Theophil Gautier
Die vertauschten Paare
Theophil Gautier

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II

Little-John war über alle Maßen begeistert über die Verheißung eines solchen Trinkgeldes und er vollführte mittels seiner Peitsche ein wütendes Getöse mit Schnalzen, Klatschen und wahren Knallraketen, so daß man hätte glauben können, zwei Armeen seien mit ihren Musketen in ein Scharmützel geraten; denn Little-John war ein Virtuose auf diesem Gebiete der Tonkunst.

Außer sich gebracht durch das Knattern dieser Batterien und durch die Peitschenmücke, die in tollen Arabesken auf ihren Rücken tanzte und in ihre Ohren stach, rissen die Pferde am Zaumzeug und stürzten mit rasendem Eifer ins Weite. Die Räder verschwammen in der Geschwindigkeit des Rollens zu einer Scheibe; ihr flammender Glanz wurde vom Wirbel der Eile aufgesogen.

Der Unbekannte saß in der Ecke seines Wagens mit der regungslosen Ergebenheit und verhaltenen Leidenschaft eines machtvollen Willens, der elementaren und unüberwindlichen Hindernissen wie Raum und Zeit begegnet. Die eine Hand, die auf seinem Knie ausgestreckt lag, hielt eine Uhr umschlossen, deren Zeiger er mit Unruhe verfolgte. Zuweilen ließ er seine Blicke zwischen den Wagengardinen auf die Landstraße schweifen und suchte am Vorübergleiten der Bäume im engen Rahmen des Fensters das Tempo seiner Reise zu berechnen.

»Ich werde die verlorene halbe Stunde bald eingeholt haben, wenn die Pferde diesen Takt noch einige Zeit einhalten«, murmelte der geheimnisvolle Mensch mit einem Seufzer der Befriedigung.

Dieser Mann, der es mit seiner Ankunft so eilig hatte, verdient wohl, daß wir seine Züge mit ein paar Strichen festzuhalten suchen.

Er war jung, und sein regelmäßiges, kaltes, jedoch mit dem Stempel der Besonnenheit und des Willens geprägtes Gesicht ließ auf höchstens sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahre schließen. Die untere Hälfte seiner regungslosen Maske war dunkler gefärbt von manchen Bestrahlungen der heißen Sonne und erzählte von zahlreichen Reisen oder längerem Aufenthalt im Orient und den heißen Regionen der Tropen. Denn die gebräunte Haut war ihm nicht natürlich. Seine von feinem, flockigem, blondem Lockenhaar halb entblößte Stirn, die der Hutrand gegen die heftigste Sonnenglut geschützt haben mochte, zeigte das leuchtende Weiß seiner nördlichen Abkunft.

Aber selbst eine so eingehende Prüfung, wie wir sie eben vorgenommen haben, ließ uns den gesellschaftlichen Stand des Fremden nicht erraten, der da auf den olivgrünen Tuchpolstern der Berline saß und Little-John veranlaßte, die Pferde und den Lieblingswagen Meister Geordies in einer Weise zu traktieren, daß dieser bei solchem Anblick ein klägliches Lamento ausgestoßen hätte.

Eine Militärperson konnte er nicht sein, denn ihm fehlte die steife Förmlichkeit, die gerade Haltung des Kopfes und der zurückgezogenen Schultern, wie sie den Sohn des Mars auf den ersten Blick selbst im bürgerlichen Rock erkennen lassen. Er gehörte ebensowenig zum geistlichen Stand; denn obwohl sein Gesicht einen ernsten und nachdenklichen Ausdruck zeigte, entbehrte es doch der frommen und etwas weichlichen Anmut, die den Dienern der Kirche eigen ist. Noch weniger mochte er ein Kaufmann sein. Denn seine weiße und reine Stirn war von keiner jener Runzeln entstellt, in denen sich die Berechnungen über das Steigen und Fallen der Zuckerpreise verbergen. Aber er war auch kein modischer Geck. Nur eines ging mit Sicherheit hervor: daß man es, wie man ihn da so vor sich sah, mit einem vollendeten Gentleman zu tun hatte.

Welches aber mochte das dringende Geschäft sein, das ihn auf der Straße nach London dahinjagte, als hinge das Heil der Welt an einer Minute Verspätung? Floh oder verfolgte er? Das ist's, was wir zu dieser Stunde noch nicht zu ergründen vermögen.

