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I.
Agnes.


Erstes Kapitel.


Die Heldin unserer Geschichte, Agnes von Stein, war ein einziges Kind und besaß in vollem Maaße alle Vorzüge und alle Schwächen eines einzigen Kindes. Weil man ihr aus übergroßer Nachricht nie Zwang angethan, hatte ihre Natur sich frei entwickelt, und ihre kräftige Seele war wie ein unbeschnittener Baum in einem Urwalde der Tropenländer. Weil sie keine Brüder besaß, hatte nie ein roher Knabenscherz ihr jungfräuliches Ohr entweiht und ihr Gemüth war rein geblieben wie die Perle in der Schaale; weil nie ein anderes Wesen ihr vorgezogen worden, kannte sie keinen Neid, keine Eifersucht, und weil man ihr Alles gewährt hatte war Schenken und Geben ihre Seligkeit.

Das sind die Vorzüge; wir kommen zu den Schwächen. Eben auch weil man ihr Alles gewährt, erschien ihr jedes Entsagen als ein Unglück; weil man ihr als Kind Niemand vorgezogen, dachte sie auch später nicht an die Möglichkeit zurückgesetzt werden zu können, und weil ihre Seele sich frei, ohne gemeistert zu werden, entwickelt, hatte sie auch nicht gelernt, ihre Einbildungskraft zu zügeln, bei ihren Urtheilen behutsam tiefer zu blicken, als es der erste Anschein ihr eingab, und dem verführerischen Zuge der Extreme gegenüber die große Lebenskunst des Maaßhaltens zu üben: natürlich entstand daraus, daß sie trotz ihrer großen Gutmüthigkeit oft vollkommen ungerecht sein konnte.

Sie war ohne die Leitung einer Mutter aufgewachsen, da sie dieselbe bei der Geburt verloren hatte, und allein von einem Vater erzogen worden, der sie, schön, talentvoll und liebenswürdig wie sie war, vergötterte.

Agnes war jetzt, unsere Erzählung beginnt mit dem Jahre 1840, ein und zwanzig Jahre alt, und obgleich sie seit ihrem fünfzehnten Jahre als völlig erwachsen in der Welt erschienen war und viel mit Männern verkehrt hatte, war dennoch ihr Herz von jeder Neigung ganz unberührt geblieben. Der Grund davon lag vielleicht nur darin, daß man ihr zu viel Huldigungen entgegen getragen, zu viel Neigung gezeigt; wohin sie blickte, war ein Bemühen, ihr Herz zu erlangen, und deshalb schloß dies eigensinnige Herz sich zu.

Daß man sich so um sie bemühte, war eigentlich sehr auffallend; denn es gab in ihrem Lebenskreise Viele, die schöner waren, Viele, die auch die Tochter eines Geheimenraths oder Freiherrn, und noch unendlich Mehr, die reicher waren als Agnes. Der Grund konnte allein in einem durchaus ungewöhnlichen Wesen liegen, das auch hier jenen Zauber hatte, den es immer ausübt; und dann in noch etwas: man fühlte nämlich, wenn man Agnes öfter sah, daß sie eine große Glücks- und Leidensfähigkeit besaß; sie gehörte zu den wenigen Charakteren, die aus einem Uebermaaß an Glück wie an Schmerz sterben können; diese Fähigkeit hat für fühlende Menschen, für feurige Seelen etwas ganz Unwiderstehliches. Sie verrieth sich aber bei Agnes, wie das immer geschieht, ganz unbewußt, was ihre sympathetische Kraft noch verstärkte.

Aber nicht nur daß Agnes Alles doppelt stark wie gewöhnliche Menschen fühlte, sie hatte auch, wenn sie mit Andern zusammen war, gar keinen Begriff, daß diese nicht eben so lebhaft empfänden, diese sich nicht auch im ewigen Wechsel von Ebbe und Fluth der Gefühle befänden wie sie; und dadurch daß sie jedem Anwesenden ihre eigne Wärme der Empfindung zutraute, erhielten ihre Mittheilungen, ihre einfachsten Erzählungen die anziehendste Lebensfrische. Dazu ihre un schuldigen belebten Augen, der ewig wechselnde Ausdruck ihrer Züge, der charaktervolle rothe Mund: wer hätte ihr nicht gerne zugehört, stundenlang, wäre es auch nur gewesen, um ihr bewegtes Antlitz anzusehn!

