allen Farbenglanz verloren, und kaum zeigten die Lippen ein mattes Rosa. Die lebendige Schönheit hatte sich in die hehre Schönheit des Todes, das Bildnis der Lebensfreude in die weinende Statue auf einem Grabmal verwandelt.
Der Anblick des Brautbuketts und übrigen festlichen Schmuckes in seiner jungfräulichen Weiße und unberührten Frische traf wie eine grausige Sinnlosigkeit und boshafte Verhöhnung Amabels verschleierte Augen.
»Nehmt mir diese Kleider ab,« wandte sie sich an die Zofen. »Wozu die lügnerische Pracht! Ich bin keine Braut mehr, ich bin eine Witwe. Gebt mir ein schwarzes Gewand.«
»Ausgezeichnet!« rief Lady Elinor, »da hätten wir wieder einen deiner romantischen Einfälle! Ein schwarzes Gewand! Braun genügt. Denn bei Lichte besehen bist du ja gar nicht verheiratet. Das geht zu weit, Amabel; du wirst deiner Zukunft schaden. Benedict ist wahrhaftig nicht der einzige Gatte auf dieser Welt.«
»Er ist der einzige für mich, meine Tante.«
»Die richtige Antwort für ein verliebtes Ding. Es gibt keinen Verlust, der unersetzlich wäre! Alles gleicht sich aus, und ein Mann ist den andern wert. Verlasse dich auf meine reiche Erfahrung,« sagte Lady Elinor, sich in die Brust werfend; denn zugunsten des Schmeichelhaften, das sich in dem Wort »Erfahrungen« ankündigte, und um der Fülle und Tragweite ihrer Maximen größeres Gewicht beizulegen, nahm sie für diesmal gern eine stärkere Dosis von Jahren zu sich.
Währenddessen durcheilte der arme William Bautry, der mit all diesen Geschehnissen nichts anzufangen wußte, wohl zum zwanzigsten Male die kleine Gasse in jener sinnlosen Besessenheit, wie sie einen völlig Ratlosen oft zu überfallen pflegt. Ihm war, als müßte Benedict zuletzt doch noch vor seinen suchenden Blicken auftauchen. Zum soundsovielten Male betrat er die vereinzelten Kramläden dieser Gegend und ließ sich von deren ehrenwerten Inhabern, Kolonialwaren-Händlern, gastlichen Besitzern von Austerstuben, Schenkwirten, oder Schnapsbuden, wie sie oft in der Nähe von Fischhandlungen anzutreffen sind, immer aufs neue ausführlich wiederholen, daß keiner von ihnen Personen wahrgenommen hatte, die den beiden Gentlemen seiner Beschreibung glichen. Auch die gleichfalls befragten Polizeileute wollten zwei Spaziergänger, die bei dem dichten Nebel allerdings kaum über eine Entfernung von vier Schritten erkennbar gewesen sein konnten, gesehen haben. Desgleichen war weder ein verdächtiges Geräusch, noch ein Schrei, weder Schrittegetrampel, noch das leiseste Anzeichen irgendwelchen Streites an ihr Ohr gedrungen; und sie gaben der Überzeugung Ausdruck, daß sich der Gentleman zweifellos aus freien Stücken wegbegeben habe.
Wo aber sollte man in einer so riesenhaften Stadt wie London nach ihm suchen, wo auch das geringste Anzeichen fehlte, das den Nachforschungen – die überdies an der unverletzlichen Schwelle des englischen Hauses, selbst bei berechtigtem Verdacht, ihr Ende gefunden – einige Richtung angewiesen hätte? Es blieb der reine Irrsinn. Trotzdem begab sich William Bautry auf die Polizeiwache, die sich der Sache anzunehmen versprach und sogleich über die ganze Stadt hin an die fünfzig Spione aussandte, die alsbald in den unmöglichsten Gäßchen spazierengingen und sich am Abend mit merklich abgelaufenen Schuhsohlen und bis zum Hals mit Kot bespritzt, aber ohne die leiseste Spur von Benedict und Sidney zum Rapport zurückfanden.
Während William Bautry seine Schritte auf das Wohnhaus Miß Amabel Vivians zulenkte – denn die Aufregung, in der er sich befand, ließ ihn diese Fußwanderung einer Wagenfahrt vorziehen –, hielt er einen Monolog, bestehend aus einer Unzahl das Ereignis des Morgens betreffender, unlösbarer Fragen. Trotz seines echt englischen Phlegmas illustrierte er ihn mit Handbewegungen, welche, falls sich in London überhaupt ein Mensch um den andern kümmerte, nicht wenig Aufsehen erregt hätten.