Indessen begannen die Pferde zu erlahmen. Die Reibung des Halfters verwandelte ihren Schweiß in weißen Schaum. Silbriger Gischt bedeckte ihre Brust gleich den Rennern des Meeres am Triumphwagen Neptuns oder der Galatea. Ihr Atem schoß in Wolken aus den Nüstern und mischte sich, vom Wind getragen, mit dem dampfenden Nebel, der von ihren bebenden Flanken aufstieg. In einer Wolke rollte das Gefährt dahin, gleich dem Wagen einer antiken Gottheit.

Trotz seines Verlangens nach den versprochenen drei Guineen verspürte Little-John einige Gewissensbisse, seine Tiere also aufs Äußerste zu treiben, und die Angst, sie seinem Herrn für immer geschunden zurückzuführen, trug für einige Augenblicke den Sieg über sein Verlangen nach der märchenhaften Belohnung davon. Und da zu allem übrigen Little-John Engländer war, so begann sein Kutscherherz zu bluten, als er seinen Liebling Black in Schweiß gebadet keuchen hörte. Einem französischen Postillion wäre diese zarte Regung fremd geblieben.

Um also sein Gewissen zu beschwichtigen, hob sich Little-John ein wenig im Sattel und versuchte ein kleines Gespräch in der Richtung des Wagens, indem er, sich mit der Hand auf den Hals des Pferdes stützend, nach rückwärts fragte: »Ist es Euer Gnaden Absicht, die Pferde zuschanden zu fahren und ihren Preis zu bezahlen?«

»Ja«, war die Antwort des also Angesprochenen.

»Gut,« sagte Little-John, »den Wünschen Euer Gnaden soll entsprochen werden.«

Und damit legte Little-John die Schenkel an, rückte sich im Sattel zurecht und versetzte seinem Tier einen so wütenden Peitschenhieb, daß es einen wilden Satz tat, mit dem letzten Rest von Willenskraft, den ihm der Schmerz verlieh, davonstürzte und das übrige Gespann mit sich fortriß. Diese verzweifelte Jagd hielt an, dank dem unablässigen Peitschenspiel, das einen anderen als Little-Johns kräftigen Arm längst lahmgelegt hätte.

Das Auge des Unbekannten war nach wie vor auf das Zifferblatt seiner Uhr geheftet. Er verlor keinen Blick an die liebliche, vom Herbst leicht vergoldete Landschaft mit den hübschen Häuschen, die sich längs der Straße oder aus buschigen Baumgruppen im morgendlichen Erwachen zeigten. Er blieb ungerührt von allen Reizen seines englischen Landes. Die malerische Schönheit ließ ihn in diesem Augenblick entschieden kalt, obwohl er nicht zur Klasse der Bürger und Philister zu gehören schien. Er war von einem einzigen, unveränderlichen Gedanken beherrscht: ans Ziel zu gelangen.

Dank dem frischen Anlauf, den Little-John seinem Gespann abgetrotzt hatte, glättete sich die Stirn des ungeduldigen Reisenden; er atmete freier und ließ die Uhr in die Tasche zurückgleiten; denn ihm schien, daß er nun allen Hindernissen glücklich entronnen sei.

»So Gott will,« sagte er mit halber Stimme, »werde ich nun entgegen allen feindlichen Zufällen, die in dieser ganzen Angelegenheit mit einem scheinbar absichtlichen Vergnügen meine Pläne gekreuzt haben, rechtzeitig eintreffen; und man wird mir nicht nachsagen können, daß mein Wille vor irgendeinem menschlichen Widerstand haltgemacht habe. Aber welche Kette von Umständen, die eigens ausgeheckt schienen, um mich aufzuhalten! Das Schiff, das mir die erste Nachricht von der Angelegenheit bringen sollte, die für mich von so großer Wichtigkeit ist, daß ich Indien auf der Stelle verlasse, stößt bei den Maledivischen Inseln auf javanische Seeräuber, die es attackieren und plündern. Ich erfahre also erst durch einen zweiten Brief von der Sache, an deren Kenntnis mir so viel gelegen ist. Ich dinge den besten Segler, den ich in Kalkutta auftreiben kann; aber ein fürchterlicher Sturm hält mich eine Woche in der Meerenge von Bab-el-Mandeb fest.