Zu Agnes liebenswürdigsten Eigenschaften gehörte, daß sie ganz und gar aller persönlichen Eitelkeit ermangelte; sie dachte nie an ihr Aussehen – nie mehr an ihren Anzug, wenn sie ihr Ankleidezimmer einmal verlassen. Hörte sie im Vorübergehn, wie Jemand sagte: Was das für ein schönes Mädchen ist, so freute sie sich, aber nur – weil sie es ihrem Vater erzählen konnte.

An dem Abende, an welchem unsere Erzählung beginnt, hatte sie längere Zeit als gewöhnlich zu einem Ballanzuge verwendet, denn ihr Vater hatte ihr empfohlen, sich zu dem großen Hoffeste besonders schön zu schmücken, weil man es ihr verargen könne, wenn sie so einfach wie gewöhnlich erscheine.

Einfach war sie aber doch, weiß wie immer, einen Kranz von natürlichen Blumen im dunklen Haar, das sie nach griechischer Art in einem schweren Knoten am Hinterkopfe aufgenestelt trug; nur hatte sie heute ungewöhnlich feine und duftige Gewänder und zwar mehrere über einander wie bei der Antike angelegt, und am Busen und an den aufgefaßten Aermeln trug sie drei römische Cameen, die ihr Vater ihr aus Italien mitgebracht hatte.

»Du siehst ja aus wie eine Vesta, mein Kind,« sagte der Geheimerath, als er sie in ihrem Zimmer abholte.

»Das ist nichts als Zufall, liebster Vater; die Aermel waren zu lang gerathen, da mußte ich sie aufnesteln; an eine Göttin habe ich dabei nicht gedacht, wohl aber an einen Gott, einen Gott in einer ganz prächtig gestickten, blendenden Geheimeraths-Uniform!«

Und dabei warf sie sich auf so lebhafte Art an den Hals ihres Vaters, daß seine Orden und ihre Crepp-Aermel in eine unzertrennliche Allianz kamen, welche die alte Kammerfrau endlich kopfschüttelnd lösen mußte.

Ihr Wagen war einer der letzten unter dem Portale des Schlosses. Sie durchschritten rasch die Vorgemächer, um dann die Zimmer zu betreten, in welchen sich die Gäste nach ihren verschiedenen Rangclassen halten mußten. Im ersten bildeten alle Herren, die sich nicht mit dem Kammerherrnschlüssel oder den Oberstenepaulettes schmücken konnten, Spalier; im zweiten schon mußte Agnes bleiben, denn hier befanden sich die ranglosen Fräulein oder wie sie selbst sich nannten, die Parias; im dritten Zimmer weilten die verheiratheten Damen und die Stiftsfräulein unter dem Schutze der Kammerherren und Obersten. Im vierten und letzten endlich hatte der Geheimerath seine Stätte gefunden; hier war in ernster, vom höchsten Range gesättigter Würde Alles versammelt, was sich zur Excellenz aufgeschwungen oder was als Standesherr geboren war.

Die Flügelthüren, welche aus dem vierten Zimmer nach den »innern Appartements« führten, sprangen auf und unter dem Vortritt des Oberhofmarschalls mit dem Stabe, der mit einer unbeschreiblich ernsten Miene sich bewegte, erschienen »die höchsten und hohen Herrschaften« paarweise auf der Schwelle. Herrn von Stein, der ganz hinten in einer Ecke bei einem alten Generale stand, erschien plötzlich das Zimmer um einige Fuß höher – das kam einfach daher, weil beim Eintritt der fürstlichen Familie, die der Geheimerath wegen der Köpfe der vor ihm Stehenden nicht gewahren konnte, alle Anwesenden sich um die Hälfte ihrer Körperlänge verkürzten.

Die Fürsten sagten fast Jedem etwas möglichst Angenehmes und nahmen dann mit ihrem Gefolge die erhöhten gewöhnlichen Plätze im Tanzsaal ein, während die Musik schon begonnen.

Wunderbarer Weise war heute Agnes noch zu keinem einzigen Tanze versagt, denn sie war zu spät gekommen, und es ergötzte ihr fröhliches Herz, daß sie heute den ersten Tanz vielleicht schon »pausiren« müsse und also allein nach dem Tanzsaal gehen sollte, während alle übrigen jungen Mädchen von ihren Tänzern geführt siegesfroh an ihr vorüber dahin schritten.