»Zum Teufel auch,« sagte Sir William, »es scheint, daß wir es nicht ganz mit Unrecht zu dem Ruf von Sonderlingen auf dem Kontinent gebracht haben! Jedenfalls läßt das Benehmen meines Freundes Benedict an Originalität nichts zu wünschen übrig. Das schönste Mädchen der vereinigten drei Königreiche auf der Kirchenschwelle stehenzulassen, das nenne ich eine rohe und hassenswerte Tat. Zweifellos war Benedict toll in Miß Amabel verliebt, und daß es sich bei ihm nicht um eine bloße Laune handelte, dafür sprechen seine seit Jahresfrist fast täglichen Besuche. Sein Heiratsentschluß kann also nicht als übereilt gelten. Miß Amabel aber ist an Seele und Leib gleich liebreizend; sie ist innerlich ebenso schön wie von außen. Was also vermochte Benedict so plötzlich zu ernüchtern? Hat er im letzten Augenblick ein geheimes Laster an ihr entdeckt? Einen »Gewährsfehler« – um mich wie ein Pferdehändler auszudrücken?
Und als ich mit ihm zur Kirche fuhr, wie glücklich und süßer Zukunftsträume voll erschien er mir! Nicht von ferne ein Gedanke an Flucht; nur zu bereitwillig wollte er das Haupt unter das Ehejoch beugen, und niemand konnte ahnen, daß er urplötzlich die Ohren spitzen und, wie ein scheues Füllen, wiehernd davonjagen würde. Es ist also nicht anders möglich, als daß das Junggesellenleben im Augenblick, da er es abstreifen wollte, sich seinen Augen in den verführerischsten Reizen dargestellt hat. Oder sollte ihm dieser Sidney eine jener schrecklichen Enthüllungen, die wie ein glühendes Eisen brennen oder wie ein Axthieb treffen, über Miß Amabel gemacht haben? Aber was ließe sich von diesem kristallklaren, reinen, in einem sozusagen durchsichtigen Hause verbrachten Leben viel sagen, in dem von jeder Stunde Rechenschaft abgelegt werden kann, und wo das schlimmste Lästermaul auch nicht den Schatten eines Vorwandes aufzustöbern vermöchte? Mit welchem herzlosen Vorschlag konnte ihn dieser Sidney verführen? Vielleicht eine Nordpolreise oder eine Tigerjagd auf seinen javanischen Besitzungen? Aber das wäre Tollheit, und Benedict ist nicht toll. Und sofern Sidney ihn nicht direkt in seiner Tasche hat verschwinden lassen, verstehe ich von der ganzen Geschichte nicht so viel.«
In diesem Augenblick blitzte ein Gedanke in William Bautrys Gehirn auf: Wenn ich nun in dem Hause, das Sidney in Pall-Mall besitzt, und das er bis zu seiner Indienreise bewohnte, nachforschte?
Er fand die Fenster dieses Hauses verschlossen, und alles deutete darauf hin, daß seit langem niemand mehr dort gewohnt hatte.
William ließ den Türklopfer niederfallen, und nach einer ziemlich langen Wartezeit wurde ihm von einem Diener geöffnet.
Dieser Diener, der von einem entlegenen Teil des Hauses herbeigeeilt sein mochte, zeigte beim Anblick William Bautrys eine Überraschung, die deutlich für die Seltenheit eines Besuches in der verlassenen Wohnung zeugte.
»Ist Sir Arthur Sidney jetzt zu Hause?« fragte William aufs Geratewohl.
»Ja, Mylord – wahrscheinlich.«
»In diesem Falle wünsche ich zu ihm geführt zu werden«, sagte William, der an Boden zu gewinnen glaubte.
»O, Herr, nicht hier! Aber in Kalkutta; Blaue Elefantengasse 25; um diese Stunde pflegt er gewöhnlich nach Hause zu kommen. Sir Arthur Sidney wohnt nämlich schon seit zwei Jahren in Indien.«
»Und ist seither nicht zurückgekehrt?«
»Nicht daß ich wüßte, Mylord«, entgegnete der Diener, indem er Sir William immer mehr gegen die Türe zurückdrängte.
»Und doch habe ich ihn soeben in einer Gasse bei der Sankt-Margarethen-Kirche gesehen.«
»Mylord sind wahrscheinlich durch eine Ähnlichkeit getäuscht worden; denn wenn Sir Arthur sich wirklich in London aufhielte, so wären wir ohne Zweifel unterrichtet worden, und es ist wahrscheinlich, daß Sir Arthur in diesem Fall in seinem eigenen Hause abgestiegen wäre«, antwortete der Diener mit einer etwas ironischen Höflichkeit und klappte vor der Nase Sir Williams, den er für einen Gauner halten mochte, den großen Türflügel zu, dessen Griff er während des ganzen Gespräches nicht aus der Hand gelassen hatte.