Die Hälfte meiner Mannschaft wird im Delta des Ganges von der blauen Cholera dahingerafft in einem Augenblick, der mir nicht ungelegener hätte sein können. In den Gewässern des Roten Meeres begegnen wir der Pest und finden den Isthmus von Suez durch allerlei Quarantänemaßregeln gesperrt. Auf dem Höcker eines Kamels schreibe ich dem wackeren Mackgill einen Brief, der zerfetzt wie ein Krebsbart, parfümiert mit Essig und aromatischen Räuchermitteln, tätowiert in allen Farben, wie die Haut eines Karaiben, durchgewischt durch sämtliche Mausefallen der Gesundheitsbehörde, von ihm mit ehrfürchtigem Schrecken in Empfang genommen wird. Auf die Gefahr hin, mit Gewehrschüssen attackiert zu werden, gelingt es mir, die Hindernisse der Quarantäne zu überwinden. Denn, seltsame Empfindsamkeit! die Pest fürchtet sich vor der Cholera! Glücklicherweise stoße ich auf den tapferen Kapitän Peppercul, der, frei von allen Vorurteilen der Hygiene, an der Küste unweit Alexandriens laviert. Durch eine ungeheure Summe gefügig gemacht, nimmt er mich an Bord, und, mit zarter Rücksicht allen Lazaretthäfen ausweichend, bringt er mich nach England.

In meinem ganzen Leben war ich nicht so aufgeregt wie auf dieser verdammten Reise. Der ich für gewöhnlich die Gelassenheit selber bin, gebärde mich launischer als eine verwöhnte Modepuppe, die in hysterische Krämpfe verfällt, weil ihr der Gatte einen sinnlosen Wunsch abschlägt. – Nun naht gottlob das Ende meiner Irrfahrt. Da mein Brief mir um einen Tag vorausgeeilt ist, werde ich alles aufs beste vorbereitet finden. Wir haben jetzt neun Uhr: in zwei Stunden kann ich in London sein.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Nun, mein Postillion,« sagte er, wie um seinen Monolog abzuschließen, und indem er das Wagenfenster herunterließ, »mir scheint, die Pferde lassen nach!«

»Mylord, sofern Euch nicht die Greife zur Verfügung stehen, von denen die Heilige Schrift redet, oder der feurige Wagen des Propheten Elias, vermöchtet Ihr auf menschliche Weise nicht rascher voranzukommen als mit meinem wackeren Gespann. Kein anderer Postillion – und wenn Ihr ihm auch sechs Guineen versprächet – würde aus den Gelenken dieser armen Tiere eine solche Summe von Geschwindigkeit herausschinden als ich mit meinem Peitschenstock«, entgegnete Little-John sehr von oben herab und drehte nur ein wenig den Kopf.

Dennoch, aus einer gewissen Höflichkeit für den anspruchsvollen Fremden, ließ Little-John, der aus seinem Verkehr mit der großen Welt einigen Anstand gelernt hatte, seine Peitsche zwei-, dreimal knallen. Aber wie er es schon vorausgeahnt hatte, tat dieses Reizmittel keine Wirkung mehr. Obwohl das Peitschenende die Schulter der Pferde traf, entlockte es ihnen nicht einmal ein Zucken der Ungeduld oder des Schmerzes.

Nicht lange, so bedeckte sich das Tier, das neben dem Sattelpferd lief und wie ein Blasebalg röchelte, über und über mit Schaum; sein Haar sträubte sich, es zog den Kopf ein, und seine Schritte verloren den Takt. Unsicher und schwankend lehnte es sich an die Schulter seines Gefährten; aber gleich darauf brach es zusammen und fiel auf die Seite. Der Zug, der im vollsten Galopp dahinjagte, vermochte nicht auf der Stelle stillzustehen, so daß das arme Tier ein ganzes Stück Weges mitgerissen wurde und sein Körper im Staube schleifte. Endlich gelang es Little-John, das Gefährt zum Stehen zu bringen. Er versuchte das gestürzte Pferd mit aller Kraft am Zügel hochzureißen und versetzte ihm mit dem Peitschenstiel ein paar kräftige Hiebe; denn noch glaubte er an ein bloßes Stolpern. Aber Black sollte in diesem Leben keinen Reisenden mehr befördern: seine Flanken rieselten, als hätten alle Wasser des Himmels und der Erde sich über sie ergossen, und wanden sich in qualvollen Krämpfen. Noch einmal trieb ihn der Schmerz auf die Beine; er tat ein paar irre Sätze und riß damit den Wagen vollends aus seiner Spur. Wie er so dastand, glich er einem jener unheimlichen verstümmelten Tiere, die sich aus den Leichenbergen eines verlassenen Schlachtfeldes wie ein Phantom erheben.

