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Neuntes Kapitel.


Als Vater und Tochter die Treppe ihres Hauses erstiegen, sagte letztere, indem sie leise den Arm ihres einzigen Freundes drückte: »Komme gleich mit in mein Zimmer, ich habe Dir eine lange Geschichte zu erzählen.« Auch den Thee ließ sie auf ihr Zimmer bringen und schickte die Domestiken zu Bett.

Sie wartete geduldig, bis es still im Hause war. Dann begann sie mit leiser Stimme ihrem Vater Alles zu erzählen, was sie seit gestern Abend erlebt. Sie schloß mit den Worten: »Ich sagte Dir gestern Abend nichts aus zwei Gründen: erstens war ich zu sehr – und laß es mich Dir gestehen – zu schmerzlich ergriffen, um davon reden zu können – Du kennst mich, bei sehr tief mich berührenden Dingen kann ich gar nichts sagen. Zweitens wünschte ich auch nicht einmal mit Dir zu sprechen, ehe ich Alles nach meiner Weise beendigt – ich fürchtete Deinen Einfluß gegen meinen Willen – und da ich mir bis jetzt, zum Aergerniß der Welt und auch Dir zum Aergerniß, liebster Vater, obgleich Du es mich in Deiner Güte nicht so empfinden ließest, wie sie, in dieser Angelegenheit getreu geblieben, wollte ich es auch bis zum Ende sein.«

»Ich würde Dein ganzes Handeln gestern und heute vollkommen billigen, wenn –«

»Der Anlaß wichtiger wäre, willst Du sagen, liebster Vater; ist dem nicht so?«

»Ja, mein Kind. Mir scheint es übertrieben, den Mann, den man Freund genannt, deshalb vergessen und verleugnen zu wollen für immerdar, weil er uns nicht zu rechter Zeit begrüßt hat.«

Agnes sagte lächelnd: »Ich wußte das im Voraus, denn kein Mann räumt ein, daß zuweilen Kleinigkeiten Hauptsachen, zuweilen Hauptsachen Kleinigkeiten sind.«

»Weil wir gerechter sind, als Ihr.«

»Nur schwerfälliger, liebster Vater, nur schwerfälliger. Ihr geht nicht von der einmal bestimmten Norm, vom einmal erfaßten Maaßstabe ab. Es ist uns Frauen aber außerordentlich selten vergönnt, den Character, die Absichten, ja selbst die Meinungen der Menschen anders als an Kleinigkeiten zu erkennen.«

»Wie meinst Du das, mein Kind?«

»Ein Egoist verräth sich in Gesellschaft dadurch, daß er bei Tafel es so einzurichten weiß, daß er die besten Bissen bekommt. Ein Geizhals dadurch, daß er, wenn in der Gesellschaft von einer Collecte die Rede ist, eine leidenschaftliche Liebe zu Albums bekommt und in irgend einem entfernten Zimmer darin blättert, während die Beiträge gezeichnet werden. Ein bösartiger Mensch, daß er sich in die nächste Nähe setzt, wenn voraus zu sehen ist, daß Jemand sich blamiren wird, sei es nun im Gesange oder beim Tanz oder sonst wie.«

»Das ist, was den Character, aber nun was die Absichten betrifft?«

»Die sind auch immer nur an Kleinigkeiten zu erkennen. Wenn mich Jemand ausforschen oder mir ein Vertrauen machen will, so bemerke ich das am ersten, wenn er zu einer ungewöhnlichen Zeit kommt, wo er sicher ist, mich allein zu treffen. Oder –«

»Genug – wir kommen nun an das Letzte: die Meinung, die Jemand von uns hegt. Sage mir in Beziehung darauf Deine Kleinigkeitstheorie.«

»Wenn Jemand eine hohe Meinung von mir hat, so setzt er mich bei Tische neben seinen liebsten Gast – ein sicheres Zeichen, daß er meine Gesellschaft schätzt. Die Kehrseite aber nun: wenn mich jemand für dumm hält, lügt er mir eine unglaubliche Geschichte vor. Wer mich für eitel hält, spricht mit mir, sobald er mir gefallen will, geringschätzend von der Schönheit anderer Frauen, wenn er mich beleidigen will, übertrieben lobend – und nun das Letzte – Alles in Allem – wenn mich jemand für dumm, eitel und verliebt hält, fängt er an mit mir zu kokettiren! «

»Aber er hat doch nur angefangen –«

»Und ich habe nur aufgehört! Kann ich weniger thun? O über diese unausstehliche, erbärmliche Männerkoketterie! Von der spricht Niemand, schreibt Niemand, während man immer und immer wieder die Koketterie der Frauen hervorhebt!

