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Sechsundzwanzigstes Kapitel

§§§Die Handschrift

Die Menschheit ist aus Nacht und Grauen mühselig heraufgestiegen. Der Aufstieg hat viele hunderttausend Jahre gedauert. Hunderttausend Jahre lang sind die Menschen wie Füchse in wald- und baumlosem Land gewesen: In Furcht und Höhlen, in wachem Schlaf, in schlauem Anschlich, in wildem Ansprung. Sie lebten nicht anders wie Tiere und wußten auch nicht, daß sie etwas anderes wären.

Allmählich, im Lauf neuer Jahrhunderttausende, bildeten und drängten die besonderen Fähigkeiten ihres Körpers, besonders die Form ihrer Hände, die Menschen über die anderen Tiere hinaus. Allmählich, zweifelnd, kam dem einen und dem anderen, dem Klügsten und Tapfersten, diese Erkenntnis. Es hat wohl wieder hunderttausend Jahre gedauert, ehe sie alle merkten: es ist ein Unterschied zwischen Menschen und den Tieren. Und der Mensch wird ihr Herr werden.

Aber lange, lange noch war es dunkel und wirr in ihren Seelen, wie in Tierseelen. Sie erschraken, wie Tiere erschrecken: vor Wind und vor spiegelndem Wasser, vor Dunkel im Wald und vor Donner und Blitz. Alles, was um sie war, schien ihnen voll von unheimlichen Wesen. Es wußte noch keiner von ihnen, was gut und böse war; sie kannten nur: fürchten und nichtfürchten, stark und schwach, siegen und unterliegen.

Von der Mitte Asiens in Horden und Stämmen auswandernd, so wie Sperlinge ausziehen und sich breiten, immer mehr werdend, eine Horde die andere vor sich herjagend, zuletzt, so einander treibend, über die ganze Erde sich ausbreitend, kamen sie in verschiedene Länder und unter verschiedene Sonnen.

Viele Stämme kamen unter heiße, schlaffmachende Sonne, andere kamen in Vereinsamung, andere in eisige Todeskälte: da verfaulten oder verkümmerten oder erstarrten sie. Viele von diesen Stämmen und Völkern sind schon hunderttausend Jahre vor unserer Zeit untergegangen; andere sind noch in diesen unseren Zeiten, in Australien und Amerika und Afrika, dabei, zugrunde zu gehen.

Viele andere Horden und Völker aber kamen in Gegenden, wo Sonne und Wind, Meer und starke Nachbarschaft, Weizen und Wein ihnen Kraft und Fortschritt aufdrängte. Sie hoben mehr und mehr den Kopf; ihre Augen wurden heller; ihre Stirnen edler. Langsam und mühselig wich die Angst vor der Natur. Die Mutigsten griffen tapfer und lachend in das Dunkel, so wie unter bangen Kindern, die allein im Hause sind, das mutigste sich in die dunkle Ecke wagt. Die Gespenster wurden noch lange gefürchtet, und mit Bitten und Gaben um Erbarmung gebeten; aber allmählich, ganz allmählich, sowie die Menschen stärker gegenüber der Natur wurden, wurde die Phantasie freundlicher. Die bösen Geister wichen zurück und wurden ein wenig machtloser. Es kam, schüchtern, mühsam, ein leiser Glaube an gütige Geister auf. Es kam eine schwankende Ahnung, daß nicht der Starke recht hätte, sondern der Gute. Das böse Gewissen kam auf, dies inwendige Licht. Und als dies Licht leise entglomm, da wurde der Weg der Menschheit heller. Sie hatten nun einen Wegweiser; sie konnten nun nicht ganz verirren, und sie konnten nun weit, weit kommen, wer weiß wie weit.

Wiederum war es nicht das ganze Volk, die Masse, die gemeinsam diesen Schritt nach vorne tat, sondern in einzelnen Menschen wurde es hell. Wie wenn das Meer leise wogt, grau und bläulich weithin die ruhigen, unruhigen Wellen; aber plötzlich schießt an einer Stelle ... sieh da ... nun da ... eine höhere Welle auf; sie schlägt hoch, und läuft schön mit ihrer silbernen Krone, und fällt über ihre eigenen Füße: so hoben sich diese Männer auf, diese einzigen echten Kronenträger in der Menschheit, und fielen wieder ... ja ... über ihre eigenen Füße.

Kümmerlich waren die ersten Schritte in dieser Morgendämmerung. Die ältesten Namen sind uns nicht bekannt. Man verstand noch nicht die Kunst des Schreibens. Erst da die Schrift anfängt, wissen wir einige Namen dieser heiligen Helden. Die Perser brachten Zarathustra hervor; die Chinesen Kongtse; die Inder Buddha; die Hebräer Moses, Elias, Jesaias, Jeremias; die Griechen Äschylus, Sophokles und Plato. Alle diese haben mühsam und einsam in ihrem ganzen Volk gestanden und haben wegen ihres voraneilenden Zutrauens hart leiden müssen. Viel Hartes, Dunkles, Kindlich-Wirres, Wildes ist noch in ihnen; doch steigen einige in lichten Stunden auf, zu herrlicher, holder Erkenntnis, welche die Menschheit niemals überbieten wird: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da.« »Wenn ich nur dich, Gott, habe, frage ich nichts nach Himmel und Erde.«

Danach, als alle diese Männer dahin waren, kam eine Zeit der Stille. Denn in Wogen, auf und ab, geht die ganze Schöpfung. Die Volkskraft, wie erschöpft, brachte keine heiligen Helden mehr hervor. Jedes Volk stand, still und steif, und hielt das Erbe jener hohen Geister in verschlossener Hand; und die Mittelmäßigkeit wachte, daß die Hand ganz fest geschlossen war. Da wurde das Erbe in der Hand dumpf und fing an zu schimmeln. Diese dumpfe Stille dauerte lange Jahrhunderte. Da war kein Wind und keine Welle im Völkermeer; und es war, als wenn die Menschheit faulen würde.

Aber da zuckte über die Völker, die ums Mittelmeer wohnten, ein wildes Schwert auf. Die Römer, nicht feinen Geistes, nicht Wahrheitssucher, nicht Grübler, sondern kalte Rechner, Wirklichkeitsmenschen, machten sich alle Völker untertan. Sie schoben und zerrten alles durcheinander. Sie schoben und zerrten auch die alten, feinen Grüblervölker: die Ägypter, die Hebräer, die Griechen, die Perser, die Germanen.

Da entstand, in diesem Gereibe der zerwühlten Völker, ein greuliches Durcheinander von Meinungen. Sowie an der Stelle im Strom, wo sieben Auen und Siele zusammenlaufen, das Wasser wirrt und wühlt: so wirrte und wühlte allerlei Glaube. Da gingen die Menschen zu den Philosophen und fragten: »Was meint ihr?« Die andern liefen zu einer sinnlich wilden Feier griechischer Priester: »Natur, Natur! Mehr bist du nicht, o Mensch.« Am andern Tag knieten sie vor dem Bild einer ägyptischen Göttin. Die einen sahen anbetend zu dem Steinbild des römischen Kaisers auf und suchten in den harten und rohen Herrscherzügen vergebens heilige Menschenwürde. Dieselben gingen am Freitag zu dem germanischen Soldaten und ließen sich erzählen, wie man in seiner Heimat unter den Buchen Donar und Wodan lobte. Am Sonnabend aber standen sie mit bedeckten Häuptern in der jüdischen Synagoge und horchten, wie der Lehrer aus dem alten Buch vortrug: »Halte meine Gebote. So wird es dir wohlgehen ...« So wühlte und wogte es durcheinander, das ganze Mittelmeer entlang. Es war ein Fragen und ein Gemurmel, von der Straße von Gibraltar bis nach Persien: »Was ist mit dem Menschenleben? Was ist mit Gott? Was ist Wahrheit? Weißt du, was ein Menschenherz heilig und fröhlich macht?« Sowie Landleute in langer, dürrer Zeit zusammenstehen und miteinander und gegeneinander reden: »Es muß nun bald regnen. Sieh ... die Wolke da! ... Ach, es ist nichts.« Aber plötzlich, in der Nacht, da sie an nichts denken, fängt es an, in den Bäumen vor den Fenstern schwer und voll zu rauschen: so warteten und redeten und starrten die Menschen. Der Mensch kann es nicht lassen, nach dem Sinn des Lebens, nach dem Glück zu suchen.

Da endlich hatte die Natur sich lange genug erholt. Natur geht auf und ab wie Wellen. Es schoß wieder ein Mensch auf, ein Held nach Art jener alten, heiligen Helden. Da rauschte es, von Osten her, über die dürren Völker hernieder. Ein mächtiges, schweres Rauschen.

*

In einer Ecke des gewaltigen, zusammengestückten Reiches lag ein Land, ganz wie unser Schleswig-Holstein, ebenso groß, schmal, und langgezogen am Meer entlang, im Norden stille, weite Heidehügel, im Süden eine große, prächtige Stadt. Es wohnte darin, in Dörfern, ein Bauernvolk, nicht ganz reiner Rasse, aber guter Mischung, aus zwei alten, edlen Stämmen.

Aber es war ein unglückliches Volk.

Das Volk wurde im Norden von einem verdorbenen Herzog, im Süden von einem Statthalter des Kaisers hart und schlecht regiert. Fremdes Großkapital lag über ihm, wie der Wolf über dem niedergerissenen Schaf. Direkte und indirekte Steuern, Zölle und Monopole sogen das Volk aus. Die Beamten stahlen und raubten. All das Geld – Geld ist Kraft – ging aus dem Land.

Dazu kam die Kirche mit großen Ansprüchen. In der großen Hauptstadt, im Süden, erhob sich ein ungeheures Gotteshaus mit weiten Hallen und Höfen, mit hohen und teuren Konsistorien, mit Tausenden von Ober- und Unterpriestern, mit vielen geistlichen Lehrern, die durchs Land zogen. Das alles mußte vom Volk erhalten werden.

Das größte Unglück aber war, daß das Volk in sich ganz und gar zerrissen war. Politische und religiöse Richtungen wogten und wühlten kopflos durcheinander.

Die eine Partei waren die Stillen im Lande. Sie wohnten verstreut übers ganze Land, besonders in den Dörfern, besonders in der Heide. Es waren die Menschen der fleißigen Handarbeit, welche den Geist frei läßt, daß er wunderliche und tiefsinnige Grübelwege gehen kann, die Menschen der täglichen Nahrungssorge, welche die Seele nach Gottvertrauen sich recken läßt. Die Kirche war ihnen zu vornehm, zu kalt und zu steif; sie suchten auf eigene Faust nach einer ewigen tröstlichen Wahrheit. Sie versenkten sich nach der Tagesarbeit in alte Chroniken und Gebetbücher und lasen mit frohem Erstaunen, wie ihre Eltern vor Jahrhunderten, in ähnlicher Notzeit, den Mut nicht hatten sinken lassen, sondern den Glauben hatten, daß die ewige Macht die Hohen und Harten nicht liebe, aber der Armen und Mühsamen sich annehme und ihnen einst einen Helfer, einen »Heiland« schicken wolle. Aber nur wenige konnten sich zu diesem hohen Glauben aufschwingen. Die meisten lebten in frommer Dumpfheit dahin.

Die zweite Partei waren die Liberalen. Die zerfielen jedoch wieder in zwei ganz getrennte Lager. Es gab eine kleine vornehme liberale Partei in der Hauptstadt: reiche Leute, der Gegenwart froh, auswärtiger Bildung aufgetan, immer dicht an der Staats- und Kirchenkrippe, mochte auch eine noch so schmutzige Hand sie füllen. Daneben gab es eine liberale Partei unter den einfachen Leuten, die vielen nämlich, welche von dem Unterdrückerstaat kleine Ämter angenommen hatten, meistens im Zoll- und Wachtdienst. Es waren aus dem schlichten, arbeitenden Volk die Elemente der Leichtlebigkeit, des raschen, freien Bluts, der Begabung und Bewegung.

Die dritte Partei waren die Nationalisten. Sie war die mächtigste im Land. Es war die Partei des engen, kirchlichen Patriotismus. Ihr Programm war: Väterglauben und Vätersitte streng erhalten: als einen Damm gegen alles Fremde. »Siebenmal am Tag beten, siebenmal sich waschen, siebenmal Almosen geben, täglich in die Kirche gehen, nichts ändern, nichts neuern: so gefallen wir der ewigen Macht! Die wird uns lohnen; und wird uns einen Helden, einen ›Heiland‹ schenken, der uns von den verfluchten Fremdgläubigen befreien wird.« So stand die mächtigste Partei da: in vermoderter politischer Rüstung, kleinliche Wächterin über das, was sie »rein« und »heilig« nannte, finstere Aufpasserin über alle Bethäuser und Schulen im Lande. Sie beherrschte und tyrannisierte das Volk. Bloß die Liberalen widerstanden ihr; die sagten: »Leben und leben lassen; weg mit den alten Formeln und Geboten.« Und die Stillen im Lande widerstanden ihr; die sagten: »Ihr seid uns zu eng, zu stolz, zu steinern; wir suchen Gott auf unsere Weise, lesen in den alten heiligen Büchern und grübeln in der Nacht. Wir haben auch keine Zeit, den ganzen Tag zu beten und zu waschen und zur Kirche zu laufen; wir müssen ums Brot arbeiten.« In ihrem bitteren Grimm über diese Vaterlandslosen erfanden die Nationalisten ein Schimpfwort, das kurz und bündig beide traf: »Zöllner und Sünder sind sie.«

Unterhalb dieser drei großen Volksparteien wimmelte es von Heimatlosen, von Bettlern, von Landstreichern und von Kranken. Es gab keine Ärzte, keine Irrenhäuser, keine Krankenhäuser, überhaupt keine soziale Hilfe irgendwelcher Art. Alles Elend, alles Verbrechertum, alle Faulheit im Lande lag an der Landstraße, auf der Dorfgasse, vor der Tür der Reichen. Die Nationalisten warfen das Almosen hin, das der Väterglaube vorschrieb, und züchteten mehr Bettler.

So sah es in diesem Bauernvolk am Meer aus. Es war ein ganz unseliges, zerrissenes Volk. Und über diesem unseligen, zerrissenen Volk eine fremdgläubige, ausraubende, grausame Regierung. Vierzig Jahre später hat die große Partei der Nationalisten ihre ganze Macht zusammengenommen und hat das Volk zu unseligem Aufruhr hingerissen, in dem es zerstampft und verblutet ist. Damals aber stand es noch: wie der große Held sagte, wie eine Herde, die keinen Hirten hat, in der Nacht, und schon schleichen und knurren im Dunkeln die wilden Tiere. Unruhig, schwer atmend, stand das Volk: »Hilfe muß kommen ... Was kommt? ... Kommt der verheißene Held? Oder erscheint in den Wolken, als eines Menschen Bild, der rettende Gottesengel? Ach, lacht doch! Laßt uns essen und trinken, morgen sind wir tot. Zahl deine Steuern! ... Kommt er vom Himmel? Kommt er aus dem Volk? ... Hört ... Rauscht es schon in den Bäumen? Alter Vätergott! Ewige Macht! Hilf ... Es dürstet nach dir meine Seele! Es schmachtet nach dir mein Leib im dürren, lechzenden Land.«

*

Im Norden des Landes zwischen Meer und See, in der Heide, wohnte ein Ehepaar, Joseph, Jakobs Sohn, und seine Frau, welche den Namen Maria hatte; beide schwerlich aus reinem Blut, wahrscheinlich aus altem, edlem Mischblut. Der Mann scheint ein höheres Lebensalter nicht erreicht zu haben, oder er hat erst als ein Älterer geheiratet. Die Frau aber hat ihre Kinder erwachsen gesehen. Das ist ihr nicht zum Ruhm gediehen. Es steht die seltene Tatsache fest, daß diese Mutter eines Helden für die innere Größe ihres Kindes kein Verständnis gehabt hat.

Das Ehepaar hatte sieben Kinder, die wuchsen in dem stattlichen Dorf auf, und sahen und lernten kennen, was das Dorfleben in einem lebendigen, edlen Volke an Bildern und Erkenntnissen darbietet. Und das erstgeborene Kind der Ehe, mit Namen Jesus, hatte besonders tiefe Augen, die ruhevollen, schönen Bilder in sich aufzunehmen; und eine starke und feine Seele, unbewußt über sie zu sinnen, und sie in einem inneren Dämmerlichte, das im Lauf der Kinderjahre heller und heller wurde, leise und gar lieblich zu deuten.

Der Knabe ist neben dem Knecht hergegangen, wenn er pflügte, und hat die Mutter traurig gesehen, als sie ihr letztes Kind erwartete, und hat sie plötzlich fröhlich gesehen, als das Neugeborene in ihren Armen lag ... Er ist mit seinen Gespielen auf den Hügel gegangen, wenn im Felde die ersten Blumen wuchsen. Mit abgerissenen Blumen in den Händen standen sie und schauten weit übers Land bis ans blaue Meer im Westen. Am selben Abend erzählte die Mutter, daß der Nachbarsohn im Zorn das Elternhaus verlassen hatte und in die Fremde gegangen wäre. Sorge folgte ihm; denn er war ein leichtsinniges Blut ... Er hat das Kornfeld, das am Hügel lag, weiß zur Ernte gesehen und hat mit den anderen Kindern vor der Tür gestanden, wo eine Dorftochter Hochzeit machte. Morgens erzählte die Mutter von den Brautjungfern, die in der Nacht mit brennenden Lichtern in der Hand durchs Dorf gezogen waren ... Er hat auf dem Felde binden helfen und die Disteln wurden mit in die Garben gebunden und stachen den Binder; an demselben Tag, abends, als er mit seinem Vater heimkam, hörten sie in der Dorfstraße, daß der reichste Bauer im Dorf gestorben war, und die Leute sprachen davon, daß er samt seinen Brüdern ein geiziger und schmutziger Mann gewesen ... Er hat den Hirten mit der Schafherde durchs Dorf kommen sehen und im Dorf fing der Hirt eine kleine Unterhaltung an – langsam ziehen die Schafe weiter –: er hätte die ganze Nacht ein Schaf gesucht, gegen Morgen hätte er es gefunden; und sein verwittertes Gesicht strahlte vor Freude. Am selben Tag, am Spätabend, kam noch die Nachbarin gelaufen und erzählte: der Bauernsohn, der leichtfertige, der vor drei Jahren im herrischen Zorn und mit breiten Worten aus dem Elternhaus und dem Dorf gelaufen war, wäre wiedergekommen. In der Dämmerung hätte er stundenlang an der Straße gestanden und nach den Lichtern im Elternhaus gesehen ... in Lumpen. »In solchen Lumpen! Und nun: was meint ihr? ... hört ihr?« Und sie hörten durchs Dorf das Singen und Jubeln. So sehr freuten sich die Eltern, daß sie ihn wieder hatten. Da stand das Kind von seinem Lager auf und trat vor die Tür und hörte das Gesinge.

Das Stadtkind? Was sieht das Stadtkind von Welt, Natur- und Menschenleben? Einen armseligen, kleinen, häßlichen Ausschnitt. Aber das Dorfkind sieht die ganze Welt, mit allem was darin ist, im kleinen.

Es war ein scheues, vorsichtiges Kind; es stand abseits und sah mit verwunderten Augen auf das Leben. Es spielte wohl mit den anderen Kindern; aber es geschah oft, daß es aus dem spielenden Haufen herauskam, wie willenlos, als träte ein Unsichtbarer zu ihm und sagte mit leisem Ernst: »Geh ein wenig zur Seite.« Dann wurden die Augen des Kindes still und stiller; Schleier über Schleier sanken darüber. Aber es wurde nicht dunkel in seiner Seele; sondern je mehr die Außenwelt im Dämmern versank, entglomm in seiner Seele ein stilles, helles Licht, das wuchs, und erfüllte den ganzen Seelenraum wunderbar, mit einem reinen Glanz und mit einer holden Wärme. Weh und wonnig stand die Kindesseele im heiligen Saal, vor hohen Türen, die sich bald öffnen werden ... »nun ... bald ... dann sehe ich seligen Himmelsschein ...« Da kamen die spielenden Kinder und weckten ihn und sagten zueinander: »Jesus träumt wieder. Seht, wie er träumt.« Da kam er zu den anderen Kindern, die Augen noch verwirrt von süßer Erinnerung, das Gesicht von einem leisen Schmerz verzogen.

An jedem Sonnabend stand das Kind und der Jüngling mit den anderen Dorfleuten in dem Schul- und Bethaus des Dorfes, in dem ein ernster Lehrer langsam und feierlich aus den alten Chroniken und Gebetbüchern vorlas. Ein Klerikaler und Nationalist, las er mit harter, finsterer Stirn die vielen Gebote, die Gott gegeben hatte. In einem fort ging es: »Du sollst ... Du sollst ... Wenn du das tust und das, und das ... bist du Gott angenehm ...« Der tapfere scheue Knabe hörte zu und wurde verschüchtert und konnte es nicht verstehen ... Da legte der Lehrer das Buch hin und nahm ein anderes; und nun wurde die Stimme des ernsten, vergrämten Mannes warm und seine Augen wurden heiß. Von Helden las er, welche vor alters im Volk aufstanden, wie Birken aufsteigen im Heidekraut. Die grübelten schwer und einsam, ob sie das raten könnten, was als ein dumpfes Rätsel über allem Menschenleben lag: das Rätsel vom Geborenwerden und Sterben, von Gewissen und Gott, von Schuld und Gerechtigkeit, und wie eine feine Menschenseele sich durch das Leben fände, ruhevoll und unsträflich. Und einige dieser Grübler, dieser Helden, drangen durch die Angst und durch die Nacht, nicht mit eigener Kraft, sondern: so wie Kinder, die ängstlich durch das Dunkel laufen, bange ... wie klopft das Herz! ... und laufen zuletzt in die ausgebreiteten Arme der Mutter; eine Weile noch schluchzen sie stoßweise ob dem Wagnis und der Angst, dann werden sie ruhig und lachen: so liefen diese Helden aufs Geratewohl, auf Treu und Glauben, in einem blinden, heißen Vertrauen, bis zu den Füßen der ewigen Macht: »Ewige Macht! Wir glauben, daß du Güte bist!« und dann, von dieser also erstürmten und gewonnenen, herrlichen Friedensstatt aus, das tapfere Gesicht ihrem Volke zugewandt, redeten sie von der Not der Gottfremde, von der großen Gottesgüte, von der Hoffnung auf die wunderbare Gotteshilfe, von dem »Heiland«, der kommen und das Volk rein und glücklich machen sollte.

Der Knabe hörte diese Reden der großen, heiligen Helden, und sein junges Herz füllte sich mit hoher, heimlicher Wonne. All das vorige »du sollst, du sollst« war vergessen. Alle Angst war dahin. Er sah und träumte bis in die Nacht hinein von den Helden, die so tapfer an Gottes Güte geglaubt hatten und ihr unglückliches Volk so heiß geliebt hatten, und von dem tapfersten und reinsten von allen, dem, der noch kommen sollte, dem »Heiland«, und schlief selig mit heißen Wangen ein.