Erschreckt durch die Schatten des nahenden Todes, den sie mit wunderbarem Instinkt witterten, wankten auch die übrigen Pferde, und alles Bemühen von seiten Little-Johns, der ihnen die Mäuler zerriß, war vergebens: sie wurden mitgerissen in den schwarzen Taumel des Todeskampfes, dem ihr armer Kamerad verfallen war. Im gleichen Augenblick, als der nunmehr völlig entgleiste Wagen in den Straßengraben umzukippen drohte, rollte Black am Boden, als hätten unsichtbare Messer ihm die vier Kniekehlen mit einem Hieb durchschnitten. Seine aufgelassenen Schreckensaugen trübten sich mit bläulichen Flecken; aus den blutenden Nüstern quoll flutender Schaum; seine Glieder reckten sich und wurden steif wie Holzpfähle: es war um ihn geschehen, der eines besseren Loses würdig gewesen.

Alles dies ereignete sich in weniger Zeit, als unsere Feder zum Niederschreiben brauchte.

Der Fremde stürzte aus dem Wagen. Sein Gesicht trug den Ausdruck heftigsten Unmutes.

»Das hat mir gerade noch gefehlt,« schnaubte er in verhaltener Wut und versetzte dem verendeten Black einen Fußtritt. »Konnte die elende Schindermähre, die jetzt platt wie eine schwarze Papiersilhouette auf dem Boden liegt, nicht noch zehn Minuten länger leben? Vorwärts, schnell! Machen wir das Aas los vom übrigen Gespann! Ich sehe das Posthaus in nächster Nähe. Wir müssen es so schnell als möglich zu erreichen suchen.«

Und der Fremde ging Little-John auf so geschickte Weise zur Hand, daß über seine vollkommene Vertrautheit im Umgang mit Pferden kein Zweifel blieb. Mühelos löste er die Riemen und fand sich in dem durch des armen Black verzweifelte Sprünge ganz verwickelten Zaumzeug spielend zurecht. Little-John, den die Gefühllosigkeit des Fremden beim Anblick des toten Pferdes nicht wenig empört hatte, fühlte sich von aufrichtiger Bewunderung für seinen merkwürdigen Fahrgast durchdrungen und gönnte ihm den Ehrentitel eines »Pferdeknechtes«, mit dem er sonst nicht freigebig umzugehen pflegte.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

»Wie schade, daß Ihr ein Lord seid,« sagte er zu dem Fremden gewandt. »Ihr hättet in unserem Stande Euer schönes Auskommen gefunden. Aber vielleicht ist es für Euch doch besser, daß ihr ein Lord seid. Armer Black,« fuhr er fort, indem er den Zügel vom Hals des toten Tieres löste, »wer hätte heute morgen gedacht, daß du dein letztes Scheffel Hafer kaust! Was sind wir doch für vergängliche Geschöpfe!«

So lautete Blacks Totenklage. Den Mangel an Beredsamkeit ersetzte das bewegte Gefühl des Sprechers. Ein feuchter Glanz zeigte sich in Little-Johns Blicken, und hätte er sich nicht rechtzeitig mit seinem abgewetzten Ärmel die Augen gewischt, so wäre eine Träne zwischen seinen von Kälte und Hitze gegerbten Backen und der weinroten Nase niedergerollt.

Die Seele Blacks – wenn von einem Tier etwas Derartiges übrigbleiben sollte – mochte sich zufrieden geben und Little-John alle Geißelhiebe verzeihen, die ihren ehemaligen Wohnsitz unverdient getroffen hatten; denn Little-John war zarterer Regungen nicht unfähig, obwohl er als der standhafteste Postillion gelten konnte, der je eine schaflederne Hose gespannt und vor einem Sattelknopf gesessen hat.

»Weiter!« rief jetzt der Fremde mit gebietender Stimme. Little-John schwang sich wieder auf sein Pferd, und der Wagen rollte davon, nicht mehr so schnell wie zuvor, aber noch immer in beträchtlicher Geschwindigkeit. Nach wenigen Minuten war die Verspätung wettgemacht. Der Unbekannte griff in seine Tasche und füllte die schwielige Hand seines Postillions mit Guineen.

