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Elftes Kapitel

Ein Jahr nach seiner Heimkehr lief der Vollmatrose Kai Jans, zwanzig Jahre alt, mit einer blauen Mütze in die Domschule. Das war keine Kleinigkeit.

Man denke an Torril Torrilsen, der niemals ein Buch oder eine Zeitung in die Hand nahm, es sei denn sein altes Drontheimer Gesangbuch mit dem Bild von Gottvater vorne; oder an Heine Marquard, der behauptete, wenn er Herr in Deutschland wäre, dann würde er die gesamte deutsche Jugend statt in die Lateinschule, je nach ihrer Tüchtigkeit auf die Back oder aufs Hinterdeck schmeißen. Und nun saß er unter Leuten, welche es fertig brachten, eine halbe Stunde lang über einen lateinischen Satz zu sprechen, und unter Lehrern, von denen der eine behauptete, der alte Horaz wäre von allen Menschen der lebensklügste gewesen, und der andere tat, als wenn der binomische Lehrsatz aller Weisheit Schlüssel war. Fürwahr, die Welt, in der er nun hauste, war eine andere. Fürwahr: früher im frischen Wind auf weitem, unendlichem Meer; jetzt in einer wunderlichen, niedrigen Stube mit vielen Büchern und kleinen Fenstern.

Aber die größte Schwierigkeit war, daß die alte Not, die ihn von Kindheit an und durch die Seejahre begleitet hatte, in dieser gelehrten und spitzfindigen Gesellschaft besonders unangenehm wurde, nämlich: daß ihm zuweilen aus dem untersten Gelaß seines Geistes herausschoß, was er für etwas ganz Gewöhnliches und Selbstverständliches taxierte, das aber ein großes Erstaunen oder Spotten hervorrief. Wenn er gewußt hätte, daß das, was er sagen wollte, verwunderlich wäre, so hätte er geschwiegen; aber eben dies erfuhr er erst aus den verwunderten und höhnischen Gesichtern.

Es war da ein Schulball und er ging nicht ungern dahin; denn er tanzte gern. So etwas matrosenhaft breit machte er es. Am liebsten tanzte er mit Anna Boje, seinem Altersgenoß. Sie waren nun beide zwanzig. Er sprach mit ihr über Piet, der auf der Steuermannsschule war, und unterhielt sich schlicht und gemütlich mit ihr. Und wenn er auch in dieser Unterhaltung etwas Wunderliches gesagt hätte: Anna Boje hätte es nicht weiter erzählt; die Bojes hielten zu ihm und konnten es nicht vertragen, daß über einen, der ihnen nahe stand, gelacht wurde. Aber nachher tanzte er mit der Tochter eines Oberlehrers und machte in guter Laune den Saal von Ringerang, in dem er neben ihr einherging, zum Hafen von Hamburg, und zeigte ihr den Kai, wo die großen Treckschuten lagen: drei alte dicke Biertrinker; und im Segelschiffshafen die Viermastvollrigger: sieben ältliche breite Frauen; und die Verkehrsboote: zwei kleine zungenfertige Doktortöchter. Sie hielt den Fächer vors Gesicht und lachte. »Und nun,« sagte er, »wollen wir quer durch den Hafen fahren ... Sieh ... da rakten wir ein Kohlenschiff ... wie schwarz ist die Deern ... sieh, da fährt Anna Boje, die stolze Goodefroo ... So ... nun gehen wir vor Anker! ...« Die Schöne brachte so allmählich unter die Leute, was Kai Jans gesagt hatte, und es gab ein großes Gerede. Seine Kameraden neckten ihn sehr; sie sagten: »Du hast sonst kaum einen Ton in der Kehle, aber nun hast du plötzlich ein ganzes Lied gesungen.« Die Treckschuten und die Vollrigger sagten, er wäre eben ein Arbeiterssohn und würde den Matrosen sein Lebelang nicht los. Der Direktor rief ihn zur Seite und empfahl ihm, vorsichtiger zu sein. Es war ihm sehr peinlich, und er machte den festen Beschluß, seinen Mund nicht zu öffnen, wenn es nicht durchaus nötig war.