Als sie sich eben zu dem schweren einsamen Gang, der von allen jungen Mädchen als eine Art Schmach betrachtet wurde, anschicken wollte, trat ihr Vater zu ihr heran, neben ihm ein junger Mann in der scharlachrothen Uniform der Johanniter. Außer dem weißen gestickten Kreuz trug er noch einen Stern auf der Brust. Es war also ein Prinz, denn so jung wie dieser Mann noch war, haben andere Menschen noch keine Verdienste.

»Mein Kind, Seine Durchlaucht der Erbprinz Albert von Waldheim wünscht Dir vorgestellt zu werden.«

Agnes sah auf und wurde dunkelroth, nicht aus Verlegenheit, sondern nur aus Ueberraschung plötzlich ein so schönes Gesicht vor sich zu sehen, und der Ausdruck ihrer Augen sprach diesen Gedanken so naiv aus, daß ihn der Prinz sogleich herauslas und darüber ebenfalls roth wurde, aber mehr aus Freude als aus Ueberraschung.

»Haben Sie noch einen Tanz frei, mein gnädiges Fräulein?«

»Alle, mein Prinz.«

»Darf ich dann um den ersten bitten?«

Sie neigte lächelnd ihr rosiges Haupt.

»Ich muß Ihnen aber vorher bekennen, daß ich ein schlechter Tänzer bin; ich kann nie den rechten Tact treffen, immer zu langsam, immer hinterher.«

»Das ist ein ächt fürstlicher Fehler,« lachte Agnes. –

»Ich bin nur ein mediatisirter Fürst Die Mediatisierung (›Mittelbarmachung‹) von 1803 und 1806 bedeutete die Eingliederung der bisher reichsunmittelbaren Reichsstände und Adligen in die neuen deutschen Bundesstaaten; damit verloren sie ihre Souveränitätsrechte und wurden standesherrlich größeren Territorien ein- und untergeordnet; als Standesherren blieb ihnen die Ebenbürtigkeit mit den weiterhin souveränen Häusern erhalten. – Anm.d.Hrsg., habe also nicht die Vorrechte« –

»Das thut nichts; ich meine, es thut nichts, daß Sie langsamer tanzen, ich habe glücklicherweise eine ächte Unterthanen-Natur, nämlich mich in Alles finden zu können – auch in einen falschen Tact, – es wird schon gehen.«

Und es ging vortrefflich; Niemand bemerkte, daß die beiden ein langsameres Tempo durchführten, im Gegentheil, man bewunderte das schöne Paar.

Am Schlusse des Balles tanzte Agnes noch einmal mit dem Prinzen, und es machte ihr Vergnügen. Er hatte während einer Pause ihr längere Zeit die Unterhaltung gemacht und ihr ins Gedächtniß zurückgerufen, daß er sie als kleines Kind einmal in einem Badeort gesehn. Sie erinnerte sich dessen und setzte ihn etwas in Verlegenheit, indem sie ihm erzählte, wie hochmüthig er damals gewesen, wovon sie ihm einige komische Beispiele anführte. Dann sprachen sie über Bücher und sie wunderte sich über seine Belesenheit in der deutschen Literatur.

»Ich verstehe, mein Fräulein, Sie meinen, unsereins lese nur Französisch. Leider Gottes habe ich das auch sehr viel gethan, der schlechteste Roman Paul de Kocks Charles Paul de Kock (1793-1871), französischer Romanschriftsteller und Dramatiker. Mit seinen pikanten, oft etwas frivolen Darstellungen der Sitten und Gebrechen der Pariser Gesellschaft wurde Paul de Kock der Liebling des französischen und in den kommenden Jahrzehnten auch des europäischen Leihbibliothekenpublikums. – Anm.d.Hrsg. war mir nicht zu schlecht; aber deshalb eben bin ich jetzt gründlich geheilt zu meinem Vaterland zurückgekehrt.«

»Also Sie lesen viel?«

»Ich habe weiter nichts zu thun. Mein Vater regiert seine anderthalb halben Unterhanen – die andre Hälfte gehört ja dem Landessouverain – und das füllt kaum seine Zeit aus, da er anstandshalber noch drei Beamte daran muß Theil nehmen lassen. Sie können sich denken, gnädiges Fräulein, wie man die armen halben Unterthanen breit schlägt, damit sie ausreichen.«

Agnes sah ihn lachend und verwundert an, diese Selbstironie war ihr bei Männern seines Standes noch nicht entgegengetreten und zog sie schon um der Seltenheit willen an.