»Da,« sagte er, »für dich und dein Pferd.«

Der durch solche Fülle ganz Verwirrte versuchte eine rhetorische Dankesbezeugung von so verschnörkeltem Bau, daß er auf eine regelrechte Durchführung verzichten mußte. Mitten in einer schwebenden Satzperiode schrie er plötzlich, von einer jähen Eingebung erfaßt, den Stallburschen an, der um den Wagen herumlungerte:

»Zum Teufel, Smith, schütte doch einen Kübel Wasser auf die Räder; sie sind heiß gelaufen und wollen Feuer fangen.«

In der Tat stieg von den Naben ein leichtes Räuchlein auf und bewies, daß Little-Johns Befürchtungen durchaus nicht der Phantasie entsprungen waren.

Als der Bauernlümmel die dampfenden Achsen gewahrte, sagte er:

»Sieh einer an, du scheinst eine tüchtige Fahrt hinter dir zu haben! Denn, ohne dich beleidigen zu wollen: es ist schon eine gute Weile her, daß in deine Räder Feuer gefahren ist. Der Betreffende hat wohl eine offene Hand!«

»Wie der Oberbürgermeister von London am Tage seiner Einsetzung! Aber wenn er auch großmütig ist, so ist er doch keineswegs langmütig. Ich rate dir: mach' voran!«

Daraufhin rannte Smith in aller Eile mit seinem Wassereimer zum Steintrog und besprengte die Naben tüchtig mit Wasser. Inzwischen hatten die Stallknechte, so behende wie geschickt, die Berline mit einem neuen Gespann versehen, das voller Ungeduld in überschüssiger Kraft den Boden stampfte. Der neue Postillion saß schon im Sitz, und ein gut ausgerüsteter Kurier war vorausgeeilt, um bei der nächsten Poststation die Wechselpferde zu bestellen. Denn da Jack mit den Dingen des Meeres besser vertraut war als mit denen des festen Landes, hatte er diese Vorsicht außer acht gelassen.

Bald jagte Geordies Wagen wieder in voller Fahrt dahin wie von Hippogryphen gezogen.

Als Little-John seine Pferde heimwärts lenkte, konnte er es sich nicht versagen, vor Blacks Leiche, die verlassen auf der weiten Straße lag, ein paar Minuten zu verweilen.

»Ach,« seufzte der Postillion, »er war zu leidenschaftlich, das hat ihn ums Leben gebracht. Er schleppte die ganze Last allein. Ihr anderen werdet nicht auf diese Weise zugrunde gehen, faules Pack!« setzte er hinzu und ließ seine Peitschenschnur auf die feisten, runden Nacken der drei Überlebenden niedersausen, so daß diese mit ein paar Sätzen auf diese Moralpredigt antworteten. »Es ist nicht zu befürchten, daß euch euer Temperament unter den Boden bringt.«

Zeichnung Karl M. Schultheiss

Um auf die interessante Persönlichkeit Little-Johns nicht mehr zurückkommen zu müssen, sondern mit Muße unsern Unbekannten auf seiner rasenden Fahrt zu verfolgen, sei kurz gesagt, daß der auf seine Weise ehrliche und gewissenhafte Bursche die Hälfte der Summe, die er für Blacks Einbuße von dem Fremden erhalten hatte, Meister Geordie aushändigte. Ein Postillion von minderer Tugendhaftigkeit hätte, ohne sich zu verraten, zwei Drittel davon in die eigene Tasche fließen lassen.

Die Reise nahm nun ohne weiteren namhaften Zwischenfall ihren Verlauf. Meister Geordies Berline rollte in unverminderter Eile auf einer jener bewundernswerten englischen Straßen dahin, die eben wie eine Tischplatte und besser gepflegt sind als bei uns die Alleen in den königlichen Gärten.

Schon schaukelte am Horizont die riesige Säule aus Dampf und Staub, die stets über der Stadt London zu sehen ist; aber diese häßliche Dunstwolke erfüllte unseren Reisenden mit größerem Entzücken als der Anblick des azurnen Himmels über den Wassern Venedigs.

»Da hätten wir ja auch schon den Rauch aus der alten Teufelsscheune«, sagte er und rieb sich mit tiefer Genugtuung die Hände: »Wir nähern uns!«

Die Hütten und Wohnhäuser, die vorerst nur zerstreut aufgetaucht waren, rückten jetzt zu dichten Massen zusammen, und ein Geäst von Wegen mündete in die breite Landstraße ein. Die hohen Fabrikkamine aus Backstein reckten sich wie ägyptische Obelisken am Rande des Himmels und spien schwarze Wirbel in den silbernen Nebel. Der spitze Pfeil der Dreifaltigkeitskirche, die gequetschte Kuppel von Sankt Olaf und die düstere Säule der Heiligen Erlöserkirche mit ihren vier Nadeln mischten sich unter den Wald von Schornsteinen und überragten diese mit jener Hoheit, die einen himmlischen Gedanken über die Dinge dieser Welt emporhebt.