Es waren im Dorf schlichte, ungelehrte Familien, von der Partei der Stillen im Lande. Wahrscheinlich gehörten auch seine Eltern dazu. An der Hausschwelle und am Herdfeuer hörte er mit zarter, weit offener Seele, was Eltern und Nachbarn von alten Zeiten her glaubten und träumten: von Gott, der mit vielen guten Engeln oben im blauen, seligen Himmel haust, und von dem Teufel, der da auch wohnt, aber in der finsteren Ecke, hinter den schweren, grauen Wolken, die im Norden am Himmelsrand liegen; viele böse Engel sind bei ihm. Und Gott und die Seinen, und der Teufel und die Seinen, die fallen und steigen Tag und Nacht, weben und wirren, heilen und schlagen am Menschengeschick. Jede Krankheit und aller Irrsinn kommt von den bösen Engeln. Wie werden die Kranken im Dorf von den bösen Engeln gequält! Und in dem Irrsinnigen, der am andern Ende bei seinen Eltern wohnt, hausen sieben Engel und Geister des Teufels, und lassen ihn wild aufschreien, daß man es im ganzen Dorf hört. Aber das wird einst alles anders werden. Alle Not und Plage von fremden Menschen und bösen Geistern wird einst ein Ende nehmen. Der »Heiland« wird ja kommen. Von all den heiligen Helden der größte. Einige sagen: er wird ein Engel sein und vom Himmel fallen, andere sagen: er wird ein Mensch sein aus altem, verarmtem Königsstamm. Der wird mit Gottes Hilfe eine Gottesherrschaft im Lande einrichten, von den Heidedörfern im Norden bis hinunter nach der großen Stadt. Dann wird das ganze Volk frei, heilig und glücklich sein.

So hörte der Knabe alles, was in seinem Heimatsdorfe in dieser schweren, unruhigen Zeit an Kirchenglauben und an Volksglauben lebte. Er übte an all diesem keine Kritik. Er hat überhaupt bis in seinen Tod kein Stück vom Glauben oder Aberglauben seines Volkes verworfen oder verachtet. Er lebte wie sein ganzes Volk und seine ganze Zeit in einer verzauberten Welt. Auch für ihn stiegen sein ganzes Leben lang die Engel Gottes herunter. Er sah den Teufel herunterfallen wie einen Blitz; und er hielt die Kranken und Irrsinnigen für Leute, in denen die Satansengel wüteten. Er glaubte, daß ein Mensch mit Gottes- oder Teufelshilfe übernatürliche Dinge tun könnte und daß die Toten, die in der Erde schlafen, aufwachen und umhergehen können. Aber das war die besondere Gabe, der große, schlichte Zug in diesem aufkeimenden Menschenkind: alle Töne, die rund um seine Seele aus dem Volk und aus den alten Büchern klangen, vernahm es, aber ein Ton klang ihm durch, überklang von Jahr zu Jahr, heller und stärker, klang über alle Töne, rein und voll und ganz klar – alle anderen Töne klangen daneben leise – der Ton, der zu seiner Zeit in seinem Volk verklungen war, und in den anderen Völkern noch nicht angeklungen hatte, der Ton, den jene alten heiligen Helden vernommen hatten und hatten darauf geantwortet: »Laß mich jubeln über deine Gnade, daß du meinen Jammer angesehen und dich um die Not meiner Seele gekümmert hast.« Und das war sein gewaltiges Heldentum, daß er in dieser dumpfen, niedrigen, wirren und wilden Zeit mit diesem hohen Bekenntnis der Güte der ewigen Macht hervortrat und dafür in jungen Jahren in den Tod ging ... Vorerst aber ist er noch ein Knabe und Jüngling, unsicher; und hütet zweifelnd, verwundert, wunderbar tiefe Gedanken.

Da kam die erste Jünglingszeit. Er lernte im Dorf ein Handwerk. Zimmermann wurde er ... Er kam übers Dorf hinaus. Er wanderte im trockenen Flußlauf das Tal entlang und sah die Trümmer des Hauses, das der letzte Platzregen vom Sandabhang herabgerissen hatte, und kam bis an den Meeresstrand, und sah die Boote der Perlenfischer durch die Brandung tanzen, und der Kaufmann stand mit der Ledertasche und wartete, was sie gefangen hatten. Er wanderte durch die verarmten Heidedörfer bis an den Binnensee und stand vor dem Schloß, das der verdorbene Herzog sich gebaut hatte, und hörte das unglückliche Volk von seiner Härte und von seiner Königssünde reden, und sah die zahllosen, heimatlosen Armen, und die Kranken und die Irren an allen Straßen liegen, und sah die Haufen Soldaten und Zollbeamten an allen Straßenecken gegen das verarmte Volk wüten ... Er zog mit den Leuten aus dem Dorf drei Tagereisen weit nach Süden zu, nach der großen Stadt, nach dem gewaltigen Gotteshaus. Da sah er die vornehmen Liberalen in seidenen Mänteln, als Kirchenfürsten, zur Festtafel des fremden Statthalters gehen, zwischen all dem Hunger und Jammer des Volkes hindurch. Und sah die Nationalisten in strengen Trauerkleidern an den Straßenecken stehen. Und das Volk läuft stumpfsinnig ihnen nach, füllt die Kirche, plappert Gebete, bringt den Rest seiner Armut zu den reichen Priestern ... Unterwegs auf dem Heimweg sprachen die Dorfgenossen darüber, ob es wohl recht wäre, was die Nationalisten behaupteten: Man müsse den Priestern die befohlenen Gaben bringen, wenn auch die eigenen alten Eltern darüber verdürben und stürben, denn Gott und sein Gebot ginge doch über Kindesliebe? Und ob es wohl wirklich Gottes Wille wäre, daß man am Sonntag keinen Finger rühre, nicht einmal, um einem Menschen oder einem Tier aus der Not zu helfen? Sollte Gott so kleinlich sein und so eifersüchtig? Darüber grübelten sie lange beim Wandern und schwiegen, bis plötzlich einer, der zu den Stillsten im Lande gehörte, mit zitternder Stimme ein altes Lied anstimmte: »Zu dir erhebe ich meine Augen, du Thronender im Himmel! Sieh: wie die Augen der Knechte auf die Hand ihres Herrn sehen: so schauen unsere Augen auf unseren Gott, bis er sich unser erbarmt.«

Er kam ins Dorf zurück und schwieg. Er lebte still in seinem Elternhaus und arbeitete in seinem Handwerk, baute und besserte an den Häusern im Dorf. Er sah sein Handwerk und alles, was Natur und Menschenleben ihm entgegenstellte, mit wachen Augen an. Aber seine Augen blieben darin nicht hangen wie Fische im Netz, sondern glitten wie Sonnenstrahlen durch alle diese Erscheinungen hindurch, und suchten ihren geheimen Grund: die ewige, heimliche Macht. Er freute sich über das wogende, reife Weizenfeld, und über die Lilie, die am Teiche blühte, und über das junge Mädchen, das vor der Haustür stand; aber er ließ es da wogen, blühen, stehen. Alle Erscheinungen waren ihm nur ein Gleichnis für das, was dahinter, weit hinten, im Dunkel stand: die ewige Macht. »Du bist nichts anderes als Heiligkeit und Liebe. Wenn doch alle Menschen mit mir dies glauben und mit mir fröhlich sein wollten. Ewige Macht, was bin ich und was sinne ich? Vater im Himmel! Sende bald den Helden aus! Groß ist die Not in meinem Volk.«

Die Leute im Dorf sagten: »Ein stiller, wunderlicher Mensch ist er, von tiefer Klugheit, von heiligem Ernst, von unendlicher Güte, und rein wie ein Kind an Mutterbrust.« Mehr sahen sie und wußten sie nicht. Sie ahnten nicht, daß hinter diesen stillen Augen die Seele immer weiter und tiefer wurde. Er selbst wußte auch nicht, was mit ihm war. Er war ein armes, unruhvolles, bald jauchzendes, bald unsäglich banges Menschenkind, ein Menschenkind, von göttlichen Gedanken geschüttelt wie von Wehen, ein Genius in angstvoller Werdezeit.

Die Zeit geht hin ... Er wird um dreißig Jahre alt. Es gibt Leute im Dorf, welche ihn nach großen Dingen fragen; aber er sieht zur Erde und sinnt: es ist ihm zu schwer zu antworten. Einige Stille, Gütige und Tiefe im Dorf denken und sagen: »Was wird aus ihm? Laßt ihn! Wartet: er wird einst auffliegen wie ein Adler.« Andere schütteln den Kopf und sagen: »Was ist er? Ein wunderlicher Mensch, weiter nichts.« Seine Stunde ist noch nicht gekommen: Geist und Seele sind noch nicht klar. Gott glüht und hämmert noch. Denn wie es von jenen alten, heiligen Helden heißt: »Ich mache dich heute zu einer eisernen Säule und zu einer ehernen Mauer gegen das ganze Land, gegen seine Regierung, seine Kirche und gegen die ganze Bevölkerung«: so hart, so eisern muß auch er werden, denn er soll allein stehen seinem ganzen Volk gegenüber.

Es liegt eine schauerliche Schwüle über dem Volk: Druck in den Seelen, Last von oben, Armut, Irrsinn ... Bleierne Wolken vom Meer bis zum See, von den Heidehügeln im Norden bis zur großen Stadt im Süden. Einmal, zweimal brennt es am Walde oder auf der Heide. Ein verzweifelter, kühner Mensch tritt auf: »Ich ... ich bin der Heiland! Steh auf, mein Volk! Steh auf!« Die Regierung tritt das Feuer mit wildem Fluche aus. Die Menschen atmen schwer und mühsam. »Wann kommt Hilfe im dürren, lechzenden Land? Jetzt oder nie. Geh hinaus, Kind: sieh nach, ob das Gewitter aufsteigt.«

»Es ist nichts, Vater.«

Da grollte der erste, schwere Donner über das Land.

*

Im Süden des Landes, nicht weit von der Hauptstadt, stand einer auf, einer wie die alten, heiligen Helden. Aus dem verzweifelnden Volk schoß er auf. Da stand er und sprach. Was er sprach, war halb Verzweiflung, halb lachende Freude.

»Volk, Volk, hör', was ich sage. Sind wir am Ende mit Leben und jeglicher Hoffnung? Geht uns die Not bis an die Kehle? Wohlan: Ihr wißt, was die alten Bücher erzählen: Aus vermorschtem Königsstamm soll aufschießen ein junger Zweig! Er muß kommen. Er kommt! Jetzt! Er ist ganz nah ...

»Er kommt: ein Mensch von wunderbaren Kräften, Gotteskräfte in ihm! Gottes Engel ihm zur Linken und Rechten! Er wird die Unterdrücker verjagen und töten, und dann wird er anfangen, furchtbar im Volk zu hausen. Die Nationalisten, die aufgeblasenen Frommen; die Liberalen, die im Kirchenregiment und bei Hofe sitzen, die glatten, seidenen: alle diese Heuchler und Scheiner, die reichlich leben und um den Jammer des Volkes sich nicht kümmern, die dem Volk schwere Lasten auflegen, als wären es Gottes Gebote, und selbst keinen Finger dafür rühren, die des Volkes Landstücke mit Schulden belasten, seine Häuser auffressen und fleißig dazu beten: die sind Gott und seinem Boten ein Greuel. Er wird sie alle vernichten ... Wenn er aber alles dies vollbracht hat, vertrieben der Feind, tot die Verderber des Volkes, dann die übrigen, die Unterdrückten, die Stillen im Land: die werden dann wohnen im gereinigten, freien Vaterland, im stillen Glück, er ihr herrlicher König, sie sein befreites, fröhliches Volk ... Wo seid ihr, ihr Armen und Reinen? O, wie Wenige, mein Volk! Horcht: er kommt! Heiligt die liebe Seele! Alles Böse weg aus Herz und Leben! Horcht! Die Schritte des Heilands!«

So sprach er in abgebrochenen Worten. Er sprach zu einem verzweifelnden Volk. So klingt noch vor Morgengrauen die Lärmtrompete über das Heer, das in unruhig quälendem Schlaf, dicht vor dem Feind, auf dem Felde liegt ... Das ganze Volk hörte seine Stimme. Die Liberalen lachten: »Ach, leben und leben lassen!« Die stolzen Kirchenleute standen starr: »Was? Der Heiland soll kommen, als unser Feind? Was für ein Narr ist der da?« Die Elenden und Stillen im Land sprangen auf: »Was ist das für ein Ton? Was redet er? Vom Ende des Jammers?« Da machten sie sich auf in Scharen hin zu dem Mann.

Da drang der helle Ton auch zu dem Stillen, Tiefen, zu dem Zimmermann Jesus, der im Norden des Landes im Heidedorfe hauste. »Was ist das? Was redet er: Falsch, sagt er, ist die ganze Frömmigkeit, welche die Kirchenleute lehren? Heilige, reine Menschen will Gott? ... Ja, die will Gott.«

Wie wenn in der Herbstnacht ein Sturm losbricht vom westlichen Meer her und braust ins Land hinein und stürmt gegen die hohen, dichten Buchen, die den tiefen, tiefen Waldsee umstehen, und kann sie nicht brechen, und hält in wildem Zorn den Atem an und ... plötzlich, mit geschwellten Muskeln und wildem Willen ... stürzt er sich wieder auf die starken Bäume, und nun krachen und brechen sie, und durch sie hin stürzt er auf den Waldsee und schlägt ihn und quält ihn: so stürzte die Unruhe in seine stille, tiefe Seele hinein. »Was sagt er? Der langverheißene Heiland kommt jetzt? Jetzt? Jetzt kommt das große Wunder? Frei und selig wird das Volk? Jetzt? ... Ja, jetzt! Jetzt! Denn die Not geht uns bis an die Kehle. Ja, jetzt kommt er. Ich will hingehen und den Mann sehen.«

Da legte der junge, stille Meister Hammer und Winkelmaß hin und machte sich auf. Unterwegs glühte die ewige Macht und hämmerte und hämmerte. »Der Heiland kommt ... Wie sieht er aus? Wie wird er sein? Gott wird gewaltig in ihm wohnen samt seinen guten Geistern ...« Und als er am zweiten Tag gegen Abend ankam, standen da Scharen von aller Gegend, von der Westsee und der Ostsee, von der großen Stadt im Süden und von den Heiden im Norden. Belogen und betrogen von König und Kirche, ein verwirrtes, mißhandeltes, verzweifelndes Volk starrten sie auf den einen festen Mann, der vom Sturz des Königs und der Reichen und Kirchenfrommen redete und von der seligen Zeit, welche danach, nun bald, für alle, die ohne Sünde sind, kommen werde. »Der Bote Gottes, der Heiland ist nah: der hat in der einen Hand den Tod, in der anderen ein glückseliges Leben im freien Vaterland ...« Da drängten sich Tausende zu ihm und knieten im Wasser, das da über den weißen Sand zum Tal läuft, und gelobten unter seinen Händen: »So klar wie das Wasser und der Sand, so rein soll unsere Seele sein: so werden wir unter dem heiligen Helden wohnen dürfen im reinen, glücklichen Vaterland, wir Stillen und Demütigen und Elenden im Land.«

Der Dorfmann vom Norden her wurde von diesem Anblick, von dieser großen Stunde hingerissen. Er, dessen Seele da oben in der stillen Heide in Gefahr gewesen war, in Dämmerung zu verträumen oder in Unruhe sich zu verirren, wurde durch diesen Mann und diese Stunde aus dieser Gefahr herausgerissen zur Klarheit und zur Tat. »Was sagt der Mann? ... Reine Menschen sollen im reinen Vaterland wohnen? Wie aber wird ein Mensch rein? Das weiß er nicht. Das weiß keiner im Land. Weiß ich es? ... Weiß ich es? Das reine Leben im Land? Ich ... ich kann es zeigen! Trage ich es nicht seit meinen Kindertagen in meiner Seele? Dein Kind bin ich, Gott, seit ich denken kann. Dein reines und geliebtes Kind. Alle Sünde unmöglich in deiner Gemeinschaft ... Nahe ist das Gottesreich! Nahe ist das Glück meinem armen Volke! Ja: nah ist es ... Es muß nun kommen. Hilf, Vater, deine Herrschaft komme! Mein ganzes Volk selig und rein wie ich, an deinen Knien! ... Vater ... was soll ich tun ...?« Überflutet von diesen schweren Gefühls- und Willenswogen kniete auch er im weißen Sand und drängte sich mit heißer Hingabe an die ewige Macht. Und da, als er sein ganzes Sein und Leben also willenlos der ewigen, heiligen Macht an die Knie drängte: »Ich bin dein und will, was ich soll: O du mein lieber Vater, du Gütiger, du Treuer ...« da kam ein Augenblick des von Sinnenseins, eine selige Verzückung, er fühlte und hörte, daß die ewige Macht, der ›Vater im Himmel‹, seine heiße Hingabe und seinen reinen Willen annahm: »Du bist mein liebes Kind. Ich freue mich deiner.«

Er stand auf und trat zurück. Er blieb die Nacht in dieser Gegend, in seligen Gedanken, in hehren Ahnungen, in einem neuen, schönen Licht, in jubelnder Freude, daß klar geworden war, was von Kind an seine dumpfe Not und selige Freude gewesen ... »Ein Prophet bin ich! Ein Verkünder ewiger Wahrheit, wie die alten heiligen Helden! Das Glück kommt über mein armes Volk! Die Gottesherrschaft! Sie kommt. Ich melde sie an!«

Da machte er sich am Morgen auf, wieder nach Norden zu ... Er geht zwei, drei Stunden lang. Da führt ihn sein Heimweg in eine einsame, ganz öde Gegend seines Vaterlandes. Da legen sich die hohen Wellen seiner Gefühle. Sein Sinn wird, wie er so in der öden Heide weiter wandert, schwer und schwerer. Er steht still und grübelt. »Wenn ich nun morgen abend nach Hause komme, dann muß ich auftreten ... ich, der Scheue ... und muß sagen: rein das Herz und das Leben; die Herrschaft Gottes kommt« ... Sie alle warten auf einen heiligen Helden, der uns mit Schwert und Wort frei macht vom fremden Joch. »Heraus mit dem Schwert!« Das aber kann ich nicht. Das hat Gott in mir nicht gesagt ... Oder kann ich es doch? Ich habe Gewalt über die Menschen. Soll ich verkünden, was ihnen gefällt? Soll ich ein wenig ändern, was Gott in mir sagt? Was ich ihnen sagen will, ist zu hoch und heilig ... Ja, die Stillen im Land! Aber meine Mutter und meine Brüder und die Reichen im Dorf! Und die harten Nationalisten und der Herzog! Die einen werden mißtrauisch sein, die anderen werden drohen, der dritte wird mich verfolgen und gefangen setzen ... Wohlan: ich muß es ein wenig ändern. Ich muß es ändern. Ich will mich bunt und herrlich kleiden, in Wundern und großen Taten, und dann: »Ich bin der Heiland! Das Schwert zur Hand!« So wird mein ganzes Volk zu mir stehen ... Nein ..., böse Geister! ... Hebt euch weg, Satansengel! ... Ich will allein auf Gott hören.«

Der Tag vergeht und die Nacht kommt; er kauert am Felsenhang, ein armer, einsamer, von schrecklichen Zweifeln zerrissener Mensch, ein Mensch in allerschwerster Not. Er betet und hat einen Blitz der Stärkung; er wird wieder mutlos; er betet wieder; er bittet seinen »Vater im Himmel« heiß, um Stärke, um klares Licht. Er bittet: »Zeig mir die Wahrheit! Sag' mir: Soll ich meinem Volk mit deinem Schwert und deinem Wort helfen, oder allein mit deinem Wort?«

Wie ein Edelwild im Käfig rastlos hin- und hergeht und zwischen jedem einzelnen Gitterstab hindurch in die Freiheit sieht und kann nicht hindurch: so sucht seine Seele die ganze Nacht hin und her nach einem Ausweg. Er hat es später in einer stillen Stunde seinen Freunden erzählt, und sie haben es geglaubt, denn es war der Glaube des ganzen Volkes: der Satan, der aus der dunklen Himmelsecke, der oberste der bösen Engel, der stand neben ihm und redete ihm zu: »Misch' Erde in die reine Gottessache.« Was an Menschenfurcht und Eitelkeit und sinnlicher Lust in ihm war, das rang mit der Kraft eines starken Mannes gegen das andere, das Reine, Heilige, das vornehmlich in ihm war. Er hat tagelang gerungen. Zuweilen wanderte er nach Norden zu. Dann schrak er wieder zurück und ging wieder in die Heide.

Es war oft große Gefahr, daß er den Vater im Himmel verriet und als derselbe stille Handwerker wieder in seinem Dorf ankam, aber nun ein Mensch mit zerstörter, zerrissener Seele, und von Gewissensbissen verwüstetem Innenleben. Es war oft große Gefahr, daß er Erde in das Heilige mischte: »Heraus mit dem Schwert, ich bin der heilige Führer, den Gott dir verheißen.« Die Zukunft der ganzen Menschheit hing in jenen Tagen an der reinen Seele, an dem Mut und der Treue eines einzigen Menschen.

Aber er war sehr tapfer. Er dachte an die Freude, die er genossen, wenn seine Seele bei Gott stand. Er drängte sich immer wieder im heißen Gebet an die Knie des Vaters im Himmel. Wir müssen ihm das danken: dem Zimmermann Jesus aus dem Norden. Er hat der Menschheit vorwärts geholfen. Er stand zuletzt auf, siegreich: »Deine Sache will ich ausführen, rein, ohne Schwert, ohne Irdisches. Ich will dir glauben und nicht zweifeln: nahe ist dein seliges Reich, und ohne Schwert soll ich es betreiben. Hilf mir, Vater im Himmel.«

Da, erzählte er, wurde er stark. Engel aus dem freundlichen Himmel, erzählten seine Freunde nachher, standen um ihn. Er fürchtete sich nicht mehr. Er atmete hoch und ruhig auf und ging mit gefaßtem Herzen dem Norden zu. Der Zweifel liegt nun dahinten. Sein Menschenwille ist nun ganz still. Er will nun nichts als den reinen Gotteswillen. »Deinen Willen will ich tun. Das Kommen deines Reiches verkünden. Deine schöne Herrschaft ankündigen in meinem Land, und will mich um Menschenwillen nicht kümmern.«

Er wanderte nach Norden zu. Hinter ihm her kam laut schreiend das Gerücht: »Der Gottesmann am Fluß ist vom Herzog gefangen genommen; er wird unter Henkers Hand sterben.« Aber es ist keine Furcht mehr in ihm. Er steht, in seiner Hand die reinste Sache, die es auf der weiten Welt gibt, rein und frei da, dicht bei der ewigen Macht, bei dem »Vater im Himmel«.

*

In zwei Tagen erreichte er die Heimatlandschaft. Das Heimatdorf selbst vermied er. In einem freundlichen Dorf, ostwärts der Heimat, trat er zum erstenmal auf, ein freier Wanderprediger, nach der Weise seines Landes. Er trat auf, ohne Zweifel und Furcht, mit glücklichen, strahlenden Augen, er hatte ja eine Vollmacht von Gott: »Tritt auf! Rede! Du bist mein liebes Kind. Rede! Was du sagst und tust, das sagst und tust du nach meinem Willen.« Der Adler flog nun auf.