Und das, was die Männer gewöhnlich unter Frauenkoketterie verstehen, wie harmlos, unschädlich und unverhüllt ist das im Vergleich mit dem, was sich die Männer erlauben.

Frauen kokettiren in der Regel nur, ehe sie selbst lieben und geliebt werden. Und was thun sie dann? Sie putzen sich ein wenig, sie lächeln ein wenig, singen ein wenig bei offenem Fenster, damit der Vorübergehende ihre schöne Stimme hören kann – kurz, sie suchen anzuziehen durch Kunst und Mühe. Gelingt es ihnen, so sind sie gleich ehrlich und offen, gelingt es ihnen nicht – so ist Niemand ein Leid widerfahren. Die Männer hingegen – o mein Vater!«

»Genire Dich nicht, mein Kind!

»Ich bin ein und zwanzig Jahre alt und seit meinem sechzehnten lebe ich in der großen Welt. Mein größtes Interesse ist es von jeher gewesen, die Menschen zu beobachten. Bei all meiner Lebhaftigkeit giebt es doch häufig Stunden, wo ich keine Silbe rede und nur sehe und höre.«

»Ich habe Dich öfter so still lauschend sitzen sehen.«

»Da habe ich denn meine Erfahrungen über die Koketterie der Männer gesammelt; aber nicht an mir wurde sie erprobt, Gott sei Dank. Die Koketterie der Männer fängt erst an, wenn sie schon so ein armes unschuldiges Mädchenherz halb gewonnen haben. Bis dahin sind sie willenlose, auf den Knieen liegende Sclaven, denen kein Wetter zu schlecht, keine Stunde zu spät, keine Mühe zu groß ist, um eine Gelegenheit zu benutzen, den Beweis ihrer ewigen, unvergänglichen, unerschütterlichen Liebe an den Tag zu legen. Haben aber diese vielen ›Beweise‹ endlich gewirkt, dann geht das unwürdige Spiel an. Sie gehen vorüber und sehen das Mädchen nicht an, sie versprechen zu kommen und bleiben aus, oder sie kommen und sind wortkarg, ironisch oder zürnend. Nun wird es der armen Unschuld bange. Was habe ich ihm gethan? womit ihn beleidigt? Oder hat mich Jemand bei ihm verläumdet? Sie geräth außer sich, im Heldenmuth ihrer knospenden Liebe setzt sie den Anstand bei Seite und fragt ihn zitternd, warum er so verändert sei. Er weiß vortrefflich seinen Vortheil zu benutzen, will anfangs nichts sagen, zweifelt an ihrer Liebe, bis sie, auf's Aeußerste getrieben, um seine scheinbare Verzweiflung zu lindern, ihm versichert, daß sie ihn mehr liebe als ihr Leben. Nun hängt es von dem gnädigen Herrn ab, ihr seine Liebe fortdauernd zu schenken, ihr treu zu bleiben, sie zu heirathen, wenn es geht, oder auch nicht – ihr Geständniß hat sie in seine Hände gegeben und er hat sich zu ihrem Herrn aufgeworfen, ehe sie noch weiß, ob er es in den Augen der Welt je werden wird. – Dies Mädchen ist und bleibt gut und ehrbar, aber sie hat die ungeheure Dummheit gehabt – mit sich Komödie spielen zu lassen!«