Hinter diesem ersten Aspekt, der von den mannigfaltigen Umrissen der Gebäulichkeiten wie ein Sägeblatt ausgezahnt wurde, unterschied man verschwommen im bläulichen Wasserdunst und zwischen den vielartigen Masten der Schiffe die Silhouetten des Towers von London und der gigantischen Sankt-Pauls-Kathedrale – dem britannischen Gegenstück zu Sankt Peter in Rom, – die, im Nebel halb verschwimmend, den Horizont belebten.

Sei es nun, weil der Anblick ihm vertraut war, oder weil seine Gedankenwelt ihn ganz in Anspruch nahm – kurz, der Fremde ließ die Blicke über die Dinge, die ihm das Wagenfenster in wechselnden Bildern zeigte, nur flüchtig schweifen, um sich des richtigen Weges zu versichern.

Die Kutsche rollte mit einem Getöse über die Brücke von Southwark wie über des Salmoneus ehernen Bogen und geriet am anderen Ufer des Flusses in der Richtung des »Strand« in ein Labyrinth von kleinen Gassen, wie es der Themse entlang häufig zu finden ist. Endlich hielt sie vor einer jener Passagen, die man in London unter dem Namen Lane kennt, in nächster Nähe der Sankt-Margarethen-Kirche.

Der Fremde zog seine Uhr und schien wie von einer schweren Last befreit. Der Zeiger rückte auf elf Uhr: eine Strecke von zwanzig Meilen war in drei Stunden bewältigt worden.

Er sandte einen Blick in die Gegend der Kirche, der ihn zu befriedigen schien; dann bog er entschlossen in eine kleine Gasse ein, die durch den Schatten des Gotteshauses und der umstehenden hohen Häuser noch besonders verdunkelt wurde. Kaum hatte er die ersten Schritte zurückgelegt, als ein Mensch auf ihn zukam, der sich aus der Mauer, an die er sich gedrückt hatte, zu lösen schien, und dessen aschfarbene Kleidung sich kaum von dem grauen Stein abhob.

»Ihr kommt von über'm Wasser in der bewußten Sache«, flüsterte er an der Seite des Fremden.

»Ganz recht! Mackgill, Jack und der Kapitän Peppercul haben mich an Euch empfohlen«, entgegnete der Fremde.

»Folgen Sie mir, alles ist bereit.«

Sie schritten nebeneinander bis zu einem Hause von verdächtigem Aussehen. Ihr Kommen mußte aus dessen Innern beobachtet worden sein; denn alsbald öffnete sich die Tür, um sogleich wieder lautlos hinter ihnen ins Schloß zu fallen.

*

Während Geordies olivengrüne Berline in der schon beschriebenen stürmischen Hast auf der Straße nach London dahinrollte, war auch die ›Belle-Jenny‹ nicht müßig geblieben. Nachdem sie Mackgill und seinen Gefährten Jack an Bord genommen, hatte sie ihre Fahrt im Atemzug einer hübschen Brise fröhlich fortgesetzt. Sie umsegelte den Shakespeare-Felsen; passierte vor Deale und Docons und folgte der Linie der weißen Klippen bis Ramsgate. Als die Nacht hereinbrach, warf sie in der Themsemündung oberhalb von Gravesend die Anker hinter einer Flottille von Kohlenschleppern aus Hull, deren rabenschwarze Segel Theseus' Vater zu Tode betrübt hätten. Dort lag sie so friedlich und harmlos wie irgendein biederes Fahrzeug, das die Stunde der Flut zur Einfahrt nach London erwartet, um vor dem Zollhaus die legitimste aller Frachten zu löschen. Dennoch verliehen ihr die Höhe der beiden Masten, die Breite der Rahen und die nach außen gekurvte Schale ihres Rumpfes – wobei die Sicherheit offenbar der Beweglichkeit aufgeopfert worden war –, ungeachtet ihrer scheinheiligen Ruhe ein so leichtfertiges und spitzbübisches Aussehen, wie es einem Fahrzeug, dessen einziger Lebenszweck der Beförderung von Zuckersirup dient, nicht eigen ist. Andererseits gab es keinen Kapitän, der tadellosere Schiffspapiere hatte, als unseren Peppercul.

Zeichnung Karl M. Schultheiss

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