Er stand auf und ging ans Pult, zum erstenmal, und schlug die alte Chronik auf; und sie sahen ihn an und sahen: der ist kein trockner Lehrer; der ist ein Mensch, bis ins Innerste erregt; ein Geist Gottes ist in ihm. Er las die Stelle, wo stand: Der Geist des Herrn hat mich gesandt: den Armen im Lande bringe ich frohe Botschaft; den Gefangenen verkünde ich Loslassung; den Blinden das Gesicht; und er legte das Buch hin und atmete schwer und sagte: »Das alte Wort wird nun wahr. Nun! Du armes, bedrücktes Volk: die versprochene selige Zeit ist nun gekommen! Gottes freundliche, herrliche Herrschaft unter uns armen Menschen fängt nun an! Gebt ihm euch hin, seid seine Kinder! Dann verschwinden alle Schatten, die auf dem Menschenleben lasten, alle, alle: böses Gewissen und alle Not und auch der Tod. Das ganze Menschenleben: es wird schimmern wie Gottes Saal in lauter seligem Glanz. Gebt ihm euch hin! Seid Gottes Kinder! Die Herrschaft Gottes kommt nun! Es ist nun die selige Zeit, davon die frommen Helden geredet haben! Hört, glaubt mir und freut euch! ...« So sagte er. Da freuten sich die armen, unterdrückten, zagenden Menschen und wunderten sich. Sie freuten sich über alle Maßen und wurden hingerissen von dieser wunderbaren, herrlichen, langersehnten Hoffnung.

Er zog weiter, das Heimatdorf vermeidend, in die umliegenden Dörfer und Städtchen, von Ort zu Ort. Er erschütterte seine armen, verzagten Volksgenossen aufs tiefste. Er hatte in den langen, einsamen, verschlossenen Jahren das Menschendasein durchgrübelt bis auf den Grund. Den ganzen Tag stand der Jammer in seiner Seele aufrecht: voll Not und Elend ist das Menschenleben und könnte voll Süßigkeit sein. Den ganzen Tag stand das heiße Mitleid in seiner Seele aufrecht: mich jammert meines Volkes; ich will und muß es wandeln, daß es selig ist an den Knien Gottes, so wie ich selig gewesen bin von meinen Kindertagen an. Den ganzen Tag stand unerschütterlich der hohe Mut der alten Helden aufrecht in ihm: »Ich zwinge es; ein Geist Gottes ist in mir; ich überwältige meine Brüder, daß sie sich zu Gott stellen, wo ich stehe und sicher und fröhlich bin. Für das Gute ist die Menschenseele geschaffen, göttlich ist ihr Wesen; es wird ihr sicher gelingen, Satan hinauszuwerfen samt seinen Engeln. Ein Sturmwind der Erlösung von dem Bösen wird durch das ganze Volk brausen; die Guten werden die Bösen überzeugen und überwinden; die Feurigen werden die Langsamen mit fortreißen; die Stillen im Lande werden den Widerstand der harten Frommen brechen. Dann werden Gott und seine Engel vom Himmel auf die Erde stürzen und im Volke herrschen; ein reines, fröhliches Volk wird unter Gottes Hut stehen, frei von aller Sünde und aller Not, jedermann glücklich unter seiner Linde.«

Das war sein Glauben, das war seine Liebe und seine Hoffnung; und das verkündigte er mit einem Geist, der aus der Tiefe wunderbar hervorsprühte, und mit Worten, welche wie Tautropfen im schönen Garten funkelten. Und das verkündete er in einem lebhaften und von Natur edlen und tieffrommen Volke, das eine herrliche Vergangenheit hatte und nun in einem elenden, verzweifelnden Zustand nach Glück und Freiheit schrie. Es war kein Wunder, daß er die Gemüter hinriß.

Es flog eine Erregung durch die nördliche Landschaft, seine Heimat; es ging wie ein Hochzeitszug von Dorf zu Dorf. Die trüben Augen der Menschen wurden wieder hell. Große Zeiten und ihre Stimmen, lange verklungen und verrostet, summten wieder und sangen. Es wurden auf den Türschwellen und am Herd einmal wieder große Dinge beredet: Gott und Seele und Vaterland, das Zeichen einer großen Zeit. Es kam Schwung in die träge Masse.

Die Stillen im Lande hatten ihre helle Freude an ihm: »Er zählt nicht an allen zehn Fingern her, was man tun muß und tun darf. Siebenmal und siebenmal, und das darfst du essen, und das darfst du nicht tun, und wenn Sonntag ist, ist es so und so. Wer kann sich um all die Gebote scheren? Er hat eine einzige einfache Wahrheit: Gib dem Vater im Himmel und deinen Mitmenschen deine Seele! Du sollst sehen: selig bist du! ...« Da saßen und standen in der Abenddämmerung Fischer am Strand bei ihren Booten; die hatten ihm zugehört und zugesehen. »Simon ... was sind deine Augen so blank den ganzen Tag und sagst kein Wort? Bist doch sonst der Lebendigste? Was sagst denn du zu diesem Mann?« Da stand Simon vom Bootsrand auf, mit zitterndem Mund und die Augen an der Erde: »Brüder, sorgt für mein Boot und mein Netz ... Gott seine Seele geben? Das ganze Leben füllen mit Liebe und Treue? ... Selig der Mensch, der mit ihm geht. Ich ... ich will ihm nachgehen und sehn, ob das Gottesreich kommt.«

Die kleinen Zollbeamten umdrängten ihn. Er war ihr Mann. Die Nationalisten sagten zu ihnen: »Siebenmal beten und waschen und Amt niederlegen. Wenn ihr das und das und das nicht tut, seid ihr Sünder und vaterlandslose Wichte und kommt in die Hölle.« Er nicht so. Er schalt nicht; er fluchte nicht. Er zeigte ihnen das Glück der Seele, welche aus freier Liebe treulich auf seiten Gottes des Guten steht. »Ein leichtes Joch ist das,« sagte er, »und wirklich eine sanfte Last. Dagegen all das andere: die vielen Kirchengebote, böse Taten, böses Gewissen, Angst, Lebensnot ... wie schwer ist das! Das Menschenleben, fern und ohne Gott, ist viel zu schwer für Menschenschultern, aber als Kind an Gottes Knien, da kann man es wohl rein und tapfer führen. Und danach kommt das Gottesreich.« Als sie das hörten, freuten sie sich und sagten zueinander: »Was soll man dagegen sagen? Das ist schlichte Wahrheit. Was sagst du, Matthäus? ... Matthäus, du bist ein Grübler: was sagst du dazu? ...« Am selben Abend sah er den Matthäus in der Zollbude hinter seinem Amtstisch sitzen, und, so im Vorübergehen, warf er ihm einen langen Blick zu. Der ging dem Mann durch und durch. Er stand langsam auf, gebannt von den wunderbaren Augen und von der reinen, zwingenden Güte. Mit blassem Gesicht nahm er seinen Mantel und ging hinter ihm her.

Alle die Kranken, die in langjährigem Siechtum, oft von ihren Kindertagen an, bei ihren Verwandten elendig dahinlebten, und alle die, welche Schwermut oder Einbildung oder Wahnvorstellungen oder ansteckende Krankheiten aus dem Familienkreis herausgestoßen hatten, die in abgelegenen, verfallenen Hütten lebten ... es waren Tausende ... diese alle kamen in heiße Aufregung. Sie glaubten alle, daß sie wegen irgendwelcher Vergehungen von Satansengeln bestraft und bewohnt waren. Zu diesen, von den Teufeln bewohnten, kam dies holdselige, gütige Menschenkind, dies Kind Gottes, und hatte in seinem Herzen nichts als Freude, nichts als übermächtige Hoffnung: »Alle Not hat ein Ende! Das selige Reich Gottes kommt!« Da schrien sie: »Seht! Seht! Einer von der Art der frommen Helden! Ein Gott wohnt in ihm! Ein Geist Gottes! So muß er helfen können uns Armen, in denen ein Geist des Bösen wohnt!« Da umstand ihn ein Haufe Jammernder, Fluchender, Bittender; wirre, irre, verkrüppelte Menschen.

Man kann sich das Bild nicht erschütternd genug malen. Das Volk hatte wohl nicht mehr Kranke als ein anderes, aber all seine Krankheit lag ohne Arzt, ohne Hilfe, ohne Hausmauern, ohne Decke, ohne Barmherzigkeit auf der Straße. Nun kam Hilfe. Hilfe von Gott. Zehntausend Kranke und ein Arzt! Und er? ... er? ... er weiß eins: im Reiche Gottes dürfen und werden keine Kranken sein. Von all denen, welche das Böse abtun wollen, sich auf Gottes Seite stellen, fällt der böse Geist der Krankheit ab, wie Lumpen abfallen. Da, wo Herz und Willen ihm entgegenschlugen: da konnte er heilen. Von seiner Seite ein heiliger, fast wilder Wille zu helfen, ein heißer Aufschrei zu dem »Vater im Himmel«: Soll deine Herrschaft nicht kommen in diesem Land? Von der anderen Seite ein andrängender Glaube, die ganze kranke, zarte Willenskraft an seinen mutigen Augen hängend: da konnte er helfen. »Du bist Gottes Kind? Gottes Kind kann nicht krank sein ... Komm, gib mir deine Hand ... So ... Steh auf ... So ... Sei ruhig ... nun freue dich ...« Da schrien die Irren: »Seht den ›Heiland!‹ ... der ›Heiland‹ ist er!« ... Es durchschüttelte ihn. »Der Heiland? ... Führe mich nicht in Versuchung! Böse Geister reden aus ihnen!«

Er kam am Abend in ein Dorf am See und ging in die Hütte eines Bekannten. Da füllte sich die Hütte gleich mit Menschen. Fenster und Türen waren von Menschen vollgestopft. Da war ein junger Mensch im Dorf, hysterisch, willenlos, nach seinem und des Dorfes Glauben vom Satansengel geschlagen, lag schon jahrelang in Stumpfsinn und Trübsinn, stumm und gelähmt. Vater und Mutter nahmen die Bahre und kamen vors Haus und baten: »Laßt uns hinein!« Aber es war nicht möglich. Da fassen starke Hände an und heben die Bahre aufs flache Holzdach und nehmen einige Bretter weg. An Stricken gleitet der Kranke zu Jesu Füßen. Ein Schreien erhebt sich, ein Rufen von allen Seiten, ein wildes Drängen, heiße, neugierige Augen sehen auf ihn: »Du kannst helfen ... du mußt helfen ... hilf dem armen Menschen ...« Der Kranke sieht mit bangen Augen zu ihm auf. Da beugt er sich über ihn, heiliger Helferwille, stolze Gewißheit schoß auf den Kranken hernieder: »Weil du mit herzlicher Bitte und bangem Glauben kommst: du bist frei von böser Gewalt. Machtlos sind die bösen Geister. Gottes Kind bist du. Gottes Zeit ist gekommen. Steh auf und geh ...« Da schrie der Kranke auf und hob sich ...

Es war eine große Zeit. Ein Frühlingssturm ging durch das kleine Land. Er trug den Sturm, und der Sturm trug ihn. Die Herrschaft Gottes war in der Tat im Beginnen. »Es ist klar: das ganze Volk wird erobert werden! Alles Gottes Reich und Herrschaft! Er, dessen Wille bisher nur oben im Himmel geschieht, der geschieht nun auch auf der Erde. Das Land wird nun heilig, und ein heiliges Land wird glücklich und frei. Wer und was soll Widerstand leisten, wenn Gott und Menschen zusammenstehen?«

Da steigen an dem lachenden Himmel die ersten schwarzen Wolken auf. Zwei, drei zu gleicher Zeit.

*

Es war der Glaube seines ganzen Volkes, daß ein »Heiland« die Gottesherrschaft bringen würde. Also fing es bald nach seinem Auftreten im Volk an zu raunen: »Ist dieser der Heiland?« Es entstand ein schweres Grübeln und Fragen: »Ist er es? Ja, er ist es. Seht doch seine Augen: er ist ein Gotteskind! Seht, wie gütig ist er, und wie gesegnet sind seine Hände!« Aber dann stutzten sie wieder: »Nein, er ist es nicht. Wie könnt ihr sagen, daß er es ist? Wißt ihr nicht, daß der Heiland aus einem alten Königsstamm sein soll, daß er das Gesetz erfüllen wird und alle Krankheit heilen, daß er die Unterdrücker vernichten und ein Weltreich aufrichten will? Er ist nicht der Heiland ...« Der Held sah, welch eine tiefe Kluft zwischen seinem und seines Volkes Glauben war. Er sah, wie das Volk irre an ihm war, wie es sich von seinem alten, irdischen Glauben nicht losreißen konnte. Er sah, wie es immer Lust hatte, ihn mit diesem alten Glauben zu verquicken. So wie die trübe Brandung um die Felsen rauscht und springt, so wühlte und zerrte an ihm der wilde, irdische Glaube seines Volkes. Das Volk will, es verlangt und fordert wild und heimlich: Sei ein Heiland, wie wir ihn uns denken. Er aber stand da: reines Herzens, holder Seele, ein Kind und ein Held: ich will ein Heiland sein, wie mein Vater es will. Da fiel auf seine hohe, reine Seele ein Schatten.

Die Kranken und die Irrsinnigen umdrängten ihn allzusehr. Das war eine große Not. Es ist dabei und daran, daß er ein Wunderdoktor wird. Was das Volk auch jetzt noch immer und immer wieder als ein unumstößliches Urteil ausspricht: Gesundheit ist das höchste Gut: das war auch damals sein Urteil. »Mach' mich gesund! Und mich! Und meinen Bruder! Und mein Kind!« Leibliche Not stieg riesengroß um ihn und drängte ihn von seinem Wege ab. Er war unterwegs, nicht um einige hundert Kranke von leiblicher Krankheit zu erlösen, sondern um sein ganzes Volk auf Gottes Seite herüberzuziehen und damit von allem Übel des Leibes und der Seele und des Staates zu befreien. Er sah die Gefahr, die da riesengroß stand, es kam eine Unruhe über ihn, ein Hasten von einem Dorf zum anderen, ein Wunsch, auf einsamen Feldern grübelnd zu sinnen, ein Aufspringen: wir müssen weiter.

Von Süden her, von der Hauptstadt her, kam eine dritte Not ... Die Nationalisten und Klerikalen, die um die große Hauptkirche ihren Sitz hatten, schickten zu dem armen Landvolk des Nordens sonst nur ihre geringeren Lehrer, Priester und Agenten. Nun aber kam von dort her dieser helle, klingende Ton: »Der Vater im Himmel richtete seine Herrschaft auf in unserem Lande und macht selig und frei.« Da merkten sie gleich an dem frischen Klang, daß es eine Teufelssache wäre.

Da schickten diese Oberaufseher der Religion und des Patriotismus ihre engsten und schwärzesten Agenten nach dem Norden. Die beobachteten ihn nun mit finstern, harten Stirnen. Was für ein Umgang! Mit dem kirchenfeindlichen, gleichgültigen Volk! Mit den Zollbeamten, den Landesverrätern! ... »Ja,« sagte er und spottete: »Was soll ich mich um die großen Heiligen kümmern! Um die Starken, um die Alleswisser! Die brauchen keinen Arzt! Ich liebe die, welche nach Heil und Heiligung aussehen, die nach Stärke hungern und dürsten ...«

Sie traten an ihn heran. Rund um ihn her erhobene Finger, und an jedem Finger hing ein Gottesgebot. »Gott sagt, man soll fasten.« »Ach,« sagte er, »wir fasten von selbst, wenn uns Not und Angst die Kehle zuschnürt.« »Gott sagt, du sollst am Sonntag nicht arbeiten.« »Ach,« sagte er, »seid doch am Sonntag fröhlich und hilfreich ...« In Worten, die von Klarheit und Güte glänzten, stellte er gegen ihre verdrehten und unsinnigen Anschauungen seine Wahrheit, die den Menschen einleuchtet wie Sonnenlicht ... Er meinte noch, daß sich der Bruch mit diesen Leuten vermeiden ließ. Er wurde ja vom Jubel des Volkes getragen. Er dachte noch: ›Diese Dunkelmänner werden mit fortgerissen werden;‹ er dachte noch immer in seiner reinen, mutigen Seele: ›Mein ganzes Volk heilig und selig unter Gottes Zepter‹ ... Wenige Tage danach, über ihre Ohnmacht verbittert und verfinstert – es gibt nichts Grauenvolleres in der ganzen Welt, als wenn lieblose Herzen die Religion zum Beruf haben – raunen sie dem Volk zu: »Ein Brecher der Gottesgebote ist er; seht ihr's nicht: Mit dem Bösen tut er seine Heldentaten.« Da richtete der heilige und gütige, der immer barmherzige Helfer sich auf; er stand vor ihnen, wie einst der Gottesengel im heißen, auffahrenden Zorn vor Kain stand: »Hütet euch! Wer mit wissender Seele das, was gut ist, böse nennt, der wird ewiger Sünde schuldig.«

Da duckten sie sich und traten wieder zurück, und lauerten und berichteten nach Süden, nach der Hauptstadt: »Dieser Mensch macht der Kirche hier im Norden ein schmähliches Ende; er ist eine schwere Gefahr für Gott und Vaterland.«

Und sie lauern und schleichen ... Und bald darauf bringen sie es fertig, daß seine eigene Mutter und Brüder sich aus dem Heimatdorf aufmachen und vor dem Hause erscheinen, in dem er gerade weilt. »Wir haben gehört, daß einige sagen, er sei einer von den alten heiligen Helden; andere sagen sogar: er sei der Heiland. Ein armer, irrer Mensch ist er. Helft uns, daß wir ihn mit nach Hause nehmen.«

Als sie ihm drinnen sagten: »Die Deinen sind draußen und jammern um dich,« da stand dem tapferen, reinen Helden einen Augenblick das Herz still; dann aber sah er wieder auf. Und es war gut, daß er in diesem Augenblick, bei diesem Aufsehen, in einige Gesichter sah, die mit strahlenden Augen auf ihn sahen. »Ich habe keine Mutter,« sagte er, »und auch keine Brüder. Die, welche den Gotteswillen tun, die sind mir Mutter und Brüder ...«

Aber die Heimatwunde brannte. »Von den Meinen verlassen? Sie kennen mich doch von meinen Kindertagen an und wissen, daß ein guter Geist von Gott wahrhaftig in mir ist? ... Ich ... ich will nach meinem Heimatdorf, ob sie mich nicht anerkennen ...«

Er ging von Dorf zu Dorf, durch die Scharen der Verehrer und der Neugierigen, der Elenden und Kranken, Kirchenagenten an allen Ecken: da kam er an.

Im Heimatdorf waren sie auf seinen Empfang vorbereitet. Sie sahen ihn finster an. Der Zimmermann Jesus, der Sohn des alten Joseph: der will klüger sein als die gelehrten Priester aus der Hauptstadt? Der will ein Heiliger und ein Held sein? Wohl gar der Heiland selber und das selige Gottesreich bringen? Wenn du kannst ... sieh ... da steht ein Kranker! Den kennst du von Kind an! ... Hilf ihm ...« In den Augen des Kranken ist kein Funke von Vertrauen und Liebe. Sein Mut und seine Zuversicht sind gelähmt. Er kann ihm nicht helfen.

Da spotten sie über ihn, und heißer Zorn flammt auf. »Er hat unser Dorf lächerlich gemacht im Land, der Narr.« Sie wollen sich an ihm vergreifen. Er geht.

Die Heimat ist für ihn verloren.

*

Von diesen Tagen an ging sein Weg in den Schatten hinein; von diesen Tagen an hatte sein Gesicht einen Ausdruck heißen Kampfzornes. Er weiß jetzt: nicht alle werden Gottes Kinder! Scheidung muß kommen! Davon redete auch der Held am Flußufer; davon reden auch die alten Bücher. Wohlan denn! Also Scheidung! »Ihr meint, ich bin gekommen, Friede zu bringen? Schwert bringe ich ...«

Er fürchtet sich nicht. Seine flammenden Augen suchen den Gegner. Er kennt seinen Weg und fürchtet ihn nicht. Der Handwerksmann nimmt es mit seines Volkes Geschichte auf und mit den Großen seines Volkes und mit allen Dingen und Gewalten der Welt. Er weiß: die Macht alles Bösen ist zu Ende! Gott ist mit ihm und gibt ihm Sieg. »Feuer ins Land zu werfen, bin ich da«: das ist seine heiße, neue Erkenntnis. Und mit zornigen Augen fügt er hinzu: »Wie wollte ich, es brennte schon lichterloh.«

Ein klarer, scharfer Trompetenton geht durch das Land. So empfängt das Regiment, das im Morgengrauen aufrecht steht, das Signal vorzugehen und rückt gegen den Feind. Es ging den Leuten durch Mark und Bein. So tief stieg noch keiner zu den heiligen Quellen hinunter, wo im Menschen das Göttliche heimlich wohnt. So gewaltig, so umstürzend sprach noch keiner.

»Hundertundzwanzig Gesetze halten, meine Brüder? Aufgelegt wie man einen Sandsack auf einen Esel legt? Das soll einen frommen Menschen geben? Beten, Fasten, Kirchenlaufen, Waschen? Das Herz rein, meine Brüder! Und die Hände immer bereit zu Güte und Treue! Die den Willen Gottes tun: nur die werden im freien, glücklichen Vaterland wohnen können. Reinigt Seele und Leben! Ganz heilig! Das Reich Gottes ist nah und scheidet die Menschen!

»Was steht in dem alten Buch? Ihr sollt nicht töten? Ich sage euch: Weg mit jedem Zorn und jedem Haß. Eure Seele glühe von Vergessen und Vergeben ... Was steht im alten Buch? Ihr sollt nicht ehebrechen? Ich sage euch: Reizt es dich, ein fremdes Weib von ferne anzusehen: Straf dein rechtes Auge, reiß es aus; sei einäugig ein Reiner ... Was sagt das alte Verbot? Du sollst nicht falsch schwören? Ich sage euch: Unter den Gotteskindern ist Lüge ein undenkbar Ding. Ja und nein: das ist genug ... Was ist ein altes heiliges Wort? Für meine Augen zahle deine Augen, für meines Bruders Zahn zahle deinen Zahn? Ich sage euch: Widersteht den bösen Menschen nicht. Laßt euch schlagen! Mit deiner Güte besiegst du ihn ... Sei nichts als Güte und Erbarmen. Gib alles hin: Rock und Familie. Habe keine Gedanken als: Vater im Himmel, dein seliges Reich kommt! Was ist Hab und Gut, Recht oder Unrecht im Gottesland? ... Wenn es euch aber geschieht, daß die alte böse Macht euch von Gott wegziehen will, dann ruft rasch und betet, betet dringlich und sicher. Ihr werdet erhört. Sicher werdet ihr erhört! Wird ein gewöhnlicher Vater seinen Kindern, die ihn um Brot bitten, Steine in ihre kleinen Hände geben? ... Um was aber sollt ihr beten? Um Kleinigkeiten? Um Kleider und Schuh, Haus und Hof, gute, getreue Nachbarn und desgleichen? Nein. Wohl um ein wenig Brot für heute, um das Leben zu bergen, wenn das wunderbare Gottesreich kommt. Um das Gottesreich betet! Betet, daß es kommt! Betet, daß ihr bereit seid. Betet: Vater unser, dein Reich komme! Dein Wille geschehe auf Erden, wie er im Himmel bei den Engeln geschieht. Gib uns heute Brot. Vergib Schuld, wie wir vergeben.«

Er sah in ihre Gesichter und sah, wie schwer es darin kämpfte. Er sah in ihren Augen den Kampf zwischen fröhlichem Glauben und niederdrückender Sorge.