Er nahm sich starken Herzens vor, daß er vorsichtig sein wollte. Aber von ebenso einfachem als vertrauensvollem Gemüt, wie solche Leute sind, vergessen sie immer wieder die künstlich gemachte Vorsicht, und es kommt eine Stunde, wo die Seele, übervoll und gequält von ihrer großen Fülle, übersprudelt. Dann zeigt sich die ganze Heimlichkeit und Herrlichkeit, die in keuschen Träumen auf die Zeit der Reife wartet, in ihrer süßen Unreife und Verwirrung.

Da war jener Jakob Sühl in der Prima, welcher an Körper und Geist von allen der schönste und herrlichste war. Er wurde nachher, als er Student war, von einer wilden Gier nach Wein und Weib gepackt, daß er noch in der Blüte seiner Jugend elendig und verzweifelt ins Grab steigen mußte. Der sah mit seiner hellen, schönheitsdurstigen Seele, daß in der Tiefe von Kai Jans' Augen, auf einem dunklen Thron, eine lichte Schönheit saß, und suchte seinen Umgang und gewann sein Vertrauen. Auf den drei Stegen, jenem Fußsteig, der nach der Höhe hinaufführt, und auf dem Lohweg, der oben längs geht – man sieht da weit über Land und Meer – hat Kai Jans seine wilden schönen Tauben fliegen lassen. Hei, wie flogen sie schön! Hei, wie überschlugen sie sich in der Luft, wenn die Wirklichkeit, der böse Häher, über sie kam.

»Was meinst du? ... Glaubst du das, was er über die französische Revolution sagte? War sie nicht gut und richtig? Wenn eine unfähige und faule Regierung duldet, daß die starre Schicht einer herrschenden Kaste über dem Volk liegt, so daß es sich nicht mehr rühren und keine Luft mehr holen kann: dann durchbricht das Volk eines Tages, als in Atemnot, die tote, starre Schicht. Eine kluge Regierung sorgt, daß in allen Schichten ein Steigen und Perlen ist, daß überall Bewegung und Hoffnung ist. Das ist die erste politische Weisheit.

»Man muß überhaupt nicht glauben, du, was die Lehrer sagen. Man muß alle Behauptungen, die an einen herantreten, und wenn sie in der Bibel stehen, ja, wenn sie ein Wort des Heilands sind, mit Entdeckeraugen ansehen, wie Adam sie hatte, als ihm auf seinem ersten Weg immer neue Formen der Natur entgegentraten. Neulich warf er wieder so einen schweren Satz aufs Pult. Er sagte, es würde immer und immer Kriege geben. Wie kann man sagen: immer, immer? Was wissen wir von immer? Das Wort hat der alte Moltke ihm gegeben und er hat es unbesehen angenommen und wir bekommen es von ihm und wir geben es später unbesehen weiter. Was geht mich Moltke und seine Meinung an? Was geht mich an, was der Kaiser oder Papst oder die Zeitung über dies und das meinen oder glauben? Wer auf andere Menschen hört, der hat die Kokarde verloren und ist ein Mensch zweiten Grades. Das Leben ist eine zu gefährliche, verantwortungsvolle und ernste Sache, um es zu erledigen, indem man hinter anderen Menschen herläuft.

»Warst du neulich dabei, als ich mein Neues Testament vergessen hatte und Fritz Petersen mir das seine reichte? Er gab es mir und sagte mit komischem Ernst: ›Dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird.‹ Ich sah ihn an; und sah, daß er ein schönes, ernstes Gesicht hatte und wunderte mich, daß ein solcher Mensch solchen Spott treiben kann. Wenn du vor einem feinen Mädchen stehst: das faßt du doch nicht an und stößt es in den Rinnstein? Und wenn du vor einem tapfern Mann stehst, hast du doch Respekt vor ihm? Aber weißt du, wovon das kommt? Das kommt davon, daß die Kirche den Heiland nicht menschlich darstellt, sondern als ein goldbeschlagenes Heiligenbild mit toten, stumpfen Augen. Ein altes, totes Götzenbild: das kann ich in den Rinnstein werfen. Weg damit! Fritz Petersen kann über Friedrich den Großen oder über Bismarck oder über ein feines Mädchen niemals spotten. Das kann er nicht über die Lippen bringen. Aber über den Heiland spottet er.«