»Agnes! Ich kenne Dich nicht!«

»Du mußt mir Recht geben, Vater – in Einem stehen die Frauen himmelhoch über den Männern. Die Frau, ich meine die bessere, ebenso wie ich auch bloß die besseren Männer, wenn auch nur die Männer der großen Welt, denn das sind die einzigen, die ich kenne, meine, die Frau ist und bleibt dankbar für Liebe, selbst wenn sie sie nicht erwiedern kann. Der Mann hingegen nicht, oder wenigstens ist dies Gefühl des Dankes bei ihm nur vorübergehend. Die Frau, die einen Mann liebt, wird, wenn er sie wieder liebt, ihm ihr edleres Selbst zeigen. Der Mann, der liebt, wird von dem Augenblicke an, wo er sich wieder geliebt weiß, in jeder Liebenswürdigkeit nachlassen.«

»Woher hast Du alle diese Erfahrungen?«

»Bedenke, daß seit meinem Eintritt in die Welt sich wohl zwölf meiner Freundinnen und Gespielinnen verheirathet – wohl eben so viele – nicht verheirathet haben, und an beiden habe ich die besten und traurigsten Studien über die Männer gemacht, – drum kann ich keinen lieben!«

Ihr Vater sagte nichts, aber er dachte, sie sei doch eben sehr nahe daran gewesen. Er schrieb dieser Gefahr auch ihre bitteren Bemerkungen über die Männerwelt zu, that aber unrecht daran, weil Agnes, was sie eben geäußert, schon lange gedacht und geurtheilt hatte – daß sie dies Urtheil eben ausgesprochen, daran war freilich ihre Aufregung schuld. Solch falsche Beurtheilung wird aber beinahe jedem Gekränkten zu Theil, wenn er sich eifrig ausspricht; dann sagen immer die Andern: »Das sagen Sie jetzt, weil Sie gereizt sind.« Man sagt es deshalb, ja – aber gedacht hatte man es nichts desto weniger doch längst.

 

Agnes begann jetzt ein neues Leben, das einer unnachlassenden Thätigkeit. Sie malte, sie spielte Klavier, sie übersetzte aus den ihr bekannten Sprachen, kurz sie beschäftigte sich, als wolle sie nächstens ihr Brod als Gouvernante verdienen. Nach acht Tagen hatte sie es aber auch wirklich dahin gebracht, daß ihre Gedanken, denen sie so gar nicht nachgegeben, ihr nachzugeben anfingen und ruhig bei ihren Arbeiten verweilten. Sie sah Waldheim gar nicht in dieser Zeit, denn sie verließ das Haus nur, um mit ihrem Vater einen kurzen Spaziergang zu machen. Emma hatte einen Besuch auf längere Zeit und war deshalb auch wenig sichtbar.

Vierzehn Tage nach dem Hofball fühlte sich Agnes schon wieder so sicher und ruhig, daß sie ihren Vater bitten wollte, eine Einladung anzunehmen, die für den folgenden Tag einlief. Als sie in sein Zimmer kam, fand sie ihn in ungewöhnlicher Aufregung auf- und abgehend.

Er fragte nicht, was sie wünsche, sie theilte ihm unaufgefordert ihr Anliegen mit.

»Ausgehn – in Gesellschaft – unmöglich, unmöglich!« rief er abgebrochen. »Laß uns entschuldigen und dann komme wieder.«

Agnes wurde heftig beunruhigt; so erinnerte sie sich nicht, ihren Vater je gesehn zu haben.

Als sie zurückkam und neben ihm saß und ihm in die Augen sah, erschrak sie über den Ausdruck seiner Züge.

»Liebster, bester Vater! was ist Dir?«

»Mir ist weiter nichts, mein Kind, als daß man mich mißbraucht hat! Und welch größeren Schmerz, welche größere Demüthigung kann es für einen Mann geben, als mißbraucht worden zu sein! Im besten Glauben habe ich mich dem ganzen Lande gegenüber zum Gegenstande des Spottes, laß mich nicht sagen der Verachtung, machen lassen!«

»Du ängstigst mich grenzenlos. Was ist es denn?«

»Du weißt, daß das Finanzministerium mir für die zweite Kammer den Bericht über den Staatshaushalt der letzten Finanzperiode übertragen hat. Vor acht Tagen nun habe ich mich dieser Pflicht – wie es schien, zu allgemeiner Zufriedenheit – entledigt. Unter den Rechnungsposten war einer von fünfzig tausend Gulden als: besondere Ausgaben für das Landesgestüt in H. angesetzt.