Da redete er mit harten Worten gegen alles irdische Gut ... »Verflucht ist das Geld. Und was im Schatten des Geldes schleicht, die Sorge. Schuldig ist der Reichtum: Er zieht die Gedanken an sich und allmählich die ganze Seele. Schuldig ist der müßige, gedankenlose Reichtum, der das Volk vergißt, das arm und krank in enger, sonnenloser Wohnung rund um ihn wohnt. Verflucht ist das Geld. Hast du es, so bist du schuldig. Sühne die Schuld. Gib dein Geld hin, daß die Armut im Lande gelindert werde.«

Einer stand auf und kam zu ihm: »Herr, mein Bruder betrügt mich um mein Erbteil. Sag' ihm, daß er es mir gibt.« Er wandte sich verächtlich ab. »Mensch! Wer hat mich zum Erbschlichter gemacht! Ich, ein Schiedsmann über Ackerstücke und Viehherde! Ich bin da, zu sagen: Laßt fahren euer Geld. Seht: Die Sperlinge säen nicht und die Lilien spinnen nicht, und der Vater im Himmel macht sie alle Tage satt und kleidet sie köstlich. Sollte er seines Reiches Kinder, die Sorge seiner Seele, hungern und frieren lassen? Weg mit dem Geld! Es ist nichts wert: es hindert euch. Sammelt euch nicht Geld, sammelt euch Gottes- und Menschenliebe. Sorgt um das eine: Gottes Land soll unsere Heimat werden. Bald! Morgen! Übermorgen! Sorgt und kümmert, daß ihr der seligen Heimat und der seligen Zeit, die ganz nahe ist, würdig seid.

»Seid nicht bange, Gotteskinder! ... Zweifelt nicht an eurer eigenen Seele. Gott wohnt in ihr und hilft ihr. Seht wie klein ist das Korn des Senfs. Man hält es zwischen zwei Fingerspitzen. Und es wächst, und wird von selbst ein Bäumlein. Seid nicht bange, Gottes Kinder, richtet allen Willen auf das eine: immer die Seele an Gott heranbringen. Alles andere vergeßt, um alles andere kümmert euch nicht ... Der Kaufmann geht an den Strand, will kaufen, was zu kaufen ist. Da hat ein Perlenfischer eine Perle in der flachen Hand, von unendlichem Wert. Sie ist billig zu kaufen. Das ist ein Handel! Das ist ein Handel! Da ging der Mann hin, eilig; er verkaufte und schlug weg Land und Haus und all seinen Hausrat, und kam wieder, das Geld in der flachen Hand. Und kaufte die Perle. Schwer reich wurde er in einem Augenblick. In dem Augenblick, als die Perle in seine Hand hinüberglitt. Menschen, rein die Seele und dicht bei Gott! Gottes Seligkeit ist billig zu kaufen. Seht meine Augen, und seht mein Leben und all mein Tun ... Gottes Seligkeit wohnt in meiner Seele. Gottes Seligkeit kommt ... Sie kommt. Seht mich an! ...« Da stand da eine alte Mutter; die hatte ihn immerzu angeschaut, mit heißen Augen; die rief mit ihrer hellen alten Stimme: »Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und selig sind die Brüste, die du gesogen hast.«

Die Seele des Helden ist noch immer voll von hochstehender Hoffnung. Er vergißt und verachtet die Feindschaft der Klerikalen. Die schlimme Wunde, welche die Heimat schlug, will vernarben. Wenn auch viele mißtrauisch sind, Tausende stehen mit seligen Augen vor ihm. Wie eine leuchtende Heroldserscheinung geht eine hohe Aufregung vor ihm her. Getreue stehen links und rechts von ihm wie ritterliche Wachen. Jubel schallt hinter ihm her wie wehende Fahnen.

Er wagt es: er schickt die Treuen, die nun schon drei, vier Monate lang mit ihm ziehen, in die umliegenden Dörfer. Sie erzählen: »Alle Not hat nun ein Ende: das Gottesreich, das lang ersehnte, geht nun an. Einer wie die alten Helden, ein Mann von wunderbarer Gnade bei Gott und Menschen, mit hoher Seele, mit Händen, die gütig und stark sind, wandert unter uns. Er ruft den Tag des Heils aus, nimmt Sünden ab, schilt und vertreibt die bösen Geister. Er hat uns ganz und gar bezwungen, unsere Seelen verzaubert, die unsäglich glücklich vor ihm stehen. Glaubt uns, und tut alles Böse ab, daß ihr lachen mögt wie wir: wenn Gott im Himmel nun plötzlich allen unsern Jammer endet und mit vielen tausend Engeln sein Reich baut in unserem Vaterland ...« So zogen sie aus und kamen nach einer Woche wieder. Sie kamen mit strahlenden Gesichtern. »Herr, denke dir: sogar die bösen Geister, die in den Kranken und Irrsinnigen wohnen, waren uns untertan.« Da brach ein Jubel aus seiner Seele: »Ich sah den Satan aus seiner dunkeln Himmelsecke auf die Erde herunterstürzen wie einen Blitz, zu retten, was zu retten ist. Er merkt, daß seine Herrschaft auf der Erde zu Ende geht. Ich aber lache und juble dir, mein Vater im freundlichen Himmelsraum! Ich lache und juble, daß du, Geheimnisvoller, mir dein gütiges Wesen offenbart hast und mich zu deinem Kinde machtest, und mir hilfst, viele andere Kinder dir herbeizuführen. Ich lache und juble, daß niemand dich erkannt hat als ich allein, und daß sie alle nun von mir lernen und sehen, und selig werden. Ich lache und juble, daß es nicht die großen Überweisen sind, denen du dein Reich öffnest, sondern Geringe und Ungelehrte.«

Im Jubel zog er weiter, immer gütig, immer aller Gnade voll.

Ein Nationalist, Simon mit Namen, ein reicher Mann, der gern berühmte Leute bei sich sah und gern den Weitherzigen spielte, lädt ihn zu Gast. Protzig ist die Tafel in offener Halle gedeckt; mit nackten Füßen sitzen die Gäste nach Landesweise.

Da entsteht in der Tür ein Gedränge. Ein armes Mädchen aus dem Volk der Stadt, gequält von der Not eines wilden Lebens, hat gehört, daß er da sei, er, von dem man erzählt, daß in wunderbarer Weise ein Geist Gottes in ihm sei. Sie steht und sucht ihn und kennt ihn an seinen treuen, gütigen Augen, und ihr brechen die Knie. Und wie sie da liegt, kniend und weinend, wäscht sie seine Füße mit ihren Tränen und beugt sich tief, und trocknet sie mit den langen Strähnen ihres Haares. In der Halle ist es still geworden. Man hört nichts als ihr bitterliches Weinen.

Da sah der gute Held auf und sah das Gesicht seines Wirtes und sah den heimlichen Hohn darin: »Wenn du ein Heiliger wärst, ach! Dann wüßtest du, daß sie eine Hure ist!« ... Da brach ein glühend Feuer aus seinen Augen: »Simon, ich habe dir etwas zu sagen.«

Da wurde es noch stiller.

»Ein Geldmann hatte zwei kleinen Leuten Geld geliehen, dem einen fünfzig Mark, dem andern fünfhundert. Sie konnten beide nicht bezahlen. Da schenkte er es ihnen. Sag' mir: Wer von den beiden wird den Geldmann am meisten lieb haben?«

Simon, mit breitem Gesicht: »Der, dem am meisten geschenkt ist!«

Da fuhr der Gütige im Zorn auf: »Sieh, Simon! Es ist Brauch in unserm ganzen Land, daß man dem Gast, der von staubiger Straße einkehrt, Wasser für die Füße gibt und einen Händedruck. Du hast mir dies beides nicht gegeben. Du meinst, du hast nicht nötig, freundlich zu sein, du meinst, du brauchst weder Gott noch Mensch. Du meinst, du bist niemandem etwas schuldig, nicht einmal fünfzig Mark. Du meinst: Ach, dies verlorene und verdorbene Weib! ... Dies Weib, Simon?! Wohl: Gott und Menschen viel schuldig, fünfhundert Mark! Eine große Sünderin! Aber sieh, alle ihre Sünde: vergeben ist sie und vergessen! Darum, weil sie mir Wandersmann, und Gott, den sie in mir wohnend weiß, so viel heiße Liebe erwiesen hat. Die Liebe zu Gott und Menschen, Simon, die deckt eine Menge Sünden zu. Simon: ob dir vergeben ist?«

Und er sprach gut mit ihr: »Gott im Himmel ist auch dein Vater und hat dich lieb. Behalt du ihn auch lieb! Behalt ihn lieb, auch wenn du dich aus deiner Sünde nicht herausfindest! Nun geh! Wein' nicht so!«

So zog er von Dorf zu Dorf, immer der Große und immer der Heilige, mit erneutem Schwung, von Begeisterung getragen.

Aber hinter ihm her ... ziemlich weit hinter ihm her ... da, wo der Alltagsstaub sich wieder auf die erregten Seelen legt: hinter ihm her schleichen und wühlen die schwarzen Feinde.

So wie Krähen auffliegen vom Kirchendach, und fliegen und fliegen, und sehen das einsame Wild in das Winterfeld gehen, immer weiter, und fliegen leise krächzend hinterher: so kommen sie von dem großen Gotteshaus im Süden des Landes und fliegen nach Norden, und fliegen und schreien hinter ihm her: »Du meinst, du willst die alten Heiligtümer vernichten? Du sollst dich wundern, du Narr, wie tief und fest sie noch im Volke sitzen!«

Sie reden mit heißen Worten auf das Volk ein: »Volk, Volk! Bleibe bei dem Glauben deiner Vorfahren! Wollt ihr eure Väter in ihren Gräbern zu Narren machen? Ein ungelehrter Mensch! Fern von allem Kirchentum, irgendwo in einem kleinen Dorf aufgewachsen, am Rand des Landes in der Heide?! Der tastet die Heiligtümer an, welche die gelehrten Gottesmänner bewachen?! Unseres armen, unglücklichen Volkes heiligstes und einziges Gut, seine Kirche?! Denn was haben wir sonst?! Der sollte der verheißene Heiland sein?! Erfüllt er eine einzige Bedingung, die zum Heiland gehört? Des Teufels Dienstmann ist er!«

Sie wühlten und jammerten, drohten und ängstigten. Sie redeten heimlich mit dem stumpfsinnigen Alter, und redeten heimlich mit den Weibern. Sie faßten die Menge an der Dummheit und an der Pietät. Sie befreiten die Menge von der bitterbösen Not, die Sache selbst entscheiden zu müssen. »Wir sind Priester und wissen es.«

Viele hörten nicht auf sie. Die tiefer und zarter Seele waren, mancher schlichte, ernste Mann, manches starke Weib, viele Arbeiter, die sagten: »Was geht uns die Kirche an? Kümmert sich die Kirche um uns?« Viele sahen mit glücklichen Augen auf ihn, ganz hingerissen von seiner Gottinnigkeit, Güte und Wahrhaftigkeit.

Aber die große Masse des Volkes, dies dicke Tier ohne Augen und mit der schweren Bewegung, das ein wenig den Kopf gehoben hatte und ein wenig gelauscht hatte, als er mit seiner klingenden Stimme vorüberzog: das ließ sich einschläfern. »Die kirchlichen Gebräuche und Gebote sind gewiß doch heilig. Wie wären sie sonst so alt geworden? Vater und Großvater haben sich abgemüht, sie treulich zu halten! Weh mir, was für eine Zeit! Daß man so schwer denken soll! Sei vorsichtig, meine liebe Seele! Meine liebe Seele, die Priester müssen es wissen! Sieh, wie kluge Augen die Priester haben, und wie hoch sie die Stirn in Falten ziehen! Fürchte dich, Seele! Ich bitte dich, meine Seele, bleibe beim alten und sei ruhig ...«

Und das dicke Tier wurde wieder ruhig. Und die Krähen flogen weiter, immer hinter ihm her. Lautlos.

Der sonnige Held wandte wieder um und zog seinen Weg zurück. Denn das ganze Gebiet, das er hin und her durchgewandert hat, ist nicht viel mehr als fünf oder sechs Tagereisen.

Und als er umwandte, merkte er, daß das Volk anders gegen ihn war. Er merkte, daß es abfiel.

Er zog weiter und kam in ein Dorf, durch das er vor vier Monaten im Siegeszug gezogen war. Die Leute blieben jetzt in den Türen, als klebten sie auf der Schwelle. Er zog durch mehrere kleine Städte am See. Vor vier, fünf Monaten hatten die Menschenmengen ihn hier bestürmt: Irre schreiend voran, Kranke auf Bahren an der Straße, flehende Mütter, aller Augen voll heißer Erregung auf ihn gerichtet, alle zu seinen Füßen, und er fing an: »Das Vaterland wird nun ein heiliges, seliges Land ...« jetzt: die Straßen leer, ein paar scheue Gesichter in den Türen. Er kommt in das Städtchen am See, das er noch vor zwei Monaten »meine Stadt« genannt hatte, in dessen Straßen und Häusern die Begeisterung bis zum Himmel geschlagen hatte: Gottes Herrschaft war da; sie regierte auf den Straßen und brannte in den Herzen. Auch jetzt kamen wohl Kranke; und es kamen auch alte Getreue. Aber die Menge des Volkes hielt sich ängstlich in den Häusern. »Wir hören keine Fanfaren vom Himmel her. Gottes Herrschaft kommt nicht. Er ist ein heiliger Held, aber er irrt sich« ... Die Klerikalen reden und drohen. Als er das sieht, dies lahme Sinken des Glaubens, dies ängstliche Zurückweichen vor ihm: da kann er den heißen, schweren Zorn nicht zurückhalten. Wie Jähzorn fliegt es in ihm auf: »Weh euch, Städte am See! Ihr habt wunderbare Dinge gesehen. Andere hätten in Sack und Asche Buße getan. Weh dir, meine Stadt! Du warst bis in den Himmel gehoben: Du sollst bis in die Hölle hinuntergeworfen werden.«

Vorbei ist all sein Jubeln. Eine schrecklich schwere Angst legt sich auf seine Seele. Was sollte er nun tun? Seine Seele ist schwanger von einer großen, neuen Welt; nun sieht er deutlich, er kann diese neue Welt nicht in Erscheinung setzen. Was soll er tun? Er weiß, daß der Vater im Himmel dicht bei ihm und mit ihm ist; aber die Menschen wollen nicht glauben. Was soll er tun? Zurückgehen? Das kann er nicht. Wie kann er von dem abfallen, der ihn so fröhlich macht? Wie kann er von der Wahrheit lassen? Was soll er tun? Sich mit den Kirchenleuten vertragen? Sagen: »Fastet weiter, wascht weiter, haltet weiter die Sonntagsverbote, aber habt daneben fromme, reine Herzen?« Das kann er nicht. Wie kann man eine Wahrheit in zwei Hälften schneiden, die eine Hälfte behalten und die andere verkaufen? Und müßte er darum sterben: er bleibt bei der ganzen Wahrheit. Das Ganze tun! Gott ganz dienen! Und dann: wie Gott will! ... »Wie will Gott? Was hat Gott mit mir vor? ...«

Da kommen zwei schwere Ereignisse, gleich nacheinander. Sie bringen die letzte Klarheit. Sie zeigen, wie wildes Wetterleuchten in der Nacht, den weitern Weg.

*

Noch einmal, zum zweiten- und letztenmal, tritt die hohe, finstere Erscheinung vor ihn hin, die vor ungefähr sechs Monaten seine tief träumende Seele mit scharfem, hellem Ruf geweckt hatte. Der Held vom Flußufer. Er war jetzt ein Gefangener. Er schrie in seinem Gefängnis, wie ein gefangener Hirsch nach dem frischen Wald schreit und dem freien Wind. Er sandte zwei Getreue nach dem Norden hinauf. »Geht hin und fragt ihn: Was treibt er? Was will er? Das Volk jubelt ihm zu? Es hat ihn zum König machen wollen? Warum springt er nicht auf wie ein Löwe und füllt mit seinem Brüllen das Land? Ist es nicht die alte Verheißung: Nach Süden zur Hauptstadt soll der Heilige Gottes ziehen, dort auf dem Thron der alten Könige sitzen, und im befreiten Volk ewig herrschen? Warum zieht er nicht nach der Hauptstadt, Schwert in der Hand, an der Spitze des Volkes, das ihm zugejubelt, nun schon sechs Monate lang? Geht hin und fragt ihn: Bist du der gottgesegnete Mann, der Heiland, nach dem wir nun seit achthundert Jahren schreien? Oder müssen wir auf einen anderen warten?«

Die Frage fiel dem gütigen Helden schwer auf die Seele. Er erkannte: »Auch bei ihm das irdische, trübe Heilandsbild! Auch er versteht dich nicht!« Er gab eine kurze und klare Antwort: »Sagt ihm wieder: die Gottesherrschaft ist da; und so sieht sie aus: Krankheit und bitterböse Sünde, und Geldnot und Sorge weichen, und das gedrückte Volk ist voll lachender Freude.« Und er sagte, erschüttert von dem schweren Augenblick, der ihn nun auch von diesem tapferen Helden schied: »Groß und treu ist dieser Mann, aber schwer ist sein Irrtum: er meint wie die alten Frommen, mit irdischer Gewalt komme das Gottesreich. Ich aber sage euch, die Reinen und die Demütigen, die sind Leute und Bürger im Gottesreich. Ohne Wehr und Waffen, ohne Vorschriften und Formen stürmen diese hinein ins Gottesland.«

Als die Klerikalen das sahen und hörten, daß er so über die alten heiligen Vorschriften sprach, machten sie wieder einen Ansturm. Und da sie merkten, daß das edle Wild nicht mehr so überstark war, fuhren sie dreister über ihn her: »Sage uns gerade heraus: wie stehst du zu allen den heiligen Geboten, welche unsere Kirche aufgestellt hat? Das sage uns!« Da warf er ihnen alle ihre hohen, heiligen Gebräuche und Gebote als einen Dreck vor die Füße. »Ihr Heuchler, sind das Gottes Gebote? Unsinnige Menschenerfindungen sind es. Stehen dick und breit im Volk da, wo Gottes Wille stehen sollte! Weg mit all der kirchlichen Form der Frömmigkeit; sie ist der Fluch des Volkes. Aufs Herz und aufs Leben allein kommt es an ...«

Das war das Ende von allen sogenannten heiligen Vorschriften, das Ende von aller angemalten, dick prangenden Frömmigkeit. Alle die alten Heiligtümer: die stolzen und kostbaren Kirchen, die Zeremonien, die tausende Priester, die Rosenkränze und Messen, die Opfer und Sakramente, die Wallfahrten und weiten Kirchwege, all diese schrecklich schweren Dinge, die seit Jahrtausenden auf der Menschheit lasten: sie alle, alle stürzte der tapfere Mann in diesen Tagen. Darum ruhte es nun auf seinen Schultern wie Schwere des ganzen Menschenschicksals. Er war nun ein verfluchter Verbrecher, ein Gottesschänder.

»Hört! Hört! Habt ihr gehört? Alles Heilige schändet er! Alles! Ein Teufelsanbeter ist er.«

Da kroch die Masse, das blinde, dumme, dicke Tier, noch weiter von ihm zurück.

»Was nun? Was soll nun aus mir und meiner Arbeit werden? Ich glaube ... ich glaube ... es geht mit mir in Not und Tod hinein ... Und geht es in Not und Tod ... fahr hin, junges Leben ... Wenn ich nur wüßte: wie führe ich aus, was er mir in die Seele gelegt. Mein Vaterland, wie mache ich, daß du rein und heilig bist, wenn Gott morgen kommt mit all seinen Engeln, sein Reich in dir zu errichten? Wie soll ich das vollenden, gehaßt von den Vornehmen und Frommen, von der Menge bald getragen, bald verlassen? Was fang' ich an? Wie bring' ich mein Volk dazu, daß es einmütig mit mir hineinstürmt ins Gottesreich? Wie will er, daß ich ihm helfe? ...« Und sieh ... als er so bange fragte: da sah er, wie im Nebel, vor sich auf seinem Weg, die alte, heilige Wunderfahne wieder wehen, nach der sein Volk verzaubert starrte, nun schon achthundert Jahre. »Ein Heiland wird kommen! Ein Königssohn!« Wie starrt das Volk! »Kommt er? Er kommt! Da flattert die Fahne. Da! Da zuckt das Schwert!« Ein wilder Schrei der Freude fliegt aus dem ganzen Volk rauschend zum Himmel auf; alles Volk zu des Heilands Füßen.

»Soll ich nach der alten Fahne greifen? Soll ich sagen: ich ... ich bin der Heiland?«

»Die von bösen Geistern Bewohnten schreien: ›Du bist es.‹ Das Volk wollte in mancher hohen Stunde, daß ich sagte: ich bin es. Der teure Held vom Fluß fragt: ›Bist du es?‹ Alle ahnen und wollen: ›Heraus mit der Fahne.‹«

»Erhebe ich nicht die Fahne, so ist es aus mit Gottes Sache und mit meinem Volk!«

»Hüte dich! Fass' die Fahne nicht an! Es klebt Erde daran! Hüte dich: du weißt, deines Volkes Heilandsglaube ist ein anderer als deiner; er ist wild und wirr! Fass' die Fahne nicht an! Sie ist nichts für dich! Sie reißt deine reine Sache und dich dazu in einen trüben Wirbel und in den Tod.«

Er geht nach Norden über die Grenze des Landes. Er will in der fremden Gegend allein sein, mit der kleinen Schar der Getreuen. Seine Seele ist in schwerer, unruhiger Verwunderung.