Seinen Weg wieder aufnehmend, sprach Sir William zu sich selber: »Entweder ist Sidney wirklich nicht in London, oder dieser Schlingel hat einen Wink erhalten. Ich habe Arthur deutlich wiedererkannt, und Benedict hat ihn außerdem bei seinem Namen gerufen. Hätte Benedict Schulden, so wäre ich zu glauben versucht, ein als Sir Arthur verkleideter Büttel habe ihn in das Schuldgefängnis abgeführt. Ach vielleicht finde ich ihn jetzt bei Miß Amabel, ihr seinen mutwilligen Streich auf die natürlichste Weise erklärend.«
Aber Sir Benedict Arundell war nicht bei seiner Braut, sondern statt seiner suchte Lady Braybrooke, ratlos über deren dumpfe Verzweiflung, ihrer Nichte zu beweisen, daß es auf der Welt nichts Natürlicheres gebe, als im Augenblick der Trauung spurlos zu verschwinden; und daß selbst Alan Braybrooke, der unbestritten galanteste aller Kavaliere, nötigenfalls diesen geschmackvollen Scherz auch gewagt hätte.
Wenn aber Benedict in Person nicht zurückkehren konnte, warum schrieb er nicht? Aber weder ein Brief noch ein Billett, noch sonst eine Botschaft brachte eine Erklärung für sein unbegreifliches Benehmen. Alle Nachforschungen der Polizei blieben fruchtlos. Benedict Arundells Geschick hüllte sich in den dichtesten Schleier des Geheimnisvollen. Ein Mord schien nicht wahrscheinlich. Denn Sidney war mit Benedict im selben Institut erzogen worden und sein Busenfreund; ein Grund zur Feindschaft war nicht vorhanden. Und eine Entführung oder böswillige Freiheitsberaubung? Aber zu welchem Zweck? Aus welchem Grund? Die Eifersucht des abgewiesenen Liebhabers? Doch Sidney hatte Miß Amabel ja nie zuvor erblickt, und so konnte von einer Rivalität zwischen den beiden keine Rede sein. Als der Abend hereinbrach, zog sich die unglückliche Braut in ihr Schlafgemach zurück, dessen Schwelle sie am Morgen dieses Tages zum letztenmal zu betreten geglaubt hatte.
Ihre Zofen entkleideten sie und legten sie wie einen leblosen Leichnam in das hübsche, weiße Nest, aus dem tausend glückliche Träume aufgeflogen waren und mit rosigen Flügeln die elfenbeinzarte Stirn des jungen Mädchens gekost hatten.
Sie verharrte regungslos in der Stellung, in der man sie niedergelegt hatte. Das Haupt schwamm in der Flut ihrer Haare, die sich wie aus einer Quelle ergossen; der Arm stützte die blasse Wange, und sie hätte für eine Tote gelten können, wenn nicht von Zeit zu Zeit eine perlengleiche Träne über den Marmor ihrer Züge herabgerollt wäre.
»Leb wohl, mein Kind,« sagte Lady Elinor, als Amabel ihr hartnäckiges Schweigen nicht aufgab, »sei guten Mutes!«
Ein kaum wahrnehmbares Zucken der Verneinung bewegte Amabels Schultern; ihre Überzeugung stand unwiderruflich fest, daß Benedict, da er nicht gleich zurückgekehrt war, niemals zu ihr zurückfinden werde. Nicht einen Augenblick hatte sie an eine Schuld Benedicts geglaubt. Nah und fern, in diesem oder in jenem Leben war sie seiner gewiß. Sie besaß den unwandelbaren Glauben der ersten Liebe.
Während der ganzen Nacht weinte sie still vor sich hin, bis ein bleierner Morgenschlaf sich auf ihre wunden Augenlider senkte. Aber ihre Träume waren nicht minder trübe als ihre Gedanken; denn oftmals quollen Tränen unter den geschlossenen Wimpern hervor.
So verlief die Hochzeitsnacht des Mädchens, das Lady Arundell hätte werden sollen.
*
Zur gleichen Zeit stellte der schmerzgebeugte Lord Harley alle erdenklichen Nachforschungen an, um die Spur seiner verschwundenen Kinder wiederzufinden.
Das Bett des jungen Paares war kaum berührt. Die Kerzen in den Leuchtern waren friedlich bis auf den Docht niedergebrannt. Auf einem Tischchen lag ein zerknittertes, verkohltes Stück Papier; am Boden fand sich ein Briefumschlag mit der Namensaufschrift des Grafen de Volmerange ohne Briefmarke und in einer offensichtlich verstellten Handschrift.