Heute nun, kaum habe ich den Sitzungssaal der Kammer betreten, so steigt der Abgeordnete Schmidt aus L. auf die Tribüne und beweist haarklein, daß von jener Summe von fünfzig tausend Gulden nicht ein Pfennig nach H. gewandert, sondern Alles vom Oberstallmeister von Werdegg für den Ankauf unnützer Wettrennpferde in England, die in den hiesigen fürstlichen Marstall gekommen sind, verausgabt worden sei.

Die Sache wurde durch den Stallmeister von Metten, welcher der oberste Beamte des Landesgestütes ist, verrathen. Metten wollte die im vorigen Jahre erledigte Stallmeisterstelle am Hofe haben, wurde aber, weil er von neuem Adel ist, abgewiesen und Graf Horn dazu ernannt. In seinem Zorn über diese unverdiente Zurückweisung (denn er versteht sein Fach von Grund aus, während Graf Horn nur zwei Jahre Cavallerieoffizier gewesen ist und nicht einmal ordentlich reiten kann), erklärte Metten an öffentlichen Orten, nachdem er den Finanzbericht in der Zeitung gelesen, daß jene fünfzig tausend Gulden ganz dem Oberstallmeister übergeben worden, um auf der Insel Alsen beim Herzog von Augustenburg und in England Rennpferde zu kaufen, während die nothwendigsten Ausgaben ihm nicht gedeckt worden seien.«

»Aber der Finanzminister hat das vielleicht nicht gewußt?«

»Freilich, Metten ist damals, als er von dem beabsichtigten Ankauf für den hiesigen Marstall hörte, bei ihm gewesen und hat ihn gebeten, die Summe zu theilen und ihm wenigstens fünf und zwanzig tausend Gulden zur Disposition zu stellen, indem für das ihm anvertraute Landesgestüt dringende Ausgaben nothwendig seien, aber er hat zur Antwort erhalten: ›Sie können noch warten!‹ Dann hat man noch den alten Mann unbesonnener Weise beleidigt und Allem die Krone aufgesetzt, indem man die Kammer belog und jene Lüge gedruckt ins ganze Land schickte – und ich – ich mußte mich für den Hof blamiren!«

Er stand auf und die Hand am Kinne ging er heftig auf und nieder.

»Willst Du nicht zum Finanzminister gehen, vielleicht –«

»Ich habe ihn schon gesprochen. Ich traf ihn in seinem Thorwege, als er gerade zum Fürsten fahren wollte. Weißt Du, was er auf meine bringenden Fragen, auf meine heftigen Beschwerden geantwortet hat?

Lieber Stein, sagte er ganz gemüthlich lächelnd, ich habe den Schmidt mit seiner Interpellation an Sie, als den Berichterstatter, gewiesen. Wer hätte gedacht, daß der Metten so giftig wäre! – Nun ist nichts mehr zu ändern, und ich bitte Sie nur, nach Hause zu gehen und zu überlegen, wie man die Schreier am besten auf den Mund schlägt. Vielleicht, indem man den Metten Lügen straft und pensionirt? Fort muß er auf jeden Fall! Nun, bedenken Sie es selbst und sagen Sie mir morgen vor der Sitzung, was Sie ausgeheckt; für einen Mann von Geist ist es ja eine Kleinigkeit, eine Hinterthüre zu brechen!

Und mit diesen Worten stieg er in seine Carosse und fuhr davon. Ich kann Dich versichern, Agnes, ich habe mich geschämt, über die Straße zu gehen; ich dachte, jedes Kind müßte mich auslachen und jeder Mann – verachten.«

»Vater, mein Vater, mein theurer Vater, sage so etwas nicht! Ich kann das nicht hören!« Agnes brach in Thränen aus.

Bei diesem Anblicke seinen eignen Schmerz vergessend, nahm der Geheimerath sie in den Arm und küßte ihre Stirne.