»Ich weiß doch, daß mein Vater im Himmel mit mir ist ... Mein Glaube irrt sich nicht ... Gott herrscht in meiner Seele ... Er wird seine Herrschaft gleich aufrichten im ganzen Land. Wie wunderlich und schwer: mit Gott einig, und kann doch seinen Willen nicht zustande bringen ... Und es wird Zeit: ich muß nach dem Süden ziehen, durchs ganze Land, nach der Hauptstadt zu, auch dort zu sagen: das wunderbare Gottesreich ist nah. Was soll ich tun?«

»Hör'! Wie die alte Wunderfahne schwer und heimlich rauscht! Ja, wer danach greift: der hat Gewalt. Dem folgt das ganze Volk!«

»Was singen die alten Bücher vom Heiland? Eine starke Gerte aus altem Königsstumpf? Nein, ich bin ein Kind aus schlichtem Volk und ein Handwerker.«

»Was singen die alten Bücher? Was erzählten sie in der Dämmerung an den Haustüren? Daß er irdische Gewalt an sich reißen und mit Roß und Schwert gegen die Feinde reiten wird ... Nein! Das tu' ich nicht, ich will nicht lassen von dem, was Gott mir ins Herz gelegt: Selig sind die reines Herzens sind und die Sanftmütigen.«

»Was singen die alten Bücher? Singen sie kein ander Lied? ... Doch ... Sie singen auch von einem Friedenskönig. ›Sieh, Land, dein König kommt zu dir, friedfertig!‹ Nicht ein König der Schwerter über Schwerter, sondern ein König des reinen, hohen Geistes über reine Geister. Der bin ich.«

So grübelt und so gestaltet er, ein Herr und Gewaltiger, auch über die Geschichte seines Volkes und über seine Zukunft. Auch nicht ein Haar breit wurde er dem untreu, was seiner Seele heiliges Besitztum war.

Sie kehrten um und wanderten wieder nach Süden, der Heimat zu. Und wie er sich dem alten Gebiet näherte, schwoll wieder die Menschenmenge, die ihn umgab.

In seinen Augen stand schon etwas wie Licht von einer anderen Welt. Die Knie derer, die ihn ansahen, sanken. Die Armen und die Kranken feierten hohe Tage. Tausende zogen hinter seinen Helferhänden her und hinter seinen gnadevollen Worten. Sie spürten nicht Hunger und nicht Durst. Er machte die Seelen so fröhlich und leicht, daß sie des Leibes vergaßen.

Nur die Priester blieben kalt. In ihren harten Herzen ist die Religion schon lange zu Gift geworden.

Sie treten ihm mit fliegenden Worten entgegen: »Du bist ein Wundertäter? Aber was sind das für Wunder, die du getan hast? Kranke heilen? Das kann mehr als einer im Land! Sieh hier, auf dieser Stelle, wo du stehst ... auf diesem Heideweg ... laß vom blauen Himmel herunter rotes Feuer regnen ... Oder, wenn es dir besser gefällt: so laß hier an deiner linken Seite, da neben dir auf dem Heideweg, mit reinen Füßen im weißen Sand, einen Engel Gottes stehen.«

Zornig fuhr er auf: »Ein Zeichen vom Himmel wollt ihr, damit euch Glaube und Heiligung nichts kostet! Ihr habt so Großes und Heiliges gehört und gesehen, was niemals auf der Welt gewesen ist, und habt doch nicht geglaubt. Ein Zeichen vom Himmel? Das sollt ihr haben, wenn ihr Tote aufersteht zum Gericht!«

Das Volk hat Frage und Antwort gehört; es zweifelt wieder. Es sieht ja nichts. »Kranke heilen, ja das kann mancher. Wunder tun auch! Die Welt ist ja voll von Wundern!«

Er wendet sich wieder nach Norden über die Grenze in die Einsamkeit, auf stille, menschenleere Heidewege. Der harte, hohnvolle Angriff, das Zurückzucken des Volkes hat ihn getroffen.

»So komme ich nicht zum Ziel. Selige Gottesherrschaft in meinem Vaterland! Wie bringe ich dich zustande? Vater im Himmel, hilf mir ...«

»Du bist der Heiland! Nun bist du stark!«

Weiter auf öden Wegen.

»Was steht in den alten Chroniken von dem Heiland? Sie erzählen von Palmenzweigen und Kinderjubel, und fröhlichem Einzug in die große Stadt, und von herrlicher Herrschaft auf der hohen Burg über ein reines, gehorsames Volk. So reden sie. Aber ... wie ist es ... reden sie nicht auch von anderen Dingen? Summen und singen sie nicht von einem Volk: ›Das Volk wird seine Ohren taub machen und wird sein Herz hart wie Stein machen?‹ Sie singen auch von schnöder Verwerfung, von bitterer Verlassenheit, von jammervollem, einsamem Tod. Sie singen nicht bloß von Sieg, sondern auch vom Tod des Heilands.«

»Und nach dem Tod?«

»Was dann? ... Und nach dem Tod? Was sagt das alte Buch? ›Da kam einer wie ein Menschenkind mit den Wolken zum Himmel, gelangte zu dem Alten der Tage und wurde vor ihn gebracht. Dem wurde dann Macht und Ansehen und Herrschaft gegeben. Alle Völker und Rassen müssen ihm dienen; seine Macht soll ewig und unverändert sein, und sein Reich niemals zerstört werden ... ‹ Es kann wohl sein, daß er sterben muß. Aber dann wird kommen vom Himmel herab Gottes Kraft. Sie wird in den Wolken des Himmels erscheinen in Gestalt eines Menschenkindes. Mit Engeln und Gewaltigen wird es herniedersteigen und Gottes Herrschaft aufrichten.«

Seine Seele erhebt sich bis zu Himmelshöhen und weitet sich, daß sie die ganze Menschheit umfaßt. Seine Seele spinnt ungeheuerliche Gedanken, malt an Bildern übergroßer Herrlichkeit. Seine Seele geht bis an die Grenze des Menschlichen, bis an die Grenze eines erhabenen Wahnsinns.

Furcht ist nicht. Sind die Herzen der Menschen von Felsen, so steht in der Chronik vom Heiland: ›Härter als Felsen, hart wie Diamant mache ich deine Stirn.‹ Nein: Furcht ist nicht. Nein. Den Willen seines Vaters kann er ausführen und wäre er noch so wunderbar und noch so schwer. Wenn nur den Menschen geholfen wird!

An seiner Idee ändert er nichts. Immer, vom ersten Tag seines Auftretens an, hat er die eine selbe Idee: es kann mit der Menschheit nicht so weiter gehen, im alten Trott und alten Jammer, in Krankheit und Irrsinn, Unterdrückung und Elend, und Sünde und Schuld. Es muß und wird ein Wunder geschehen, ein ungeheures Völkerwunder. Die Gottesherrschaft wird und muß erscheinen; darin werden reine, gottfröhliche Menschen, satt an Leib und Seele, den Willen Gottes ganz und lustig tun. ›Dein Wille, wie er im Himmel bei den Engeln geschieht, so wird er auch auf der Erde geschehen.‹ Dies Erdenwerk, heilig und wunderbar, soll er mit Gottes wunderbarer Hilfe zustande bringen. Das ist seine Idee. Niemals und nicht um ein Haar breit verläßt er dies sein wahres, reines Selbst ...

Aber über die Ausführung grübelt und gestaltet er. So wie er die alten heiligen Gebräuche beurteilt und gestaltet hat, so wandelt er und deutet er an der heiligen Hoffnung seines Volkes ... »Ich muß nach der alten Fahne greifen. Aber rein soll sie bleiben und rein mein Weg ... Ich muß nach der alten Fahne greifen: der Glaube und die Begeisterung meines Volkes geht nur hinter dieser Fahne her. Es ist Gottes Wille; denn sonst hülfe er mir ohne die Fahne ... Ich will nach der Fahne greifen. Dann ... dann kommt ... mit Jubel und Brausen, vom Himmel her, mit vielen Engeln auf die Erde herab die Gottesherrschaft ...«

So grübelte und gestaltete der Gewaltige. Hingerissen durch die harte Weltstunde, hingerissen durch seinen hohen, hehren Mut, geht dieser gewaltige Mensch neben den schweren Rossen her, welche im dumpfen Trott, im halbdunkeln Tal den Menschheitswagen ziehen. Er hält die widerwilligen, die schwerfälligen, die schäumenden an kurzem Zügel, und zwingt sie auf einen höheren Weg, wo die Sonne steht und der Wind wandert.

Sie ziehen weiter. Heidewege; drei, vier Tage nach Norden zu. Er voran in Sinnen; die Getreuen hinter ihm her in schwankender Stimmung. Wenn er sich umkehrt und sie ansieht, sind sie gebannt. Seine Augen sind ihre Wonne und ihr Grauen. So kommen sie an den Fuß des Gebirges.

Da schrickt er auf. Wie lange will er denn wandern, ohne sich zu entscheiden? Die Stunde der Entscheidung muß kommen.

»Sagt mir: was sagen die Leute, daß ich sei?«

Ein Jammer ist es, er muß nach der Meinung der Leute fragen.

Die Getreuen reden durcheinander: »Sie sagen, du bist einer von den alten, frommen Helden; von den Toten auferstanden, sagen sie.«

»Und ihr ... was sagt ihr?«

Da ist ein Heißkopf unter ihnen; der riß sein übervolles Herz auf: »Du? Du bist der Heiland! ... Wir wissen es lange.«

»Du bist der Heiland. Du bist es.«

»Sag' es! ... So bist du Herr im Land.«

»Und dann: Schwert hoch! Herunter mit dem fremden König und mit den hochmütigen Pfaffen.«

»Du, König im Vaterland! ... Auf der Schwertspitze dein Königreich.«

»Und wir, deine Treuen, zu deiner Linken und Rechten in deiner Herrlichkeit, deine Vasallen und Minister!«

Da entsetzte er sich, daß diese, seine Nächsten und Treuen, die seit einem halben Jahre mit ihm zogen, ihn so wenig verstanden. Er fuhr sie hart an: »Wißt ihr nicht, was in den alten Büchern steht? Es kann sein, daß es zu Sturm und Sieg geht ... Die alten Bücher singen aber auch ein anderes Lied: ein Lied von Not und Tod.«

Sie schüttelten sehr den Kopf. Das konnten sie nicht verstehen. Sie kannten aus den alten Büchern und von den Herdfeuern ihrer Jugend her nichts als das schöne, wilde Sturmlied: Hoch die Heilandsfahne! Dann gibt Gott mit seinen Heerscharen wunderbaren Sieg.

Der Heißkopf tritt an seine Seite und redet ihm leise zu: »Nicht so viel von Demut und Herzensreinheit und Sterben! Mehr vom Schwert! Hinauf auf den Thron! ... Meister, wer soll an deiner rechten Seite sitzen?«

Da stieß er ihn von sich: »Weg von mir, Satan. Allein auf den Willen Gottes lausche ich. Was hilft es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, richtet aber sein eigenes Selbst zugrunde; und besitzt die ganze Welt, aber hat nicht mehr sein eigenes Selbst? Wer mir nachfolgen will, der soll wilde, fleischige Gedanken lassen und mit mir gehen zu Leben oder Tod, Sieg oder Untergang.«

Sie kehren um ... Zurück in die Heimat.

Ein Einsamer zieht dahin. Ein reiner, gütiger, heiliger Mensch in überhohen Gedanken, in wunderbaren Bildern und Träumen, versengt von seiner Liebe zu den Menschen und zu der ewigen, geheimnisvollen Macht, welche er seinen »Vater« nennt. Niemals war ein Mensch so einsam. Einer gegenüber seinem ganzen Volk, gegen die ganze Menschheit. Er will nach Süden in die Hauptstadt, dort die Gottesherrschaft proklamieren. Die Vollmacht zu dem Ungeheuren trägt er in seiner heiligen, bangen, mutigen Seele.

Wer kann gegen eine wahre, reine Menschenseele?

*

Als sie südwärts wieder durch die Heimat ziehen – zum letztenmal sieht er die grünen Hügel und im Tal den See – da sammeln sich die Menschenmengen wieder um den gütigen Helfer mit den hohen, wunderbaren Worten.

Aber ein neuartiges Staunen und Raunen geht um, und die Getreuen verheimlichen nicht, was sie nun wissen. Ein ungeheures Stutzen geht durch das Volk. »Er hat es also selbst gesagt: er sei der Heiland! Auf den wir seit achthundert Jahren warten!«

»Der Heiland!«

»Soll der Heiland nicht aus altem Königsstamm sein? Soll er nicht in goldner Kriegsrüstung kommen? Soll er nicht ein Schwertmann sein und Sturm laufen? Dieser aber ist ein heiliger, gütiger Mann; und von reiner Seele redet er und Barmherzigkeit.«

Ein heißes, unruhiges Hin- und Herreden beginnt.

Aber ein lauter, ungeheurer Jubel will nicht aufkommen.

Die Klerikalen machen sich an den Herzog, der hier im Norden ein bescheidenes Regiment führt und immer nach Süden horcht, ob er dem großen, stolzen Statthalter des Kaisers in der Hauptstadt einen Gefallen erweisen kann. Sie machen ihn scharf: »Bisher war er ein harmloser Schwärmer; aber jetzt, da er sich den Heiland nennt, ist er ein politischer Verbrecher.«

Der Held erfährt durch treue Anhänger, daß ein Anschlag gegen ihn im Werke ist; aber er ist schon unterwegs nach dem Süden. Die Reise hat Eile. In der Hauptstadt beginnt das große Kirchenfest; viele Tausende kommen da zusammen, aus dem ganzen Vaterland, dazu die verstreuten Volksgenossen aus der ganzen Welt. Da, mitten im Fest und Festesmenge, will er aufstehen und sagen: »Ich bin der Heiland! Ich ... ich bringe das Gottesreich.« Dann ... dann ... wenn er das sagt: wird der Vater im Himmel ihm zur Seite treten mit mehr als Zehntausend von seinen himmlischen Kriegerscharen. Wenn nicht ... bald nach seinem Tod ... wird Gott kommen ... zehntausend Himmelshelfer zu seiner Seite.

Einen verächtlichen Gruß schickt er dem Herzog: »Sagt dem Fuchs: Ich heile Irre und Kranke, und am dritten Tag bin ich am Ziel.« Und mit bitterem Mut sagt er, das Herz nun schon auf harte Not gerichtet: »Ich muß wandern, heut und morgen und am dritten Tag, denn die, welche Gott begeistert und in Flammen gesetzt hat, müssen in der Hauptstadt sterben.«

Wie mit Nägeln schlägt er es in die Seele seiner Freunde: »Ich muß wohl sterben. Aber dann kommt Gott oder Gottes Bote in Herrlichkeit und gründet die Gottesherrschaft.«

So wandert er zum letztenmal durch seine Heimat, nach dem Süden, mit zusammengebissenen Lippen, mit todernsten Augen, mit heißbangem Mut. So weit es möglich ist, verheimlicht er sein Wandern. Er will alle Kraft zusammenhalten, zu dem Tag, da er die Hauptstadt betritt. Aber hinter ihm her und neben ihm und vor ihm ziehen die Heimatgenossen, in dichten Festzügen, denselben Weg, und verkünden es: Der Heiland, der langverheißene, kommt! Der große Wandel im Vaterland, jetzt kommt er! Das Gewaltige, das Ungeheure ist nun da. Aber anders ist es, als wir gedacht ... Anders ... Kommt! Wunderbare Dinge stehen vor euch! Kommt mit, daß ihr es seht! ...

Und wie Krähen fliegen die Sendlinge der Nationalen dem Zug voraus: Ihr da unten! ... Ihr Ersten der Kirche! Die Köpfe hoch ... Er kommt! ... Er kommt! ... Und er sagt: »Der Heiland ist er. Der Heiland!! ...«

Da antwortet, vom hohen Kirchendach her, wildes Aufschreien.

Weiter nach Süden, Stunde um Stunde, bald im Haufen Volks, bald auf stillem Weg. Und immer in ihre Seelen hineingeredet, in schönen, bunten Bildern, daß sie wohlgerüstet und würdig sind, wenn, nach seinem Tod, aus blutig roter Morgenröte der große, selige Tag der Gottesherrschaft anbricht.

Von dem Bauer erzählte er, dessen Sohn leichtfertig in die böse Fremde ging und dort erst tief in den Schmutz kam und dann in schwere Not geriet und sich aufmachte, wieder nach Haus, und so freundlich aufgenommen wurde ... und von der Mutter, die einen verlorenen Groschen lange, lange suchte, bis in die Nacht hinein, und sich so köstlich freute, als sie ihn wieder hatte ... und von dem Hirten, der lange, lange das eine Schaf suchte. Er hatte hundert Schafe, aber er suchte das eine verlorene bis an die Morgenfrühe. Wie freute er sich, als er es fand! Seht: soviel wert ist eine einzige Menschenseele vor Gott! So freut er sich! Sorgt um eure Seele, die so heiß geliebt wird! Sorgt, daß sie würdig ist der seligen Gottesherrschaft, die nun mit Macht im Anzug ist.

So wanderten sie einen Tag; und wanderten den zweiten. Die Züge der Festwanderer werden dichter. Die Hauptstadt ist nicht mehr fern.

Da stellen sich ihm die frommen Narren wieder in den Weg. Sie wollen ihm einen Strick drehen, wenn sie können, mit dem sie ihn binden wollen, wenn er die Hand hebt und sagt: Ich bin der Heiland ... »Hör! ... In den alten Schriften steht, wie du weißt: Wenn es dem Mann beliebt, kann er sein Weib von sich wegschicken. Weg mit dir, Weib, ich mag dich nicht mehr sehn!« ... Er sah sie von oben herab an: »Ehe heißt: eins fürs ganze Leben ...« Er war der erste aller Menschen, der das schwache Weib ebenbürtig neben den Mann stellte ... Ihr Frauen in aller Welt! Ihr müßt ihm viel danken.

Sie treten stumm zurück. Er war immer größer als die alten Vorschriften.

In der Abendherberge im Dorf kamen Mütter mit ihren Kindern, auf dem Arm und an der Hand, und baten, daß er über den Kindern betete. Die Getreuen, wie damals alle Welt, wiesen die Kinder zurück: »Kinder? Geringe Leute. Hart gegen die Kinder! Die Rute über sie! Zurück mit den Kindern! ...« Aber er: »In der Gottesherrschaft, die nun kommt, gibt es keine Geringen; sie werden alle, alle an festlichen Tischen sitzen und satt werden. Besonders die Kinder! Die Kinder besonders! Sie sind voll Vertrauen; darum sind sie die Großen im Gottesreich. Werdet doch wie Kinder! Komm her, Mutter; komm her mit deinen Kleinen!« Und er nahm die Kinder auf den Schoß und herzte sie ... Er war der erste aller Menschen, der die Kinder ebenbürtig neben die Großen stellte. Er stellte, der erste, die Kinder in den Sonnenschein ... Ihr Frauen und Kinder in aller Welt! Ihr müßt ihm viel danken.

Sie wandern weiter, den dritten und letzten Tag.

Der Menschenstrom schwillt an. Festzug auf Festzug geht auf breiter Straße der Hauptstadt zu. Fremde, die von ostwärts kommen, schließen sich an. Sie haben alle von dem frommen Helden gehört und hören nun mehr, und raunen und flüstern und erschrecken über sein Vorhaben und suchen in seinem stolzen, reinen Gesicht, in dem ein Todesmut brennt, wie ein Leuchtfeuer in stürmischer Nacht. Es brandet weit um ihn das Meer.

Ein reicher, junger Mann kniet vor ihm auf der Straße im Staub ... »Guter Meister ... was muß ich tun, daß ich an der Gottesherrschaft teilnehme?«

Er beugt sich zu ihm nieder. »Die alten heiligen Gebote kennst du: Du sollst nicht fluchen ...«

»Das habe ich alles gehalten ... Von meinen Kindertagen an. Aber ich habe keinen Frieden ...«

Da beugte er sich tiefer. Er gewann ihn lieb; er dachte: ›Das ist eine Seele, die zu dir gehört.‹ »Eins fehlt dir noch zum Frieden. Gib dein Vermögen den Armen und komm mit mir.«

Da stand er auf und atmete schwer und trat taumelnd zur Seite und verschwand im Haufen.

»Wie schwer ist es, daß ein Begüterter in die Gottesherrschaft kommt.«

Die Menge schwillt und schwillt, Festzug an Festzug reiht sich. Die Entscheidung ist nahe.

Zwei von den Getreuen drängen sich dicht an ihn heran. »Herr, versprich uns beiden, daß wir nachher deine ersten Leute sind.«

Er sieht sie bekümmert an. »Wollt ihr mit mir sterben?«

»Ja, Herr, das wollen wir.«

Seine Augen strahlen in die ihren: »Es soll so sein, wie ihr sagt: ihr sollt um meine Sache mit mir sterben. Und danach mit mir herrschen. Wer aber neben mir der zweite und dritte sein wird, das bestimmt Gott allein ...« Er wendet sich zu den nächsten Freunden: »Ihr müßt euch nicht Herr nennen lassen. Einer ist euer Herr: unser Vater im Himmel. In der Welt heißt es: Herr, Herr! Herrschen, herrschen! Bei euch heißt es: dienen, dienen. Möglichst vielen dienen. Helfen, heilen! So wie ich diene und mein Leben hingeben will, damit die vielen Tausende los werden von dem bösen, stumpfsinnigen Dienst des Lebens, und das Glück der Menschen komme im Gottesreich.«

In der kleinen Stadt, die vor der Hauptstadt am Wege liegt, wogen die Straßen von der aufgeregten Menge. Ein Mann, klein von Gestalt, steht auf dem Ast eines Baumes an der Straße, ein Staatsbeamter, reich geworden durch das Geld, das er seinem armen, unglücklichen Volk in fremdem Dienst abgepreßt hat. In seinen Augen glüht böses, angstvolles Gewissen: »Weh mir, wenn das Reich Gottes nun kommt. Und meine arme Seele muß draußen stehn ... Und hat das Heilige doch lieb.«

Der fromme Held sieht die Augen. Solche Augen kann er brauchen.

»Wer ist der Mann?«

»Ein Schurke ist er! Ein Volksverräter. Ein verfluchter Zolleinnehmer.«

»Du ... Steig eilig herab vom Baum ... ich will bei dir zu Mittag essen.«

Der geht neben ihm her, stolpernd, und überstürzt sich in seinem Wort: »Herr ... daß du bei mir zu Gast sein willst! Daß du so gut mit mir bist! Herr, die Hälfte meines Vermögens zahle ich aus ... heute noch ... an die Armen. Weil du so lieb mit mir bist! Nie wieder ... nie wieder betrüge ich ...«

Nach kurzer Mittagsrast wandert er auf langsam steigender Straße der Hauptstadt zu, die Getreuen um ihn bald in Grauen, bald in heimlich jäher Freude; vor, hinter ihm, um ihn das Geleit großer Menschenmassen, die ihn alle kennen und heiß verehren, die von Jubel und Neugier brennen, die Seele voll von Wunderbildern.

Im Dorfe vor der Stadt wohnte eine Familie, die ihm von der Zeit früherer Feste her befreundet war. Dort kehrte er zur letzten Rast ein. Ein Reitesel wird gebracht. Decken darauf. So geht es weiter.

Die Hauptstadt liegt noch immer hinter breiten, bewaldeten Hügeln verborgen. Nun aber, nicht weit von der Stadtmauer, umbiegt die Straße den letzten Hügel ... Da liegt die große, reiche Stadt ... Und mitten in ihr die uralte, gewaltige Kirche, so groß, daß sie mit ihren Höfen und Säulengängen und Priesterwohnungen selber eine Stadt bedeutet.

Hier hielt er und sah mit großen Augen auf die Stadt nieder. Und wie er sah, und sah diese Häuser, diese Kirche, und das Schloß, und wie das Getöse der großen, reichen Stadt zu ihm heraufdringt: da wird er gewiß, daß es zu traurigem Ende geht.