Der Deutschlehrer war ein kluger und gewissenhafter Mann: der verlangte und bekam einen Aufsatz über das Thema: Raste ich, so roste ich ... Nach einigen Tagen wurden die Arbeiten zurückgegeben, und es begab sich, daß er zu Kai Jans' Arbeit kein Wort sagte und daß darunter stand: »Die Arbeit ist gut.« Kai Jans witterte unter dem kurzen Wort etwas Verdächtiges und fragte den Lehrer. Der sagte: »Wenn Sie es wissen wollen: Die Arbeit ist gut; aber sie ist nicht von Ihnen gemacht. Es steht da eine Reihe von Gedanken, die nur ein Fünfzigjähriger haben kann ...« Kai Jans wurde blaß und setzte sich und wußte nicht, was er in der Sache tun sollte. Aber gegen Ende der Stunde stand plötzlich Jakob Sühl auf und sagte: »Erlauben Sie, daß ich etwas sage? ... Ich bin überzeugt, daß wir alle für möglich halten, daß Kai Jans von Natur Gedanken und Erkenntnisse hat, die andere Menschen erst durch Lebenserfahrung gewinnen.« Der Lehrer sah erstaunt auf den Sprecher, besann sich eine Weile und sagte dann schlicht: »Dann nehme ich mein Wort zurück ...« Er traute aber der Sache doch nicht und blieb kalt gegen Kai Jans.

Jakob Sühl hatte versprochen, von den Unterhaltungen am Lohweg kein Wort zu erzählen; es kam aber eine leichtfertige Stunde und er redete doch. Da gab es wieder Sticheleien und spöttische Augen; auch einige Lehrer spotteten.

Von da an war er wieder vorsichtiger. Er redete mit den Kameraden nur über das, was die Schulstunden brachten, und über die Dinge, die er um sich sah. Inwendig aber schlich seine Seele mit Verwundern und Angst durch alles Gestrüpp der Menschenmeinungen, mit jenen Adamsaugen, davon er zu Jakob Sühl geredet hatte. O, daß doch all die Stolzen, Einsamen in ihrem ungeheuerlichen, schrecklichen Grübeln, in ihren wilden, großspurigen Jugendphantasien irgendeinen Menschen fänden, der sorglich mahnend neben ihnen ginge. Aber wenn sie auch einen fänden, sie hörten doch nicht auf ihn. Sie hören in ihrer Jugend weder auf den Heiland, noch auf Goethe. Sie wollen und müssen ganz allein durch den schreckhaft schönen rotbraunen Märchenwald.

Aber wenn Kai Jans in diesem Heimlichsten, Tiefsten ohne Führung war, weil er keine Hilfe haben wollte: in allerlei Lebenserkenntnis und Weisheit hatte er einen guten Unterricht. Hei, was hatte er für einen Unterricht! Hei, wie lernte er buntes Menschenleben kennen und das wunderliche Menschenherz.

Jeden Mittag, gleich von der Schule weg, ging er stracks zu Kassen Wedderkop und setzte sich dem gegenüber an den Mittagstisch. Und während des Essens und nachher bei der Zeitung erzählte Kassen Wedderkop mit vielem Stöhnen und mit seiner koreanischen Stimme von allem, was in der großen Welt vorging; und erzählte es nicht dem »Grünschnabel«, dem »dummen Jungen«, sondern seinem jungen, verständigen Freund; und erzählte es nicht mit: »So ist es, und alles andere ist Unsinn,« sondern so: »Das und das habe ich erlebt, als ich in Berlin in Stellung war ...« oder: »Als ich in Hongkong im Kontor saß, da habe ich einen Mann kennen gelernt ...« oder: »Ich habe in Ostasien die Erfahrung gemacht, daß wir Deutsche ... es soll aber inzwischen anders geworden sein ...« oder: »Ich ging in London an jedem Sonntag in irgendeine Kirche und beobachtete da ...« oder: »Nun hör' doch bloß, Kai, was über Chicago an Fleisch und Korn ausgeführt wird ...« oder: »In Japan glauben die Leute ... ich möchte wohl wissen, Kai, was so ein kluger Japaner über unsere Kirchenlehre denkt; lies mal diesen Aufsatz in der Times über die japanische Religion. Mir scheint, der Mann hat recht ...« »Was ist das für ein Glück, Mensch, daß du englisch kannst! Und daß du vier Jahre Schiffsboden unter den Füßen gehabt hast. Wenn du Hilligenlei auch nicht gefunden hast, du Narr, so kann man nun doch ein verständiges Wort mit dir reden.«

Hei, was hatte er für einen Unterricht! ... Wie es im Leben des einzelnen flaute und stürmte, das lernte er sehen. Denn er war der Sohn des Wattarbeiters Thoms Jans, und ein Bewohner des langen Hauses auf dem Deich von Hilligenlei.