Lord Harley prüfte begierig diesen Schatten eines Briefes, der bei jedem Lufthauch zu zerfallen drohte und vielleicht das aufregende Geheimnis von Edith und Volmeranges Flucht enthielt. Er forschte umsonst auf der verbrannten spröden Masse nach dem Rest eines Schriftzeichens, das die Flamme verschont hatte. Leichter wäre ihm die Entzifferung verwitterter Hieroglyphen gelungen, das verkohlte Papier gab keinen Aufschluß. Doch mußte es in dieser Schicksalsnacht eine geheimnisvolle Rolle gespielt haben; denn die Sorgfalt, mit der es vernichtet worden war, ließ seine Wichtigkeit erkennen.
Eine große in den Garten führende Glastüre hatte man geöffnet vorgefunden, und der mit Aufmerksamkeit geprüfte Erdboden zeigte die Spuren eines kleinen, sehr leichten Frauenfußes; denn es fand sich nur der Abdruck der Zehe und der Ferse auf dem feuchten Sand. Dazwischen prägten sich in einem wirren Durcheinander der Richtungen größere und tiefere Fußtapfen aus. Sie endeten bei einer Terrasse, die aus beträchtlicher Höhe den Garten gegen die Straße abschloß. An dieser Stelle mußten Edith und Volmerange das elterliche Gut verlassen haben. Aber die Terrasse lag sechs bis sieben Fuß hoch über der Straße – wie also waren sie hinuntergelangt, und welche Vermutungen ließen sich über eine so unbegreifliche Flucht anstellen? Ein junges Paar, das heimlich wie Verbrecher in der ersten Nacht aus dem Brautgemach entflieht und die Eltern in tödlicher Angst zurückläßt – war das nicht schrecklich?
Lady Harley rief sich Ediths traurige, gedankenschwere Züge in den letzten Tagen vor ihrer Heirat ins Gedächtnis zurück und vermutete eine geheimgehaltene und verbotene Leidenschaft. Aber hatte Edith nicht feierlich erklärt, daß ihr Herz frei und Volmerange der Gatte ihrer Wahl sei? Die Vermutung einer Entführung oder eines Verbrechens mußte also dahinfallen. Auch fand sich keine Fußspur, die von der Terrasse zur Gartentür zurückgeführt hätte. Das von dem nächtlichen Sturm ausgetrocknete Erdreich hätte diese Spur ebenso wie die übrigen festgehalten.
Ein kleiner weißer Fetzen, wahrscheinlich aus ihrem Nachtgewande, hatte sich an einer Stachelkrone der Schutzmauer verfangen und zeigte den Ort an, von dem aus Edith auf die Straße hinuntergesprungen sein mochte. Leider war auf dem schmutzigen, mit Wasserlachen bedeckten Pflaster keinerlei Spur der Flüchtigen zu bemerken.
Der nächtliche Sturm mochte zeitig alle Fußgänger vertrieben haben; denn niemand wollte etwas Auffälliges gesehen haben.
»Vielleicht sind sie auf ihr Landgut nach Twickenham gereist,« sagte Lord Harley, »obgleich ich mich noch deutlich der Äußerung Volmeranges erinnere: daß er von der Sitte, sein Glück in einer Postkutsche zu verpacken und den Postillion zum Vertrauten der reinsten Liebesgefühle zu machen, gar nichts halte. Doch schicken wir immerhin einen Boten nach Twickenham.«
Aber Graf und Gräfin de Volmerange waren in ihrem Schlosse nicht gesehen worden, und der Verwalter hatte keinerlei Ordres, ihre Ankunft betreffend, erhalten.
Bei dieser Auskunft gerieten die armen Eltern in die schwärzeste Verzweiflung. Sie hatten sich in der Zwischenzeit tausend Gründe zurechtgelegt, warum ihr Kind sicherlich dennoch nach Twickenham gereist war. Sie hatten sich an diesen armseligen Strohhalm einer Hoffnung mit so verzweifelten Fingern geklammert, daß sie, als er zerriß, in einen Abgrund von Trostlosigkeit stürzten und es ihnen war, als verlören sie Edith zum zweiten Male.
Die eifrigsten Nachforschungen ergaben nicht das geringste Resultat. Das Verschwinden der beiden Gatten war in tiefstes Dunkel gehüllt.
Die Sankt-Margarethen-Kirche hatte die trüben Ahnungen, die ihr frostiger und düsterer Anblick geweckt, voll und ganz erfüllt und somit der Vorliebe Lady Braybrookes für das neue Gotteshaus in Hanover-Square in Heiratssachen jedenfalls recht gegeben. Diesmal war dem Ausspruch der guten Lady restlos beizustimmen: daß gotische Kirchen gerade gut genug seien, um sich darin begraben zu lassen.