Da überwältigt ihn die Not der Stunde und die Angst um die liebe Heimat, und Tränen stürzen aus seinen Augen ...

Aber das ist nur ein Augenblick. »Gottes Wille! Gott mit dir! Und sind ihre Herzen hart wie Fels, so ist meins von Demant.«

Er sah sich nach den Seinen um, mit jenen Augen, die er im Norden hatte, wenn er die bösen, irren Geister mit hartem Wort bannte.

Sie sehen die Augen. Ein tosender Jubel bricht los. Kleider liegen ausgebreitet auf dem Weg. Die Straße ist dicht voll von Palmenwedeln.

»Nun kommt das Gottesreich! Hilf, Gott, in der Höhe!«

»Das ist das selige Reich!«

»Das ist die Gerte aus altem Königsstamm!«

»Selige Zeit nun im Vaterland! Hilf, Gott, in der Höhe!«

Männer und Frauen laufen und jubeln. Kinder springen und singen. Aus den Häusern und aus den gewaltigen Höfen der Kirche strömen die Massen.

Sie haben längst von ihm gehört, und durch nordische Festwanderer, daß er kommen wird. Es ist ein Lärmen und Staunen sondergleichen.

»Selige Zeit ist nun im Vaterland! Hilf doch, Gott! Deine Herrschaft, nun geht sie an! Hilf uns!«

Mit todblassen Gesichtern stehen die Klerikalen an den Hausmauern. Zwei drängen sich zu ihm heran. »Verbiet ihn doch ... den wahnsinnigen Ruf! ...« Er sieht voll Verachtung und Zorn auf sie nieder. »Wenn diese schwiegen, die Mauern würden schreien.«

Die ganze Stadt ist in Aufregung; von der Burg sehen der Statthalter und seine Söldner mit Staunen und Kopfschütteln auf das gewaltige Treiben.

Viele einzelne fragen wohl: »Wer ist das? Wer ist das?«

Aber die Masse des Volkes weiß es: »Das ist der fromme, reine Held von Norden. Er sagt: er ist der Heiland. Er sagt: das große Wunder kommt, die Gottesherrschaft!«

Da stehen die ungeheuren, kostbaren, alten und neuen Bauten der Kirche. Auf den Höfen und in den Hallen das bunte und freche Treiben des Festmarktes. Da stehen Ochsen und Kälber in langen Reihen, da eine vollbesetzte Schafhürde, da Geflügel in Käfigen, da Weintrauben auf Wagen. Da wird auf glattem Zahltisch Kaisergeld in Kirchengeld gewechselt. »Her mit deinem besten Geld und Gut, Volk! Her mit deinem Schweiß! Her damit! ... So! ... Nun ist Gott zufrieden, nun erklärt er dich für gerecht.«

Du armes Volk! Was für ein Gott! Zweimal machen deine Priester dich arm: sie nehmen dir dein tägliches Brot: und sie verkehren dir das Herz in der Brust, daß du nicht siehst, was Wahrheit ist.

Der von Norden kennt Gott anders: Nicht Hände voll Gold will er, sondern Herzen voll Mut und Reinheit, und Brudersinn. Nicht Kirchen will er und hohe Feste, und Mengen von Priestern: sondern, daß Recht und Gerechtigkeit im Lande ist.

Der Held, nun Heiland, steht mitten im Kirchenhof und erhebt seine helle Stimme. Ein Zahltisch fliegt zur Seite. Handelnde Weiber schreien kreischend auf. Schafe rennen, Käfige fallen um. Die Küster laufen entsetzt vor seinem hohen Wesen und seinem blitzenden Wort. »So sage ich euch im Namen Gottes: Mein Haus soll ein Bethaus sein. Ihr Volksmörder! Ihr Räuber! Ist dies eure Höhle?«

Ein wildes Entsetzen läuft durch die Stadt. Ungeheuerlich ist die Tat. Die Bangen fliehen; sie hören schon den harten Schritt der Soldaten. Die Haufen aus der Heimat und das andere Volk jubeln. Die Priester stehen machtlos mit flammendem Zorn in Haufen an den Türen. Ernste und Fromme stehen mit zusammengebissenen Lippen, tiefe Augen auf ihn gerichtet: »Das bedeutet für dich den Tod, du Tapferer und Reiner.«

Leer ist der weite Hofraum von allem weltlichen Handel. Rein ist die Kirche im Land. Gottes Herrschaft ist nun aufgerichtet. Reine Herzen sind hier mit Gott einig, und Hände in Bruderhand. Die Menge drängte sich an ihn.

Er jubelt in seiner Seele: »Ich gewinne sie alle, alle! Es geht geraden Weges hinein in die selige, fröhliche Gottesherrschaft! Ich brauche den bitteren Tod nicht zu schmecken ...«

Abseits aber, im abgelegenen Hof, stehen die Haufen der Klerikalen. »Sterben muß er! Das ist klar. Aber vorsichtig: Das dumme Volk steht zu ihm ... Sterben muß er ... Das ist klar!«

*

Zwei Tage lang ist er König der Volksmassen. Der große Hof und die Hallen, er regiert da. Die Kirche ist rein von weltlichen Dingen ... Kranke werden über die Steinfliesen getragen ... hell klingt der Schritt der Träger. Von der Höhe dieser Stunden fast über Menschen Maß gehoben, im Bewußtsein, nichts für sich zu wollen, allein Gottes Knecht zu sein, hat er wunderbare Kraft in seinen Händen. Kinderscharen stehen zwischen den Säulen und rufen den alten Heilandsruf. Zu seinen Füßen liegen Tausende. Immer neue Scharen hängen an seinem Mund und rühmen die Tiefe seiner Weisheit und seine strahlende Güte, und sättigen ihre armen, verdursteten Seelen. Dies Volk hatte jahrhundertelang an hervorragenden Stellen nur verschrobene Menschen gesehen, nur Gespenster von Menschen, niemals reine, schlichte Menschlichkeit.

»Wie rein ist er, wie schlicht, wie natürlich!«

»Ja, so muß der Heiland sein.«

»Sproß vom alten König!«

»Er ist nicht vom alten Königsstamm.«

»Ist er nicht?«

»Dann ist er ein Betrüger.«

»Das ist nicht wahr ... Sieh doch, wie er aussieht, und hör, was er sagt ... Kann der ein Betrüger sein?«

Da erschienen zwei vom Oberkirchenrat im Tor, vornehme, hohe Männer, und kommen auf ihn zu ... »Platz da! ...«

Die Menge macht Platz. Sie kommen an ihn heran und sagen: »Wir fragen dich, mit welcher Vollmacht trittst du auf?«

Er sieht sie mit bitterem Hohn an. »Sagt mir: Der Held, der vor einem Jahr da unten am Fluß stand und Umkehr predigte, hatte der eine göttliche Vollmacht oder war er ein Betrüger?«

Sie wagen nicht zu sagen: er war ein Betrüger; das Volk weiß, daß er ein reiner, treuer Mensch war. Sie zucken die Achseln und gehen. Hinter ihnen drein fällt wie klirrendes Eisen das Wort von den verbrecherischen Pächtern: »Sie töteten die Knechte, die der Besitzer sandte. Da hatte der Besitzer noch einen lieben Sohn; ... den töteten sie auch. Ich sage euch: der Besitzer wird den Hof andern Leuten geben.«

Die hohe Geistlichkeit ist abgeschlagen. Sie kamen hoch von oben her, aus der Volksferne, und von den Büchern, und vom grünen Tisch; aber sie waren doch fast ehrliche Leute.

Nun aber kommen seine alten Bekannten von Norden her, die schwarzen Schleicher, die heiligen Schurken. Sieh, wie sie die Hände freudig reiben! Wahrhaftig: es blitzt Begeisterung aus ihren Augen! O, diese Begeisterung! ... »Meister! Wir wissen, daß du ein wahrer Mensch bist! Und dich um keinen Menschen kümmerst. Um keinen! ... Unser Herz ist bedrückt ... Also: Wir wollen gern wissen: darf unser frommes Volk dem Kaiser Steuern bezahlen? ... Du weißt: der Kaiser ist leider ein Ketzer.«

Was nun? ... Sagt er: »Nein! Keine Steuern!« so faßt ihn des Kaisers Statthalter, und sie sind ihn los. Sagt er: »Ja,« so kehrt das Volk ihm den Rücken; denn dreimal verhaßt ist die Steuer: weil sie groß ist, und an den Ketzer geht, und außer Landes.

Aber sein Geist geht auf einem höheren Feld. Er ist ein Mensch von ganz anderer Art. Was schiert ihn Geld und Steuer! Reich Gottes hält vor der Tür. »Gebt dem Kaiser, was ihm gebührt, und Gott das andre. Achtet auf eure Seele! Daß sie Gottes Willen tue.«

Da gingen auch die zur Seite.

Gegen Abend kamen vom Schloß her einige Hofleute, so vom rechten Hofgemisch, halb frivol und halb fromm. Die hatten bei Tisch lachend und lebhaft das Ereignis des Tages beredet, und hatten abgemacht: »Sogenannte Volkshelden muß man nicht ernst nehmen. Man tötet sie mit einem guten Witz, mit Lächerlichkeit ...« Was kümmern diese Leute sich um des Volkes Not? Also kommen sie, ein wenig verschmitzt lächelnd, ein wenig fromm, ein wenig betrunken ... »Meister, es ist eine heilige Bestimmung in den alten Büchern: Wenn ein Mann in kinderloser Ehe stirbt, so muß sein lediger Bruder seine Witwe heiraten. Wenn es sich nun ereignete, daß die Frau der Reihe nach sieben Brüder heiratet: wem wird sie dann gehören im ewigen Leben?«

Er gab die kurze, ernste Antwort: »Wenn die Menschen vom Tode aufwachen, dann ist es vorbei mit Freien und sich Freien lassen. Sie sind dann wie Gottes Engel.«

Da ging ein angesehener Mann auf den frommen Helden zu. Er wollte gern für seine eigene Seele und für alle, die umherstanden, in einem kurzen und klaren Wort erfahren, wie der geheimnisvolle Grund heiße, daraus, als aus einer reinen Quelle dies wundervolle, starke und reine Leben komme. »Sage mir, welches Gebot ist das allererste?«

Der Heiland richtete sich auf und sagte ein kurzes Wort, und zerdrückte mit dem Wort alle die hundert kirchlichen Gebote: »Ein einzig Gebot ist: Gott lieben mit brennender Seele und den Nächsten wie sich selbst. Das heißt fromm sein. Alles andere ist überflüssige, schädliche Menschenerfindung.«

Dem, der gefragt hatte, leuchteten die Augen.

Viele leuchtende Augen! ... Viele!

Aber viele Gleichgültige! ...

»Vater und Großvater haben sich immer zu den alten Vorschriften gehalten und waren doch auch tüchtige Männer.«

Und viele Bedenkliche! ...

»Es ist eine gefährliche Sache!! Wer weiß, was daraus entstehen kann!«

»Ich habe ein Haus und ein kleines Feld.«

Und hier und da ein Spötter! ...

» Du kommst nicht in Gottes Reich! ...«

»Ich will auch nicht. Es ist mir zu sauber da ...«

»Ein wunderlicher Heiliger!«

Die alle gehen langsam zur Seite und fallen ab.

Dazu wühlen, lauern, fragen und berichten die Klerikalen.

Zwei Tage hat er nun immer geredet. Immer geredet, und immer gesiegt!

Was hilft solch Siegen? Die Zeit ist ein böser Gleichmacher.

Die Klerikalen wühlen ... »Es ist lächerlich. Der soll der Heiland sein? Wo ist sein Geburtsschein aus altem Königsstamm? Ein Handwerker aus der Ecke des Landes, wo nicht einmal reines Blut wohnt? Wo allerhand fremdes Volk über die Grenze läuft?«

Er hört das Streiten und merkt, daß alles wankt, wenn er in diesem Punkt nicht siegt. Er sagt ihnen, es stünde auch in den heiligen Büchern: der Heiland ist nicht aus Königsblut.

Er redet vergebens; dieser Glaube sitzt zu tief in den Köpfen.

Er hat nichts, gar nichts für das Raubtier im Menschen.

In seinen Händen ist nichts, gar nichts, als Gottinnigkeit, Reinheit, Treue. Damit macht man ein Volk nicht satt, nicht drei Tage lang.

Und die Engel Gottes kommen nicht.

Und sie wühlen, und mischen Sinn und Unsinn, und haben in ihren Händen: Wahrheit und Geld und Angst und Blut.

Sie siegen mehr und mehr.

Er weicht nicht. Er sieht jetzt klarer und klarer, daß die Niederlage kommt. Desto fester steht er; desto starrer wird er. Gewaltig, mit Wunderstärke, erhebt sich in seiner reinen, großen Seele der Glaube: »Gott ist doch mit mir. Und wenn ich ihn auch nicht verstehe, er ist doch mit mir.«

Er reißt aus den alten frommen Büchern an sich, was ihm in den furchtbaren Ängsten, die sich wie unheimliche schwarze Tiere um ihn lagern, stolzen Glauben geben kann.

»Wenn ich nun tot bin ... dann werden schwere Geburtswehen durch das Land zittern. Die alten Feinde rund ums Land und die Glaubensstürme drinnen werden hin und wieder toben; Kinder werden gegen Eltern vorgehen; Bruder- und Schwesterherz wird sich scheiden. Dies alles wird Zeichen sein, daß das Reich Gottes vom Himmel herab herunterstürmt auf die Erde. Plötzlich, mit Gewalt und Herrlichkeit wird in den Wolken des Himmels ein Bote Gottes erscheinen, anzusehen als eines Menschen Bild, und wird Gottes Herrschaft ins Land bringen.«

Sie fragen ihn zweifelnd bange: »Wann wird das geschehen?«

Er kann darauf keine Antwort geben. »Es wird noch zu eurer Lebzeit geschehen. Plötzlich! Seid auf der Wacht! Wacht und betet.«

Während er noch so grübelt und in seiner Brust zu seiner Seele flüstert: »Weiche nicht! Weiche nicht! Das ist Verrat an deinem Vater im Himmel. Seine Herrschaft kommt dann nicht« ... und durch Ausmalung gewaltiger Bilder der Zukunft seine Seele stärkt: da sind die Klerikalen in heißer Beratung, wie sie ihm ein rasches Ende bereiten.

Nun hatte der Held, nach rechter Heldenart, ein köstliches Vertrauen zu allen Menschen. So hatte sich unter die Getreuen ein Schleicher und Weichling eingenistet. Der merkte, daß die Sache hier in der Hauptstadt bergab ging. Da fiel sein bißchen Glauben und sein bißchen Mut hin. Und da wurde er sofort »ganz anderer Meinung«. Es fiel ihm »wie Schuppen von den Augen«. Eitelkeit kam hinzu. Er ging zu den Dunkelmännern: »Gebt mir so und soviel,« sagt er, »so will ich euch heute nacht führen, daß ihr ihn ohne viel Aufsehen gefangen nehmt.«

Sie hören ihn ohne Scham an. Da ist keiner, der aufspringt: »Weg mit dem Lumpen; ich kann ihn nicht ansehen.« Sie bereden die Sache kurz und kommen zu dem Entschluß: heute noch!

Es tritt keiner für ihn auf; es schreit keiner auf in tiefer Angst. In keinem von diesen Gespenstern ist auch nur eine Ahnung, was sie vernichten. Sie glotzen mit dummen Fischaugen die edle, goldene Krone an, die in ihren Teich gefallen ist.

Sie sind alle verdorben und gestorben. Am Leben geblieben ist allein der Getötete, darum, weil er unter lauter Gespenstern ein Mensch war.

Der Abend kam heran. Am Benehmen der Feinde und am Verschwinden des Gefährten haben der Held und seine Getreuen erkannt, daß der Anschlag noch in dieser Nacht ausgeführt werden soll.

Da setzt er sich mit den Seinen zum letzten Mahl an den Tisch.

Es war eine alte Sitte im ganzen Land, daß man an diesem Festabend feierlich tafelte, so gut jeder Hausvater es herstellen konnte. Lammfleisch, Brot in Brocken und Wein in Bechern reichte der Hausvater um den Tisch und gedachte dabei in kurzem Dankgebet alter, grauer, banger Vergangenheit, da Gott sich, nach dem Volksglauben, als ein guter Bundesgenosse bewährt hatte.

Er sprach zuerst wehmütig von der Freude, die er hatte, daß die Feinde ihm diese schöne, friedliche Stunde noch gelassen hätten, alte, väterliche Sitte zu begehen. Dann sagte er mit festem Mute: »Ich sage euch: Ich werde dies Fest nicht wieder feiern. Ehe es wiederkehrt, ist das Reich Gottes da!« Und er nahm den Becher und sagte noch einmal: »Ich werde nun nicht wieder von der Frucht des Weinstocks trinken; es sei denn im Reich Gottes. Wir sitzen bald beieinander bei seligem Mahl, im gereinigten heiligen Land. Das ist mein Glaube.«

Horch, ist das der Tritt von Soldaten?

Er bricht unter Dankgebet das Brot, schwer bangt seine liebe Seele: »So geht es nun mit meinem Leib. Er wird zerbrochen werden.«

Sie stehen vom Mahl auf und gehen in die Nacht hinaus.

Horch, geht Soldatenschritt durch die Gasse?

Er faßt den Feuerkopf am Arm, und redet leise und heftig mit ihm: »Hör! Ich weiß: der Teufel wird versuchen, euch von meiner Seite wegzureißen. Ich habe Gott heiß gebeten um dich; denn du bist der Tapferste. Wenn du dich einst nach der Angst wieder ermannst, dann stärke deine Brüder.«

Der Feuerkopf prahlte laut und wild auf: »Ich? ... Angst? ... Ich bin bereit, jetzt auf der Stelle, mit dir in Haft und Tod zu gehen.«

Da schüttelte ihn der Held; und sah ihn nicht an: »Vor Hahnenschrei, noch in dieser Nacht, wirst du mich verlassen.«

Im Weitergehen wurde seine Seele weich. Das schöne Einst und das schwere Jetzt steht dicht nebeneinander.

»Wißt ihr noch, da oben im Norden? ... Ich schickte euch aus, so wie ihr gingt und standet ... Habt ihr Mangel gehabt?«

Sie schüttelten alle die Köpfe: »Nein, niemals.«

»Aber jetzt! Seht euch vor! Ihr müßt gerüstet sein wie Soldaten.«

»Zwei von uns haben Schwerter.«

Da waren sie wieder auf dem falschen Weg, auf dem er nicht gehen durfte, so sehr auch seine Seele nach einer Rettung schrie. Er brach rasch ab: »Genug davon.«

Als sie in einen Baumgarten kamen, fiel schwere Müdigkeit über die meisten. Sie warfen sich ins Gras und schliefen. Drei der Treuesten gingen ein wenig weiter mit ihm, aber auch sie waren stumpf und müde und sanken hin. Da kam das Gefühl furchtbarster Verlassenheit über ihn, und er bat sie: »Todtraurig bin ich! Bleibt bei mir.«

Sie lagen da, auf den Ellbogen gestützt; wußten nichts zu sagen, stumpf und dumpf und müde.

Da eilte seine arme, einsame Seele von allen Menschen weg zu der ewigen Macht: »Vater ... mein Vater, dir ist alles möglich! Vater, nimm den bittern Kelch weg! Nimm ihn weg! ... Nein, nicht wie ich will ... wie du willst ...«

Wieder zu den Freunden: »Ich bitte euch ... wacht doch mit mir ... du, mein Treuster, wach' doch mit mir!«

Wieder weg von den Menschen, hin zu der ewigen Macht. Er liegt vor ihr auf den Knien und bittet wieder: »Wenn es möglich ist ... nicht mein Wille ... dein Wille. Vater, ist es nicht möglich?«

Es ist nicht möglich. Es ist ein alter, unergründlicher Schöpfungswille: die Menschheit muß durch Leid und Jammer waten. Die Menschheit kommt nur durch das Leiden der Besten weiter.

Er fühlt das auch, nimmt seine zuckende, jammernde Seele in beide Hände. »Nicht wie ich will. Wie du willst.«

So lag er über die halbe Nacht.

Es wird wahr sein, was berichtet wird, daß er Trost gefunden hat.

Da klirren die Waffen.

Der Schurke steht im Fackeldunst ... Schwerter blitzen ...

Zerstoben sind die Getreuen.

Sie führen ihn in ihrer Mitte in die Stadt hinein in den Sitzungsraum des Kirchenrats.

Im Hofraum, um das Feuer, sitzen, liegen Soldaten. Diener gehen hin und her. Allerlei erbärmlich Volk, das von der Kirche und den Kirchenfürsten lebt und einen Wink bekommen hat, sammelt sich.

Ein wenig abseits vom Feuer, im Halbschatten, entsteht ein kurzer Wortwechsel und heftiges Fingerzeigen.

»Du warst doch bei ihm.«

»Ach ... dummes Gerede!«

»Deine Sprache verrät dich ja, Mensch! Du bist vom Norden.«

»Ich habe dich im Kirchenhof gesehen, du standest dicht neben ihm.«

»Verflucht will ich sein!! ... Ich habe den Menschen in meinem ganzen Leben nicht gesehn.«

Todblaß steht er da; die Hände fliegen ihm vor Angst. Kirchenfürsten gehen vorüber.

Geduckt schleicht er sich davon, sprungbereit. Als er vor dem Tor in Sicherheit auf der dunklen Straße steht, weint er laut auf.

Das Morgengrauen kommt, die Kirchenbehörde ist versammelt. Die Sache eilt. Die Sache ist gut eingefädelt. Es handelt sich darum, ihn als einen politischen Verbrecher zu statuieren. Dann fällt er in die Hände des Staates. »Und der Staat ist unser Büttel, und macht schnelle Justiz.«

Also haben sie eine einzige Frage an ihn: »Bist du der Heiland, der König unseres Volkes?«

Der gefangene Held hob das Haupt. In den reinen Augen ist ein Licht, das ist schon nicht mehr von dieser Welt: »Ihr sagt es ja! Und ihr, ihr werdet Gottes Wunderboten, den Bringer seines Reiches, in den Wolken des Himmels erscheinen und herabsteigen sehn auf die Erde.«

Das war genug.

Der Tag war angebrochen. Er wird der Wache übergeben und in die kaiserliche Statthalterei geführt.

Die ganze große Stadt wird wach. Eine Menge Volk füllt alle Straßen. Nun ist da manche Faust geballt. Manches Auge voll Tränen und Zorn. Aber das Schloßtor ist hinter ihm geschlossen. Er ist nun in furchtbar starken und schrecklich harten Händen.

Im Sitzungssaal des Statthalters verklagen sie ihn als politischen Verschwörer.