Es wurde in diesen Jahren in der Wohnung am Ende des langen Hauses ruhiger und ein wenig sorgenloser. Die beiden ältesten Schwestern gingen mit ihren Männern nach Amerika; die jüngere heiratete einen ordentlichen Handwerker. Der Jüngste, einfachen, schlichten Geistes, kam zu einem strebsamen Klempnermeister in die Lehre. Thoms Jans, der nur noch für sich und seine Frau zu sorgen hatte, und der sah, wie sein Sohn lernen durfte und lernte, daß ihm der Kopf rauchte, bekam einen ruhigen, zuweilen fröhlichen Ausdruck in dem klugen, verwitterten Gesicht. In den Versammlungen der Arbeiterpartei, die nun schon so groß waren, daß sie die große Wirtsstube von Hans Reimer füllten, saß er in der Ecke und hörte zu, und zuweilen fiel ein Hieb auf ihn; er sagte aber nichts. Es war damals die wildeste Zeit, die Zeit, da sie alle lachten, wenn das Wort Religion genannt wurde. Wenn er nach Hause kam, setzte er sich hinter die Bibel und suchte die Stellen, die von kommenden, glücklichen Weltzeiten redeten und freute sich daran und glaubte daran. Mit seinem Sohn sprach er über diese Dinge nicht.

Er sprach aber viel mit ihm über Menschenschicksal. Wenn sie das Abendbrot hinter sich hatten, oder am Sonntagnachmittag nach dem Kaffee, lehnte er sich in Gedanken zurück und fing nach seiner Weise an, mit den Fingern leise auf der Fensterbank zu trommeln; und bald, wie unter dem Einfluß dieses Klangs oder dieser Bewegung, hub er an, von irgendeinem Menschen zu reden, der ihm in seinem Leben begegnet war, erzählte von dessen Großeltern und Eltern, von seinem Charakter, und wie sich der Charakter geändert hätte, und welche Ereignisse sein Leben beeinflußt, und wohin dies Menschenleben wohl hinauslaufen würde. Da sah Kai Jans manchen Lebenslauf, und hörte manch ruhige, eigne Lebensweisheit und hörte mit stillem Interesse zu.

Male Jans war von dem Tage an, da ihr Sohn zur See ging und nachher, da er als Krüppel wiederkam, ein wenig kleiner geworden. Ein kleines, mageres, zierliches Mütterchen war sie; und es war unglaublich, daß sie einen so großen Jungen hatte. Sie war sehr stolz auf ihren klugen, grübelnden, schelmischen Mann und auf ihren stillen, ernsten Sohn und war nun auch mit seinem Angesicht fast zufrieden. Sie hatte schon immer, von ihrem Mädchenstand an, Sonntagsnachmittags die Romane in den Itzehoer Nachrichten gelesen, die von wunderbar vornehmen und schönen Lords und Ladies handelten, welche »Sie« zueinander sagten, auch wenn sie miteinander verheiratet waren, und welche Kinder mit hohen Stirnen und wunderbar edlen Nasen und Augen hatten. Da hatte sie oft heimlich zu ihrem Sohn hinüber gesehen und hatte gefunden, daß seine Stirn zu niedrig, seine Nase zu breit und seine Augen zu klein waren. Aber seit er auf der Domschule war, stellte sie weiter keine Ansprüche an sein Gesicht, und freute sich heimlich, daß er so was Starkes darin hatte, und daß er gerade und schlank gebaut war. Als er nach Oberprima kam, war ihr silberner Hochzeitstag. Da kaufte Thoms Jans ihr im Ehstand das erste Kleid. Er kaufte es auf eigne Faust in der Süderstraße und bezahlte es bar. Nun saß sie, am Sonntagnachmittag, während Vater und Sohn über wirkliche und ernste Menschenschicksale redeten, in diesem Kleid ihnen gegenüber am Tisch an dem andern Fenster und las von den Lords und Ladies.

Aber er hatte noch andere Helfer. Hei, was hatte er für einen Lebensunterricht!