»Sei ruhig, mein Kind! Morgen, wenn die Sonne sinkt, ist Deines Vaters Ehre wieder so rein vor dem ganzen Lande wie die Sonne selbst.«

»Was willst Du thun?«

»Mich zum ehrlichen Manne und – zum Bettler machen.«

»Vater!«

»Fürchte für Dich nicht. Mein eigenes Vermö gen habe ich freilich zugesetzt, aber Dir bleiben Deine zwanzig tausend Gulden Heirathsgut. Zehntausend brachte mir Deine Mutter – ich habe nichts davon angerührt, nicht Zinsen, nicht Capital – und so haben sie sich natürlich verdoppelt; und sind zwanzigtausend Gulden nicht ein hübsches Vermögen für die Tochter eines Bettlers?«

»Lieber Vater, rede nicht in diesem bittern, herzzerreißenden Tone; sprich in Deiner gewohnten, sanften, ruhigen Weise, oder Du machst mich verzweifeln.«

»Nein, mein Kind, meine Agnes, mein Alles, das mußt Du nicht. Habe ich nicht Dich? Hast Du nicht mich? Sind wir nicht Beide gesund und Beide ehrlich, was auch die Welt von uns sagen mag?!«

»Also auch mich verläumdet die Welt! Was ist's, was sie sagt? Verhehle mir nichts, ich kann jede Wahrheit ertragen, wenn sie aus Deinem Munde kommt.«

»O nichts! Ich hätte Dir nichts verrathen sollen, aber die Aufregung! Da bleibe einer Herr seiner selbst!

Es ist ein elendes Geschwätz, von einem guten Freund mir hinterbracht. Ich soll zum Prinzen Waldheim gegangen sein und ihn zu einer ›Erklärung‹ in Beziehung auf Dich aufgefordert haben; ich habe aber bei diesem Besuche in jeder Tasche ein Pistol gehabt! Der Prinz soll nach langen Ausflüchten sich erboten haben, eine schriftliche Versicherung zu geben, daß er nach dem Tode seines Vaters, früher auf keinen Fall, Dich an die linke Hand Morganatische Ehe: im europäischen Hochadel bis zum Beginn des 20. Jhs. Bezeichnung für eine nicht standesgemäße Ehe, bei der die vermögens- und erbrechtliche Stellung der unebenbürtigen Frau und der Kinder durch einen Ehevertrag festgelegt wurden. Auch Ehe zur linken Hand genannt, weil die Frau bei der Trauung an der linken Seite des Mannes stand. Mit dieser besonderen Eheform konnte sich die Familie des Bräutigams gegen die Aufnahme der »niedrigen« Braut und der aus dieser Verbindung hervorgehenden Kinder in ihren Clan wehren. Da die Frau wie die Kinder ihren geringeren Stand behielten und dem Gatten bzw. Vater gegenüber nicht erbberechtigt waren, blieb diesen »Nichtgewollten« der Weg in die höheren Gesellschaftsschichten verschlossen. – Anm.d.Hrsg. sich antrauen lassen wolle! Wie findest Du das?«

»Was lassen mich die Leute dann thun?«

»Beleidigt werden.«

»Wirklich! Das hatte ich ihnen nicht zugetraut; für diese ehrenvolle Meinung muß ich mich eigentlich beim Publikum bedanken.«

»Warte nur noch. Sie lassen Dich beleidigt sein, aber nur zum Schein – zum Schein, um den Prinzen zu zwingen, das Eheversprechen auf die rechte Hand zu stellen – gelingt das nicht, eh bien, bis der alte Fürst Waldheim stirbt, wird auch Fräulein von Stein bescheidener.«