Der Statthalter, schon ein älterer Mann, hat in Kaisers Dienst wunderliche Sitte von manchem Völklein gesehen und ist mit allem leicht fertig geworden. Wie so viele hohe Leute hat er es ganz verlernt, oder hat es nie gekannt: auf die einzelne Menschenseele zu achten. Er sieht den Angeklagten von oben bis unten an und fragt verständnislos: »Du bist also der König dieses Volkes?«

»Du behauptest es.«

Der Statthalter sieht ihn wieder an: »Mir scheint, er ist ein harmloser Mensch. Ich lasse ihn wieder laufen.«

Das zusammengelaufene fromme Pack, das zwischen den Säulen steht, schreit: »Pfähl' ihn, pfähl' ihn!«

Das war die Strafe des kaiserlichen Strafgesetzes für Hochverrat ... Der Verurteilte wurde an Händen und Füßen an einen einfachen, aufrechtstehenden Pfahl gebunden oder genagelt, dort hing er, bis der Tod eintrat.

So sind in jener Zeit viele Tausende hingerichtet worden.

Die vornehmsten der Prälaten treten an den Statthalter heran und haben eine leise Unterredung. Der Mann sei wirklich ein Hochverräter; viel Volk, besonders von Norden her, hange ihm an. Wenn er den Mann wieder freiließe ... soviel sie wüßten, wäre der Kaiser im Punkt Hochverrat sehr empfindlich.

Der Wink wurde verstanden. Über das Recht geht dem Statthalter sein Fortkommen.

Der Held von Norden wird als Aufrührer, als Kronräuber nach dem Strafrecht des Staates verurteilt, erst ausgepeitscht, um dann an den stehenden Pfahl gebunden zu werden, bis er tot ist.

Die Peitschenhiebe gingen bis auf die Knochen. Man weiß nicht, wie der treue Held diese schreckliche körperliche und seelische Qual erduldet hat. Als das Schlagen aufhört, ist er vollständig erschöpft. Den Pfahl, den er selbst zum Richtplatz tragen soll, kann er nicht mehr heben. Ein Mann, der da zufällig geht, wird gezwungen, ihn anzufassen. Zwei Männer, wegen Straßenraub zu demselben Tode verurteilt, werden mit ihm zum Richtplatz geführt.

Oben über der Stadt, auf einer kahlen Kuppe wird er entkleidet, niedergelegt und an dem Pfahl befestigt. Kräftige Hände fassen an und stellen auf.

Die Soldaten boten ihm von ihrem Trunk an; aber er nahm ihn nicht. Er war wohl schon zu schwach.

Einige vom Kirchenrat und vom Pöbel verspotteten den still Sterbenden. Ebenso die beiden Verbrecher. Sie sagten: »Du bist der König im Land! So hilf dir doch!«

Was in ihm vorging, weiß kein Mensch. Er sagte nichts mehr. Er wußte nicht, warum ihn sein »Vater« verlassen hatte. Er wußte nicht, wohin er ging, und wohin es mit seiner Sache ging. Er wußte nur, daß seine Sache, für die er so jammervoll aus dem Leben mußte, recht und gut war. Er hatte wohl bis zuletzt noch eine leise Hoffnung, daß sein »Vater im Himmel« ihm den Grund des bittern Kelches schenken würde.

Aber es kamen keine zehntausend Engel. Es kam nicht ein einziger.

Von seinen Getreuen und von seinen Verwandten war niemand da.

Er starb, nachdem er einige Stunden schwerröchelnd gehangen hatte, an Blutverlust und Erstickung.

Und das war sein Leben.

Und das war sein Tod.

Er war der schönste der Menschenkinder.

*

Die zersprengten Getreuen eilten zu zweien und dreien, das liebe Leben zu bergen, nach Norden, in die Heimat. Dort angekommen, abgehetzt, in furchtbarer Seelennot, wagten sie es, leise, mit scheuem Umsehn, von ihm zu reden.

»Ist er der Heiland gewesen? ... So kann er nicht im Grabe bleiben ... Ein Gottesbote soll kommen? Und das Gottesreich aufrichten? Er selbst wird der Gottesbote sein!«

»Es sind schon viele von den Toten auferstanden. Es ist ganz unmöglich, daß ein Grab, und wäre es noch so tief, diesen Helden hielte. Wie liebte er Gott! Wie vertraute er Gott! Wie sagte er noch? Kann auch ein irdischer Vater seinem Kind, das ihn um Brot bittet, Steine geben? Sollte die ewige Macht, der er so vertraute, ihm einen Stein gegeben haben?«

»Wie lieb hatte er uns! Welch eine Menschenerscheinung. Wie bewegte er uns das ganze Herz. O, du ... was sollen wir ohne dich! Komm doch, bringe das selige Reich, Heiland du! O, wir brauchen dich!«

»Er wird wiederkommen,« so redeten die alten Bücher; »er muß wiederkommen,« so flüsterten die Menschen und sahen sich sehnsuchtsvoll um. »Er muß wiederkommen,« so flüsterte der See und die Bäume und der Wind in der Nacht in der Gegend, wo er noch vor vierzehn Tagen gewandelt hatte. »Ich muß ihn wiedersehn,« sagte Petrus, der ihn verleugnet hatte, »sonst kann ich nicht leben.«

»Horch! Sahst du etwas, Petrus?«

Und am andern Tag sprang das erste Gerücht auf: Am Ufer, wo er oft entlang gegangen, hatte Petrus ihn abends gesehen. Er hatte da im Dunkeln gestanden, eine freundliche Lichterscheinung, und hatte ihn angesehn.

Am andern Tag flog ein andres Gerücht von Dorf zu Dorf.

Seine alten Freunde, die Fischer, hatten abends vorher am Ufer gesessen, ums Kohlenfeuer, bei Fisch und Brot. Und das Feuer lohte und das Meer rauschte und die Sterne standen am Himmel und die Nacht stand riesengroß um sie, und sie redeten von ihm: »Wißt ihr noch? Damals ... und damals! ... und das! ... Wie war er immer voll Erkenntnis und Wahrheit ... ach, und immer, immer heilig ... immer gütig ... ein herrlich Menschenbild ... Wenn wir hier saßen ... wißt ihr noch? hier am Ufer ... abends beim Mahl ums Feuer ... und das Feuer lohte wie jetzt und das Meer rauschte und er saß bei uns ... und er nahm das Brot ... und sprach mit seiner lieben Stimme das Gebet ... O Gott! Siehst du es? ... Sahst du es? O Gott, ich habe ihn gesehn! ... Er stand da hinter dir! ...«

Am andern Abend wanderten zwei andre von seinen Getreuen im Dunkel auf einsamer Landstraße zur Stadt, in Unterhaltung über ihn ganz vertieft, und sie wandern und wandern und sind Kinder einer Zeit, da die ganze Welt verzaubert und die Nacht voll von Wundern ist, und die Wunde der Seele brennt und die Liebe zu dem wunderbaren Menschen glüht ... »Und sie haben ihn gesehn! Ob er es wirklich gewesen? Er lebt? Er lebt! ... Wo mag er in dieser Stunde sein, und um diese Stunde haben sie ihn gesehn ... wie mag er aussehn? Lieb, sagen sie, und licht ... ja, lieb und licht ... vielleicht ... vielleicht geht er neben uns ... unsichtbar ... und plötzlich ... ein heller Schein und er steht dort am Baum ... Sahst du etwas? ... O du ... stille das brennende Herz! ...« Sie kamen heim, mit brennenden Augen, sie hatten ihn gesehen: »Er ging im Dunkeln neben uns her, und verschwand.«

Nun war kein Halten mehr.

Da er vor wachen Augen nicht erschien, sahen ihn gläubig-sehnsüchtige, von Liebe zu ihm strahlende Augen. Da er am hellen Tag nicht kam, sahen sie im Dunkeln seine Lichterscheinung.

Wochen vergingen ... Da er in Herrlichkeit nicht kam: als flüchtig Licht konnte er sich nicht lange halten. Die Erscheinungen verwehten nach einigen Wochen wie Nebelfetzen.

Aber das Erzählen der Erscheinungen hörte nicht auf. Die Erzählungen vermehrten und vergrößerten das, was man gesehen hatte.

Jahre vergingen ... Er kam immer noch nicht ... Sie redeten weiter von ihm. Er hatte ihnen ja das ganze Herz bewegt. Es bildete sich unter den Fischern und Heidebauern zerstreut, eine Schar von Menschen, die an ihn als den Heiland glaubten und jeden Tag mit brennender Seele auf sein Wiederkommen und das Gottesreich hofften.

Die Jahre vergingen. Die Schar derer, die von ihm flüsterten und erzählten und an seine Sendung glaubten, wurde langsam größer. Sie griff nach der Hauptstadt hinüber; von dort, durch Festbesucher, griff sie nach den Volksgenossen hinüber, die in der fernen, großen Kaiserstadt wohnten. Was für Leute! Aus allen Ländern und aus allem Aberglauben! Syrer und Ägypter, germanische Soldaten und griechische Arbeiter. Wie malten und übermalten sie das Heilandsleben! Sie alle Kinder einer wirren, unruhigen Zeit, Bewohner einer verzauberten Welt. Überall, wo zwei oder drei oder zehn beisammen saßen, erzählten sie leise, mit leuchtenden Augen, von seinem Leben.

Da wurde dies schlichte, tapfere Menschenleben immer wunderbarer.

»Mir hat einer erzählt« – der hat es von einem der alten Getreuen –: »er hat einmal auf dem See gewandelt.«

»Ja ... und kennst du die Geschichte, wie er den Sturm beschwor?«

»Habt ihr schon gehört – ich weiß es von einem, der aus jener Gegend stammt – einmal waren viertausend Menschen ihm nachgelaufen in die öde Heide hinein. Die hat er alle satt gemacht ... was meinst du? mit sieben Broten.«

»Nein: es waren fünftausend Menschen und er hatte fünf Brote: so war es. Und zwölf Handkörbe voll Brocken hat man aufgesammelt.«

»Einen Toten hat er aufgeweckt.«

»Die Hauptsache ist, daß er selbst vom Tode auferstand.«

»Nun ... Das steht fest ... Allen seinen Getreuen ist er erschienen.«

»Die Wache am Grab ist zusammengebrochen.«

»Er hat mit ihnen gegessen und getrunken. Fische haben sie gegessen.«

»Ich habe sogar gehört, als ich einmal zum Fest in der Heimat war, daß er fünfhundert Leuten zugleich erschienen ist.«

»Ja, vor ihren sehenden Augen ist er nach dem Himmel hinaufgeflogen.«

»Nach dem Himmel hinauf? Was will er da? Er will doch hier auf Erden die Gottesherrschaft aufrichten?«

»Ja ... er kommt wieder. Er ist nur vorläufig dahin gegangen.«

»Aber das ist wahr, er ist jetzt im Himmel. Sonst wäre er ja unter uns! Denn er ist doch auferstanden!«

Alles das, was sie einst von dem schlichten Menschenkind vergebens begehrt hatten: wunderbare Herkunft vom Himmel her, königlichen Stammbaum, widernatürliche Wunderzeichen, Auferstehung: das alles legte heiße Liebe, dichtende Phantasie, religiöses Bedürfnis ihm jetzt zu.

So redeten sie, und so warteten sie.

Ein Jahr nach dem andern ging ins Land. Sie beteten zum Vater im Himmel, wie er sie gelehrt hatte: Dein Reich komme; und lebten rein, und halfen und stärkten sich gegenseitig und waren selig in ihrer Sehnsucht. Einige Getreue starben. Und er hatte doch gesagt: »Ich komme bei euren Lebzeiten wieder? ...«

Sie warteten und warteten.

Er kam immer noch nicht.

Da war Gefahr vorhanden, daß seine Anhänger eine dunkle, nationale Sekte blieben. Darum, weil er nicht kam, wie er behauptet hatte. Es war Gefahr vorhanden, daß der fromme, tapfere Held umsonst gelebt hatte, und vergessen wurde; und daß seine herrliche Sache, für die er so tapfer gestorben war, nämlich die Erhöhung der Menschheit, für die Menschheit verloren ging.

Es war Gefahr vorhanden, daß diese zarte, holde Erscheinung wie ein Duft verwehte.

Da trat ein großer, starker, fast wunderlicher Mann auf. Der wurde sein Konservator und sein Herold.

*

Es lebte da, nicht weit von seinem Heimatlande, ein Volksgenosse, ein Nationalist und Klerikaler, ein Mann von großer, nationaler Bildung und allgemeiner Weltbildung, und von scharfem Verstand.

Er war aber ein durch und durch kranker Mensch. Und zwar war seine Krankheit, wie er an vielen Stellen in den Briefen an seine Freunde erzählt, diese: er war von schweren nervösen und geistigen Störungen gepeinigt, welche ihm das natürliche Leben als lauter Elend, Ekel und Sterben erscheinen ließen; von Zeit zu Zeit steigerte sich dieser Zustand zu epileptischen Anfällen, während welcher er, bewußtlosen Geistes, Bilder von wunderbarer himmlischer Herrlichkeit und Schönheit sah. Er war wohl nicht viel jünger als der schlichte, tapfere Held von Norden und hatte ihn mit seinen Augen nie gesehen.

Dieser Mann nun hatte mit vielen Gebildeten seiner Volksgenossen und seiner Zeit einen ganz besonders hohen und wunderbaren Glauben; wie denn jene unruhig hin- und hersuchende Zeit in phantasievollen Köpfen und frommen Herzen manch wunderliches Weltbild zeugte. Sein Glaube, an dem er nach seiner Art mit heißem, ja überhitztem Herzen hing, war kurz dieser:

Von der obern himmlischen Welt, aus der Überfülle seiner ewigen Kraft, wird Gott seinen Boten, ein ewiges, himmlisches Wesen, herunterschicken. Dies ewige, himmlische Wesen, Gottes rechte Hand schon bei der Schöpfung der Welt, größer und herrlicher als ein Engel Gottes, wird seine himmlische Herrlichkeit in einem Menschenbilde verstecken und verkleiden. Als ›Heiland‹ wird er mit den bösen Menschen und Geistern dieser untern Welt in Kampf treten und wird siegen oder sterben. Zuletzt jedenfalls wird er mit Gottes- und Engelshilfe siegen, und wird die Menschheit von allem Übel erlösen. Und nun, dies ewige, himmlische Wesen kommt bald: es muß bald kommen. Wie voll Not und Angst und Jammer ist mein Leben, ist aller Menschen Leben! Es kann jeden Tag kommen. Himmlisch Wesen! Holde Lichtgestalt! Heiland! Reich Gottes! komme! komme! Denn die Welt ist reif.

Als nun dieser Mann, mit diesem Glauben, hörte, daß es im Norden seiner Heimat eine Sekte gäbe, welche behauptete und sagte: der Heiland, der ewige Bote, wäre, als ein Handwerker verkleidet, bereits erschienen, wäre von den frommen Machthabern seines Volkes verkannt und getötet, wäre aber wieder lebendig geworden und käme nun bald wieder: da ergriff ihn eine wilde Erregung und ein harter Haß. Nicht möglich war das! Seine Kirche hätte den Heiligen Gottes verkannt? Die Frommen seines Landes hätten das verkleidete himmlische Wesen nicht erkannt? Betrüger waren diese Leute und Narren! ... Und er rief nach Staatshilfe und verklagte und verfolgte sie mit heißem Zorn und wildem Eifer.

Er hatte aber in seinem Glauben keinen Frieden. Der Glaube war so kalt und leer. Es war eigentlich nur das Gerüst eines Glaubens; es fehlte der heiße, lebensvolle Inhalt. Nach diesem Inhalt sehnte sich der körperlich und seelisch schwer leidende Mann. »Ach, Herr, sende bald das himmlische Wesen! Ach, Herr, wie wird es sein, wenn es kommt? Wie wird es kommen?«

Eines Tages nun, als er auf einsamem Weg hinter ihnen her war, das heiße, fromme Herz voll von Grübeln über den »falschen Heiland«: »Heilig,« sagen sie, »ist er gewesen, und unendlich lieb, und Kinder Gottes wollte er, daß wir Menschen würden – weg mit allen äußeren Formeln der Frömmigkeit ... Ja ... das ist wahr. So sind sie, seine Leute. Wie wunderbar ist ihr Vertrauen zu Gott! Wie fröhlich sind sie als seine Kinder, wie frohgemut unter meinen harten Händen! Wie gütig und freundlich untereinander! Ja ... sie haben alles, alles, was ich mir für meine arme Seele wünsche, und kann es nicht finden ... Und getötet ist er, und ist auferstanden? ... Befreit vom jämmerlichen Leibe? ... Sie haben ihn mit ihren Augen gesehen ... wenn es nun doch wahr wäre? Wenn er es wäre? ... Ach ... wenn er ... wenn er sich mir zeigte! ... wenn ich ihn sähe, auferstanden, erwiesen als ein Himmelsgast; dann ... dann würde ich befreit durch ihn von diesem Todesleib ... ich stände, in befreitem hohem Leben, dicht an Gottes Knie, ein seliges Wesen ... ja dann! ... dann ...« Und sieh ... da ... als er in diesem furchtbaren Zweifel dahinging: da kam einer jener schweren körperlichen und seelischen Zustände über ihn: er sah den, der sein Herz in diese Not riß, umstrahlt, umglüht mit wunderbarer himmlischer Größe und Schönheit.

Von dieser Stunde an war er ein heißer, rastloser Verkünder des schlichten Helden. »Er ist mir erschienen!« sagte er. »Also ist er der Heiland.« Und nun legte er um den schlichten Helden, um dies holde, treue Menschenkind, das ganze Wundergerüst seines hohen, phantastischen Glaubens. Er machte ihn zu dem ewigen Gotteswesen, zu dem großen, ewigen Weltwunder. Er legte um das schlichte, bange, demütige Menschenkind siebenfach glitzernden, schweren Goldbrokat.

Die alten treuen Heidebauern hatten seinen Vater und seine Mutter gekannt, und hatten mit ihm am Tisch gesessen. Sie hatten ihn lachen und weinen gesehen, irrend und zweifelnd, ärgerlich und zornig, gesund und schwach. Er war mit ihnen die langen Sandwege zur Hauptstadt gewandert: sie wußten, daß er nicht der Schöpfer der Welt war, sondern ein Mensch wie sie. Aber dieser feurige, phantastische, in sein Weltbild ganz verrannte Mann hatte ihn niemals gesehen; er wußte wenig von seinem Leben, es interessierte ihn auch nicht: er sah in ihm nichts als das ewige Wunderwesen, gestorben, auferstanden; und nun: »Wacht auf, Menschen! Wacht auf! Gott war in der Welt! Wacht auf! Er kommt ... er kommt! Rasch! ... Morgen oder übermorgen kommt er zurück vom Himmel her, zum Gericht.«

Er überredete mit seinem Feuergeist die alten Getreuen. Er überwand die alten Anhänger. Er überzeugte andere: Volksgenossen und Fremde. Denn man sehnte sich nach einem großen, starken Glauben und nach einem einheitlichen Weltbild. Und er war tapfer und geistreich, und von tiefer, heißer, dämonischer Frömmigkeit. Wie ein heiliger Wahn, sagt er selbst, lebte und glühte in ihm sein neuer Glaube und seine Liebe. Und er war von ungeheurer Phantasie. Er wußte alles: Gottes geheimnisvolle Pläne, und die Erschaffung der Welt, und das letzte Gericht. Alles, alles wußte er. Er baute ein wunderbares Gedankengebäude auf, mit Stangen und Schrauben, starr und steif, doch von einem Feuer der Liebe durchglüht; das reichte von der Hölle und ging durch die Gräber der Toten, und stieg bis zum siebenten Himmel, und wohl darüber hinweg.

Also war nun das schlichte, edle Menschenbild ganz und gar verwandelt. Aus dem treuen, qualvoll kämpfenden, suchenden Menschen wurde ein verkleidetes, ewiges Wunderwesen. Aus dem heißen Liebhaber seines armen, verzweifelten Volkes, aus dem mit zerbrochener Hoffnung Sterbenden wurde der ewige Genugtuer für alle Menschensünden, auch für zukünftige. Aus seiner Forderung: »Die Menschen sind von Natur Gottes Kinder und können Gottes guten Willen tun, wenn sie nur wollen,« wurde die Erklärung: »Die Menschen sind von Natur ganz verdorben und ganz kraftlos, Teufels Kinder, und können nur durch ein Wunder auf Gottes Seite kommen.« Aus seiner Forderung: »Fühl' dich als Gottes Kind! Tu' Gottes Willen! Ein Mensch, der Gottes Willen tut, ist selig,« wurde die Forderung: »Tut so! Aber glaubt dazu, daß der ewige Gottessohn für euch gestorben ist, so seid ihr selig.« Aus seiner Hoffnung, »daß ein Gottesbote kommen würde, in seinem Volk das selige Regiment Gottes aufzurichten,« wurde der Glaube, »daß er selbst als göttlicher, ewiger Richter aller Menschen auf der ganzen Erde, der Lebenden und Toten, wieder erscheinen würde.« Aber in dem einen stand er jenem schlichten, edlen Menschenkinde dicht zur Seite; er sagte wie jener: die Liebe zu Gott und den Menschen über alles!

Er predigte und predigte, brennend, glühend von Liebe zu dem ewigen, himmlischen Wesen und zu Gott und zu den Menschen, die er so bitter gern retten wollte. Er ertrug Not und Gefahr, Spott und Jammer. Fürwahr: ein großer, edler Mann, bei all seiner Wunderlichkeit; und ein tapferer Held. Er predigte bis an seinen Tod: »Das ewige, himmlische Wesen kommt! Es kommt! Und mit ihm das Gericht!«

Aber es kam nicht.

*

Es kam nicht.

Da richteten sich die Gläubigen darauf, daß es vielleicht noch lange ausbliebe. Sie machten es sich ein wenig bequemer. Sie gaben den heißen Glauben, daß er jeden Augenblick kommen könne, auf, und freuten sich der milden Hoffnung: »Nach unserm Tode werden wir zu ihm kommen und er wird sich unser erbarmen.«

Da wurde wieder Platz für Priester. Sie schoben sich leise und sachte zwischen den »himmlischen Erlöser« und die Menschen. Es begann wieder der alte Schacher mit Menschenträgheit und Menschenangst. Ganz wie es zur Zeit des treuen Helden in seinem Volk gewesen war.

Sie sammelten die alten Bücher, über denen der treue Held in seinen jungen Jahren in bangem Sinnen gegrübelt hatte; dazu vier wunderbare Berichte über sein Leben; und die Briefe, welche jener große, wunderliche Anhänger geschrieben hatte, und einige andere Schriftstücke, die von seiner Sache handelten, und banden all diese Gegensätze und Widersprüche in ein Buch zusammen und nannten es »das heilige Buch«, und sagten – und die meisten glaubten es ehrlich –: das ganze Buch wäre unter den Augen Gottes geschrieben und wäre ohne Irrtum und ohne Widerspruch.

Und als dieser Glaube, auf diese Art nun schon zweimal verändert, also eine handliche, bequeme und doch bunte Sache geworden war, da strömten ihm immer mehr Menschen zu. Selbst reiche Leute und Fürsten fanden ihn erträglich. Und als immer mehr hinzuströmten, da schob sich die ganze gewaltige Masse der Gleichgültigen zu ihm hin. Da wurde dieser Glaube Mode und Staatsreligion.