»Sie sollten in Militairdienste treten, Prinz.«

»Um mich jetzt im tiefen Frieden der Menschheit nützlich zu machen?« fragte er laut lachend. »Ach liebes Fräulein, ich habe eine eigne Anschauung der Dinge und ich kann mich nicht so sans rime et sans raison unter bestimmte Verhältnisse beugen, ja selbst nicht einmal einen bestimmten Rock anziehn! Sie sehen lächelnd auf meinen Johanniterrock; das hat seine eigne Bewandtniß! Mein gnädiger Papa will sonst durchaus, daß ich seine Hofuniform trage, und da werden Sie doch zugeben, daß diese besser ist.«

»Ich? Ich gebe Alles zu; jedes Vorurtheil, jede Manie, jede Eigenheit. Nur muß eine solche Eigenheit nicht die eines Andern durchkreuzen. Jeder hat ein Recht, ein Sonderling auf eigne Kosten zu sein, aber einzig und allein auf eigne.«

»Halten Sie mich für einen Sonderling?«

»Ja, obgleich ich Sie heute Abend zum ersten Male seit unserer Kindheit sehe.«

Er fragte weshalb? aber Agnes wollte sich nicht erklären und zog eine andere Dame in das Gespräch.

Ihre Meinung war, daß des Prinzen Sonderlings-Eigenschaft darin bestehe, das Lächerliche eines Erbsenprinzen (wie man in einem Theile Süddeutschlands die kleinen mediatisirten Fürsten nennt) wohl zu fühlen, aber indem er das Lächerliche seiner Stellung selbst hervorhob, seine Person davon befreien zu wollen, und ferner in dem Streben sich durch eine vielseitige Bildung eine andere Stellung geben zu wollen. Für einen vier und zwanzigjährigen Prinzen war das allerdings eine Sonderlings-Eigenschaft.

So gut wie an diesem Abende hatte sich übrigens Agnes lange nicht unterhalten. Ihr Vater, der nach jedem Balle noch zu Hause mit ihr eine Tasse Thee zu trinken pflegte, sprach mit ihr, als sie zurückgekehrt waren, von dem jungen Prinzen; auch ihm gefiel er. Für einen mediatisirten Fürsten fand auch er ihn anspruchslos, da gewöhnlich, sagte Herr von Stein, diese doppelte Forderungen machen zu müssen glauben, um wenigstens darin ihre Ebenbürtigkeit mit Kaisern und Königen zu beweisen. Bei dem Prinzen Albert sei die Vernunft besonders anzuerkennen, weil sein Vater von Hochmuth strotze. Vielleicht habe aber diese Thorheit des Vaters eben dem Sohne die Augen geöffnet. Er erzählte seiner Tochter noch viel von den Verhältnissen des Waldheimischen Hofes. Dieser war übermäßig verschuldet, so sehr, daß die Hofhaltung sich die ärgsten Einschränkungen auflegen mußte. Der regierende Fürst, Alberts Vater, der durch den unsinnigsten Aufwand diese Verhältnisse herbeigeführt, hatte sich aber durchaus nicht dadurch beugen lassen, er trug sein Haupt noch eben so hoch und nannte mit eben so stolzer Betonung den herbeigerufenen Arzt aus dem nächsten Städtchen: Herr Leibarzt, als ob der seinige, der gestorben und wegen mangelnder Fonds zur Besoldung nicht wieder ersetzt worden war, noch vor ihm stände.

An den Hof des Landesfürsten kam er nie, weil er nicht nach »seines Gleichen« rangiren wollte; auch daß sein Sohn es that, war eigentlich gegen seine Grundsätze, doch duldete er es: ›da dieser als junger Mann es sich schon eher dem alten Landesfürsten gegenüber gefallen lassen könne.‹

Agnes lachte herzlich über diese Geschichten, aber der junge Mann hatte dadurch nichts in ihren Augen verloren, im Gegentheil, die Rococo-Umgebung verlieh dem ihr vielleicht sonst zu modernen Prinzen einen romantischen Reiz.



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