»O wie sind die Männer so glücklich!« rief Agnes in einem Ausbruch gekränkten Ehrgefühls. » Sie können ihre verläumdete Ehre, ihren angetasteten Ruf rein waschen, mündlich, schriftlich, im Druck, ja wenn es sein muß, mit Blut! Und wir, was können wir thun? Reden wir nur mit Freunden von solch einer Stadterfindung, so sagen Alle: ›Stille, stille, qui s'excuse s'accuse!‹ und wo wir hintreten, sehen wir höhnische Blicke, hören boshafte Anspielungen und dürfen nicht einmal blaß und roth werden, sonst heißt es: ›Sehn Sie, wie ihr das Gewissen schlägt! Sie wird blaß, sie wird roth – die Sache muß doch arg sein. Wenn ich die Mutter einer Tochter wäre, ich würde sie, sobald sie erwachsen, in einen Thurm sperren, oder in einen Urwald verbannen – die Gesellschaft wilder und giftiger Thiere ist für ein junges Mädchen weniger unheilbringend als die solcher giftiger Menschen.‹«

Durch die Heftigkeit seiner Tochter war der Geheimerath, wie das immer der Fall zu sein pflegte, ruhig geworden. Er sagte schmerzlich lächelnd, indem er sie neben sich niederzog:

»Und hast Du nie darüber nachgedacht, liebe Agnes, woher es kommt, daß solche lügenhafte Stadtgeschichten das Licht der Welt erblicken?«

»Nein,« sagte sie ungeduldig.

»Daran ist nichts Anderes schuld, als daß die Menschen so überaus klug sind.«

»Wie so?« fragte Agnes trotz aller Aufregung gespannt.

»Ja, daß sie so überaus klug sind. Alles müssen sie begreifen, Alles verstehen, Alles erklären, und zwar natürlich immer auf die interessanteste Art. Sie haben gesehen, daß Waldheim in Dich verliebt war, Dir den Hof gemacht hat, auch von Dir freundlich behandelt wurde.

Da haben sie in ihrer Superklugheit gedacht: ›Das stolze gnädige Fräulein will eine Durchlaucht werden!‹

Darauf haben sie gesehen, daß Du bei der Schlittenparthie ihn aus Stolz in sein Unglück rennen ließest, da haben sie wieder den Finger an die Nase gelegt und gesagt: ›Er hat ihr noch keinen Heirathsantrag gemacht und deshalb ist sie vorsichtig.‹ Darauf hast Du ihn bei seiner Rückkehr freundlich empfangen, weil Du Deinen Stolz bereutest, nachdem er so üble Folgen gehabt; sie aber haben erklärt: ›Sie ist ihm freundlich, weil sie gefürchtet hat, er möchte ihr entwischen, wenn sie die Saiten zu hoch spannte‹ – und nun hast Du mit einem Male die guten Leute, die in Deinem Herzen so vortrefflich Bescheid wußten, durch Dein plötzliches Zurückziehen von Waldheim, ja durch Dein offenbares Brechen mit ihm ganz confus gemacht, indem Du nirgends mehr in Gesellschaft erschienst, wo er war, und doch alle Tage mit Deinem Vater spazieren gingst.

Wie sollten sie sich das erklären? So kluge Leute konnten doch nicht eingestehen, daß sie etwas nicht begriffen? Da sie aber mit den gewöhnlichen Auslegungen nicht ausreichten, mußten sie eine ungewöhnliche Geschichte erfinden, und weil man weiß, wie lieb ich Dich habe, mußte ich in der Comödie mitspielen, das ist Alles. Siehst Du, liebe Agnes, wenn man eine Zeit lang in der Welt gelebt hat, kann man bei Allem, was sich ereignet, genau voraussagen, in welcher Weise verkleidet es als ›Thatsache‹ in der chronique scandaleuse figuriren wird, wenn die Sache auch an sich durchaus nicht skandalös ist alles Außergewöhnliche stempelt die Welt dazu – das ist ihre Rache dafür, daß sie nur die ›gewöhnliche Welt‹ ist.«

Der Geheimerath hatte vollkommen erreicht, was er durch seine Erklärung bezweckte. Agnes war dabei ruhig geworden und hatte wieder den Standpunkt eingenommen, zu dem ihre reine Natur sie berechtigte. Sie ging an ihr Clavier und ihr Vater an seinen Schreibtisch, um die Rede auszuarbeiten, die er morgen vor der Kammer halten wollte.



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