Jahrhunderte vergingen. Die Priester und Synoden berieten und erfanden. Legenden erstanden; Wundertaten alter und neuer Heiligen wurden berichtet und in Bücher gefaßt. Große Gesetzsammlungen wurden niedergeschrieben. Und all diese Berichte und Heiligengeschichten und Bücher wurden, Buch für Buch, auf das heilige Buch gelegt. Das Korn der Priester stand in Blüte und erfüllte mit seinem Dunst weithin den warmen Sommertag. Sie legten immer mehr Menschenwitz auf das alte heilige Buch und kümmerten sich nicht mehr darum, und vergaßen es fast, und dachten nicht mehr daran, daß jemals ein Mensch wieder danach fragen könnte.

Und so war es nun dahin gekommen: Aus dem guten Heidemann, dem tapferen Helden mit dem schlichten, treuen Menschenleben, mit dem wundervollen, reinen Kinderglauben und mit dem einsamen, verzweifelten Sterben, hatten Zeit, Menschenklugheit und -herrschsucht ein starres Fabelwesen gemacht: das saß oben, hinter den Wolken, in steifem Gold, und regierte die Welt. Und neben ihm saß, fast größer als er, seine Mutter. Seine arme törichte Mutter! Und um ihn standen in seidenen Gewändern und mit würdigen, hochmütigen und steifen Mienen die alten, klugen, feurigen Heidebauern, die einst barfuß mit ihm den Sandweg entlang zogen.

*

Die ewige Macht bewegt immerfort, nicht allein die Sterne, nicht allein die Meere, sondern auch die Menschenherden.

Es geschah, daß im deutschen Volk einer aufwuchs von heißer Seele, von starkem, sinnlichem, natürlichem Geist, von hohem, geradem Mut, von tüchtiger Bildung, ein rechter Deutscher. Als der ein Mann wurde, suchte er für seine Seele ein ehrlich Verhältnis zu der ewigen Macht. Da warf er all die krausen und dummen und hochmütigen Bücher, welche die Priester auf das heilige Buch gehäuft hatten, vom Tisch herab in den Dreck, und setzte sich an den Tisch und studierte das heilige Buch.

Und als er es nun studierte, da kam er nicht bis auf den Grund. Er konnte nicht bis auf den Grund kommen; es fehlten noch die Forschungen der Gelehrten. Er kam nicht bis auf den Grund; nicht bis zu dem Menschen Jesus. Es fluteten ihm mit Macht und Fülle die hohen Trompetentöne jenes großen, wunderlichen Anhängers entgegen, des Paulus. Er hörte nur ihn. Er verstand den heißen, überlauten Mann nicht ganz; er deutete ihn etwas um. Er stellte in die Mitte seines Glaubens sein Wort: »Der Mensch wird vor Gott gerecht und lieb durch den Glauben an den Tod und an das ewige Verdienst des Gottessohnes.« Er gewann durch seine Frömmigkeit und durch den mannhaften Mut, mit dem er für seinen Glauben eintrat, die Hälfte seines Volkes. Der Norden des deutschen Volkes und die anderen germanischen Völker, Kraft und Zukunft der Welt, warfen jenes ganze verschimmelte Buchgesammle über Bord und fuhren mit seinem Glauben, dem »Wort Gottes« oder der »Kirchenlehre«, wie sie sagten, in eine gute und stolze Zeit hinein.

Aber sie konnten doch nicht lange damit fahren. Nicht länger als dreihundert Jahre.

Der inwendige, schwere, geschichtliche und auch seelische Irrtum, auf dem dies »Wort Gottes«, diese »Kirchenlehre« gegründet war – nämlich, daß sie lehrte: jener schlichte Held wäre als ein ewig himmlisches Wunderwesen, Sohn Gottes und Weltenschöpfer, in Verkleidung auf der Welt gewesen – dieser Irrtum machte, daß diese Kirchenlehre bald etwas Leeres, Hartes und Knöchernes bekam. Und je knöcherner und härter sie wurde, desto mehr fiel sie in die Gewalt mittelmäßiger Köpfe. Und je mehr sie in die Gewalt mittelmäßiger Köpfe fiel, desto mehr brüstete sie sich, und sagte, daß sie unveränderlich wäre. Enge Köpfe, Narren erfanden zuletzt das Wort: »Gottes Wort und Luthers Lehr' vergehen nun und nimmermehr.«

*

Die ewige Macht arbeitet immer an den Gedanken der Menschen.

Es wandten sich, im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte, die Edelsten im Volk, seine besten Dichter, Denker und Fürsten, und alle Klugen und Edlen, Jungen und Stolzen, von diesem Glauben und dieser Kirche ab. Sie verlangten von einer Kirche, daß sie als eine hohe und stolze Heroldsgestalt vor dem ganzen Volk voranginge und es auf hohe Wege führe, zu jeder edlen Freiheit. Diese Kirchen aber standen beide wie zwei alte Marketenderinnen, ganz hinten, an ihren zerbrochenen Karren, und jammerten und schalten hinter dem Volke her, das vorwärts zog. Hei, wie zog es vorwärts! Friedrich der Große und Goethe und Helmholtz ... wer nennt all die Namen! Wir grüßen euch, Führer.

Kluge und tapfere deutsche Männer, unbefriedigt von der widerseelischen, kalten Kirchenlehre, von der ewigen Macht in ihrer Seele unruhig gemacht, daß sie Gott suchen mußten, faßten – es sind jetzt hundert Jahre her – den Mut, das heilige Buch zu untersuchen. Sie wollten sehen, ob das Buch wirklich eine Einheit wäre und ohne Irrtum, wie die Kirchen lehrten. Sie nahmen sich vor – es war ein tapferes Unternehmen: »Wir wollen das Buch untersuchen, als wäre es ein gewöhnlich Buch.«

Und als sie nun untersuchten – hunderte treue, tapfere Gelehrte, einhundert Jahre lang, in mühseliger Arbeit – da wurde es klarer und klarer, daß »das heilige Buch« viel religiöse und geschichtliche Irrtümer enthielte und viel verschiedenen Glauben, viel edle Menschlichkeit und viel Böses, viel Hartes und viele Widersprüche. Es war ein schönes, ungeordnetes, buntes Buch, wie ein schöner, ungeordneter, bunter Garten.

Und die tapferen Männer wagten sich immer tiefer in den wunderbaren, schönen Garten hinein. Immer tiefer. Durch viel Gestrüpp hindurch und durch viele lange, stolze, steife Bäume. Immer tiefer. Mit Zagen und heißer Ehrfurcht. Ob sie das heilige Land fänden, das die Menschenseele sucht! ... Und da, horch! ... da hörten sie ... mitten im weiten, bunten Garten, in grünen, wunderlichen, dichten Büschen ganz versteckt, leise und klar, die köstliche, reine Stimme einer Nachtigall. Sie sang wunderbar lieb, schlicht und tief, und zuletzt mit erschütternd wehem Ton von der Liebe der ewigen Macht und von der göttlichen Art der Menschen.

So wie einst in Luthers Tagen in vielen deutschen Gemütern ein neues, heißes Suchen entstand nach »Gottes Wort« und eine neue Liebe zu ihm: so flammte in diesen unseren Tagen eine heiße, neue Liebe zu dem schlichten Helden auf, der unter allerlei wunderbarer Gewandung verdeckt und verborgen war. Es war eine Zeit fröhlichen und heißen Fleißes. Unter dem Hohn und Zorn der Dunkelmänner, unter dem Jammern ängstlicher Gemüter, haben tapfere, deutsche Gelehrte jahrzehntelang gearbeitet, ob sie wohl die Dornenhecke durchbrechen könnten, hinter der, durch zweitausend Jahre, der Held verborgen schlief: Wach auf! Wach auf, treuer Held! Und allmählich, da viele Treue und Wahrhaftige an der Arbeit waren und sich die Hände reichten, sahen wir seine Seele; und sechs oder sieben der wichtigsten Stationen seines Lebens wurden sicher festgestellt; und er stand da: ein Mensch.

Ein Mensch war er. Beweise genug dafür! Erstens: Er hat es selbst gesagt. Zweitens: Er war in seinem Denken ein Kind seiner Zeit. Drittens: Er war eine besondere Charaktererscheinung. Viertens: Er hat eine Entwicklung gehabt. Fünftens: Seine Natur war nicht ganz frei von Bösem. Sechstens: Er hat geirrt, besonders in seinem schönen heißen Kinderglauben: er kam nicht wieder und das Reich Gottes kam auch nicht ... Er war ein Mensch. So wunderbar gut und weise, hellsehend und mutig er war: er geht in keiner Tat und in keinem Gedanken übers Menschenmaß hinaus.

Er ist ein Mensch gewesen und nicht mehr. So wie im deutschen Wald von alters her eine unzählige Menge von Bäumen stand und steht, und alle immer wesensgleich gewesen sind, und auch jetzt sind, kein einziger Wunderbaum unter ihnen – denn daß einer goldene Blätter gehabt hat, wird für ein Märchen gehalten –, aber alle, jeder für sich, ein großes Wunder der Schöpfung: so ist es auch mit den Menschen. Sie sind alle vom Weibe geboren, und unter das Gesetz der Schöpfung gestellt, und gehen, unterwegs nach Wahrheit und Schönheit suchend, ins Grab. Es wird eine Zeit kommen und sie ist ja schon da: daß der kräftige Teil unseres Volkes mit stillem, ernstem Wundern an die Vergangenheit denken wird, da man ein edles Kind eines fremden Volkstums und einer vergangenen Zeit als einen Gott und dann noch eine Zeitlang als einen Halbgott verehrt hat, zumal man erkennen wird, daß man von den edlen Gütern der Menschheit auch nicht eins verlor, als man diesen Glauben aufgab. Haben alle früheren Völker sich nicht gescheut, ihre Götter auf ihre Echtheit hin zu untersuchen, und sie abgeschafft, wenn sie fanden, daß sie von der Phantasie erhöhte Menschen waren, haben die germanischen Völker die Klarheit und Tapferkeit gehabt, die »Mutter Gottes« und die anderen katholischen Halbgötter und Heiligen, ohne Furcht vor den »Geheimnissen ihrer Persönlichkeit« zu prüfen und abzulehnen: so werden sorgenvolle und ängstliche Gemüter nicht hindern, daß auch der letzte Gottmensch, der noch zwischen den Menschen und der ewigen Macht steht, gründlich untersucht wird, daß wir endlich sie selbst und sie allein anbeten. Er selber, der wahrhaftige Held, wäre der letzte, der solche Untersuchung verböte.

*

Und nun also, wenn er ein Mensch war, sind wir frei gegenüber alledem, was jemals über ihn gelehrt worden ist. Wir lehnen alle die Lehren ab, welche die Menschen sich von ihm und demnach von den göttlichen Dingen gemacht haben.

Wir verwerfen also die Mutter Gottes und die Heiligen, den Papst und die Messen. Weg damit! Gott hat dies alles durch die Wissenschaft richten lassen und zum Tode verurteilt.

Wir verwerfen auch die Dreieinigkeit und den Sündenfall, den ewigen Gottessohn und die Stellvertretung durch sein Blut und die Auferstehung des Leibes. Was sollen wir diese Dinge glauben? Sie machen uns weder fröhlicher noch heiliger. Überhaupt, was haben diese Dinge mit Glauben zu tun: sie sind ja Wissen. Sie sind verkehrtes Wissen. Deutsche Forschung hat sie kurz und klein geschlagen. Sie mögen zu ihren Zeiten für die Menschheit recht und ein Segen gewesen sein, und ein schützend Lattenwerk um das zarte Heilandsbild. Jetzt sind sie veraltet, unnütz und schädlich.

Wir sind aber auch frei ihm selber gegenüber. Wir lehnen ab alles, was zeitlich und irrtümlich in ihm war. Wir lehnen also seine Aussagen über Gott ab, die aus dem kleinen Weltbild seiner Tage stammen. Der Heiland stand mit hellem Vertrauen vor dem Weltbild seiner Tage und sah und deutete alles, diesem Weltbild gemäß, in Übereinstimmung mit ihm, doch nicht ihm untertänig, sondern mit souveräner, stolzer Seele schaffend ... und deutete und ahnte und schuf, und fand das Wesen der ewigen Macht, fand einen Gott von menschenartig enger Persönlichkeit, von menschlicher Erregung, von plötzlichen, widernatürlichen Entschlüssen, einen Gott, der im Himmel wohnte wie in einem Hause, und mit seinem Nachbarn, dem Teufel, in ewigem Streit lag.

Wir Kinder dieser Zeit stehen vor einem größern und andern Weltbilde. Es ist tausendmal größer als das des Heilands; und es ist ganz anders. Es ist unerhört zierlich und wie sorglich in Kleinigkeiten; es ist unerhört erschrecklich in Tiefen und Fernen; es ist unerhört folgerichtig und herbe in seinen Ursachen und Wirkungen, in seinen natürlichen und sittlichen Gesetzen. Dies Weltbild, das Weltbild des Kopernikus, Galilei, Newton; Galvani, Darwin, Robert Mayer, Helmholtz erkennen wir an. Wir erkennen es an ohne irgendeine Einschränkung. Und wir erschrecken nicht vor ihm, sondern wir stehen vor ihm mit dem hellen Vertrauen, mit dem der Heiland vor dem Weltbild seiner Tage stand. So wie der Heiland, jener so menschliche Held, mit feurig liebender Seele, mit seinem: »Ich will Gott lieben und die Menschen,« vor dem Weltbild seiner Tage stand, und nirgends ihm untertan, nirgends im Widerspruch mit ihm, mit souveräner Seele es deutete: so kommen jetzt Menschen und werden kommen, von seiner Art, von seinem Vertrauen, unbelastet mit all den veralteten Glaubens- und Weltansichten, und werden dies ungeheure rätselhafte Bild der Welt ahnend verstehn, und mit schöner heiliger Phantasie, mit frei schaffender Seele herrlich deuten und werden das Bild Gottes sehn. Und dieser Gott wird anders sein, ganz anders als der des Heilands. Seine Werke werden unendlich viel größer und anbetungswürdiger sein. Er wird nicht wider seine Werke streiten, die er geschaffen hat; sondern er wird in ihnen und durch sie leben, weben und sein. Seine Gerechtigkeit wird in seinen klaren ewigen Gesetzen wohnen und wird natürlicher, klarer und härter sein. Seine Liebe wird viel weitherziger sein. Er wird nicht bloß »das auserwählte Volk« lieben oder »seine Gläubigen« oder »die Wächter Zions«; sondern alles, was in aller Welt, bei allerlei Meinung, natürlich, edel, wahrhaftig, schön und demütig ist vor den erhabenen Wundern seines Wesens und seiner Schöpfung, davon werden wir sagen: »Sieh, Gott liebt es.« – Und also lehnen wir seine Aussagen über Gott ab, die aus seinem kleinen, irrtümlichen Weltbild kommen.

Wir lehnen aber auch seine Aussagen über Gottes Willen ab, die von demselben kleinen Weltbild herrühren und daher, daß er das Kind einer wundersüchtigen Zeit und einer heißern Rasse war. Wir lehnen ab seine verächtliche Abneigung gegen die Welt und die Menschheit so wie sie ist; und seine Erwartung einer baldigen wunderbaren Veränderung beider; seine Geringachtung des öffentlichen und staatlichen Lebens und der beruflichen Lebensarbeit; seine vollständige Verachtung der Güter und Freuden der Erde. Diese Ansichten und Lehren lehnen wir ab. Wir, die germanischen Menschen, Kinder Siegfrieds und Goethes, freuen uns dieser Erde als der uns von Gott gegebenen Heimat, wollen nicht, daß sie anders sei oder werde, als sie ist, begehren auch nicht, daß ihre ewigen, harten aber herrlichen und gerechten Gesetze durch kleinere oder größere Mirakel möchten verletzt werden, wissen auch, daß das niemals geschehen ist noch geschehen kann, sondern hoffen vielmehr mit großer germanischer Freude an Frühling, Wandern und Sieg, daß sie durch die treue Arbeit unsrer Hände, die zähen Gedanken unsrer Hirne und die Veredlung unsrer Seelen im Lauf der Jahrtausende in allmählicher mühsamer Entwicklung ein Garten und Reich Gottes werde. Das ist unser Glaube von diesen allerwichtigsten Dingen. Das ist der ruhige und starke und fröhliche Glaube der Germanen. Wir lehnen seinen Glauben über diese Dinge ab.

Aber eins von ihm brauchen wir; eins von ihm erkennen wir an, das Wesentliche an ihm, nämlich seine feurig liebende Seele, sein: »Ich will Gott lieben aus meinem ganzen Herzen und meinen Nächsten als mich selbst.« Dies müssen wir anerkennen, sowohl aus einem inwendigen ewigen Zwang, als aus einem freien persönlichen Entschluß. Wir fühlen: hier ist ewiges, schönes Menschentum. Hier ist ewiges, unschätzbares Menschengut. Hier stehn zum Heiland alle edlen Geister der Welt und unsres Volks. Hier geht der Weg der Menschheit vorwärts. Unwandelbar wird über der Menschheit funkeln, und immer stärker und heller erglänzen, das, was er uns gebracht hat, aus seiner wunderbar schönen, hellsehenden, mutigen Menschenseele heraus, dieses: den Glauben an eine hohe göttliche Würde und Wert jeder Menschenseele, und aus diesem Glauben stammend, den Glauben an die Güte und Nähe der unerkannten, ewigen Macht, und aus demselben Glauben aufschießend wie aus gutem Erdreich schwere, schöne Frucht, den Glauben an schwere, schöne Aufgaben der Menschheit, und an ihr wunderbares Ziel, dem Reich Gottes zu. Damit hat er, vor allen andern frommen Helden der Menschheit, Sinn und Wert des Menschendaseins ans Licht gebracht und ihm ewigen Adel und ewige Bewegung gegeben.

Dieses, sein Wesen, wird der Menschheit immer und unwandelbar wertvoll und teuer sein. Alles andre aber, was die Kirchen von ihm aufbewahren und in alten Säcken und Truhen hüten, das sind seine verstaubten und verschimmelten Kleider. Von ihrem Anrühren oder Anbeten wird keine kranke Seele gesund und kein zerrissenes Volk heil.

*

Und nun freut euch, Schulkinder im ganzen Land und ihre Lehrer! Noch müßt ihr verkehrtes, wirres Wissen traktieren, das mit Glauben nichts zu schaffen hat, unnütz ist und schädlich. Freut euch: das wird bald alles in die Rumpelkammer kommen. Ihr werdet euch an dem Handwerker Jesus freuen, dem reinen Helden, und werdet mit seinen heiligen Augen in die Wunder der Schöpfung und des Lebens sehn, die unsre Zeit gefunden hat, und werdet mit großem edlem Mut ins Leben gehn.

Freu' dich, erwachsene Jugend im ganzen Land! Die Kirche stritt gegen die Vernunft, die gottgegebene, und stritt gegen edle Lebenslust. Sieh: hier ist ein Glaube, sich freuend, lachend über jeden Sieg der Wissenschaft, edlem Griechentum zugeneigt, herrliche Ausgaben gebend.

Gelehrte und Künstler, freut euch! Wie standet ihr wirr und kopfschüttelnd vor dem ungeheuren, seltsamen Wunderbild. Die Kirche hatte es da mitten auf den Weg der Menschheit gestellt; im Bogen gingt ihr herum, wußtet nichts damit anzufangen. Jetzt steht da, auf dem Weg, ein schlichtes, tapferes Menschenkind, und sieht euch mit tiefen, treuen Augen an. Menschlich zwar, doch wunderbar hoch ist nun der Weg der Menschheit.

Ihr Prediger in beiden Kirchen, die ihr hohen und freien Geistes seid, freut euch! Man wird euch nicht lange mehr ängstigen und zwingen wollen, Verkündiger eines ungeschichtlichen übermalten Heilandsbildes, eines ungerechten, kleinlichen Gottes, und eines veralteten Weltbildes zu sein. Sondern ihr werdet mit Prophetenaugen und Prophetenworten, in der Weise jenes Großen, von der Zukunft der Menschheit reden, welche ins selige Gottesreich hineinläuft. Und ihr tut das schon.

Freu' dich, Staat! Die Kirchen haben dich tüchtig gebraucht. Sie haben dich zu ihrem Knecht und Schelmen gemacht und dich dazu betrogen und geschunden. Sie waren ja voller Geheimnisse und davon dick und stark. Deutsche Forschung hat ihnen die Geheimnisse aus dem Leibe gerissen. Was haben sie das Volk noch zu verwalten, zu herrschen, zu spalten, zu halten? Ihre große schlimme Macht ist erschüttert; du aber wirst stärker werden und wirst deine Kinder zu hohem freiem Menschentum führen.

Freu' dich, Christenheit! Deine Sache war in dieser unsrer Zeit eine verlorene Sache. Mit dem »Papst« und dem »Wort Gottes« hättest du die Welt nicht erobert. Aber diesen schlichten Helden und seinen Geist und Glauben werden China, Japan und Indien annehmen. Haben sie Seelen wie wir, so werden sie zu diesem Glauben kommen. Denn er ist dem Menschenherzen gemäß, es bedarf seiner und öffnet sich ihm.

Nun freu' dich, meine Seele! Sitze noch ein wenig und sinne; und freu' dich! Welch eine Zeit! Wie hat die deutsche Wissenschaft Licht geworfen über viel Dunkel! Mag das Licht dir auch ein wenig weh tun, Seele; deine Augen werden sich daran gewöhnen, Seele, Tagvogel du! Siehst du nun deutlich das Land? Welch ein heilig Land! Unsere Kinder, unsere Jugend, wie wird sie glücklich sein! Sitze noch ein wenig und sieh und sinne ... So: nun nicht länger! Nun steh auf, zu froher Arbeit, du Bange! Du Fröhliche! Du Gottesgenossin!

*

Heinke Boje saß in ihrer Kammer am Tisch und las beim Schein ihrer Lampe.

Als die Nacht kam, stiegen überall aus den Gräben und Tiefen schwere Herbstnebel und lagerten sich als graue Schlangen rund um die Stadt Hilligenlei. Und glitten in die Straßen hinein und erschienen den Menschen und erschreckten sie mit ihrem lautlosen Treiben und bleichen Gleiten und füllten zuletzt die ganze Stadt bis über die Höhe der Häuser und bis an das Bleidach des breiten Turmes und verdeckten alles Licht.

Als Heinke Boje um Mitternacht zu Ende gelesen hatte, öffnete sie das Fenster und sah hinaus, und gewahrte das ungestaltete, geistlose, kalte Treiben und es wurde ihr die Brust eng und sie fürchtete sich. Die ganze Ungewißheit und die ganze Last des Menschendaseins und die schreckliche Einsamkeit der einzelnen Seele erschien ihr und quälte sie sehr. Und sie weinte um sich und um alle Menschen und um den, der nun einsam seinen Weg ging, durch diesen grauen, kalten, gestaltlosen Nebel. Es begleitete ihn keine Liebe; es ging kein Glaubensgenosse mit ihm.

Aber dann liefen ihre Gedanken zu dem, von dem sie eben gelesen hatte, zu dem Menschlichsten der Menschen und zu seinem Glauben. Und an seinem Glauben rankte sich der ihre empor. Und sie glaubte und betete, wie er geglaubt und gebetet hatte.


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