Zuweilen, wenn er aus der blaugekalkten Kammer, in der sein Bett und sein Büchertisch standen, durch die kleine schwarze Küche in die Wohnstube kam, fand er Stiena Dusenschön bei der Mutter sitzen. Die Mutter war klug und fein, und wußte, wie fahrig und wirr die Alte war; aber sie hatte ihren freundlichen Spaß daran und hatte Mitleid. Stiena Dusenschön klagte über Rieke Thomsen, daß sie keinen Frieden mit ihr halten könnte – dabei tranken sie und Rieke täglich sieben Tassen miteinander – und daß Tjark ... o, Tjark ...! Er kam zwar nie zum Besuch nach Hilligenlei; auch duldete er nicht, daß sie zum Besuch nach Hamburg reiste; aber er schrieb dann und wann, und hatte ihr zu Weihnachten ein Stücklein Geld geschickt und einen schönen, schwarzen Kleiderrock aus Halbseide, und hatte dabei geschrieben, sie solle nicht zeitlebens für fremde Leute Strümpfe stricken; er werde noch etwas aus sich machen. »Er ist nun schon Vorsteher im Kontor; fünf Leute arbeiten unter ihm ... O, Tjark! Der wird es noch weit bringen ...« So erzählte sie und ihre Stricknadeln klirrten und ihre Haubenbänder und die Fransen der Mantille tanzten nach einer fernen, süßen Melodie.

Zuweilen, wenn er auf den Deich gehen wollte, ein wenig Seeluft zu atmen, und mit einem Schwung über das Staket setzte, öffnete Rieke Thomsen das Fenster und redete dies und das und sagte: »Na, der alte Lau hat sich nun einen zweiten Ewer gekauft, und läßt denn ja ordentlich Mais und Gerste von Hamburg kommen und verkauft es an die Bauern; und der Pe Ontjes will ja wohl seinen Steuermann an den Nagel hängen, und dann wollen sie das Geschäft erweitern. Das wird ein schönes Geschäft: Der Alte kann kaum schreiben und Pe Ontjes ist ein steifer Mensch ... Hast schon gehört, was Stiena Dusenschön überall erzählt, daß ihr Tjark zwanzig Schreiber unter sich hat? Glaub' doch so 'was nicht! Es wird nichts aus ihm; das habe ich immer gesagt. Der Einzige, der an ihn glaubt, ist Jan Friech Buhmann ... Hast du übrigens in den letzten vier Wochen einen einzigen Schlag aus der Schmiede gehört, oder einen Funken vom Feuer gesehen? Er hockt den ganzen Tag an der Au, in seiner großen Lederschürze, und macht mit ihrem Poltern die Fische bang ... Sag zu deiner Mutter, daß sie mich bald 'mal besucht; ich bin ein armes, altes, verlassenes Frauensmensch. Sieh, da kommt Triena Söht! Die bringt immer einen Mund voll Schnack. Kannst sehen? Sie hat ihre kurze Pfeife in der Brust; Tabak muß ich zugeben.«

»So ...« sagte er, »nun will ich ein wenig den Deich entlang.«

»Ach,« sagte sie, »du lernst und lernst, aber glaube man nicht, daß du die vier Jahre noch einholst, die du auf See verbummelt hast. Deine Alten sehen zuviel in dir, Kai; du kannst dir gratulieren, wenn du durch die Domschule kommst. Ich hab' es immer gesagt.«

Zuweilen, wenn er nachmittags aus der Schule kam, ging er durch den Kastaniengang. Und wenn er dann Annas hellen Kopf hinter dem Fenster sah, ging er hinein und begrüßte die Mutter an der Maschine und setzte sich Anna gegenüber und spielte mit ihrer Schere und ihren Nadeln und redete sinnvoll und männlich und sah sie an. Sie antwortete ihm ruhig und sah ihn mit ihren klaren, schönen Augen gleichmütig an und sah zuweilen aus dem Fenster, als suchte sie etwas, oder als erwartete sie, daß etwas vorüberkäme, was ihr gefallen würde. Seit sie die zwanzig erreicht hatte, regte sich eine heimliche Verwunderung und Unruhe in ihr, daß niemand kam und ihre Liebe begehrte. Diese Unruhe wuchs und wuchs. Er merkte es nicht; er meinte, sie wäre wie sie schien: lautere Ruhe und schöner Friede. Er merkte auch nicht, daß die kleine Heinke, die am Sofatisch bei ihren Schularbeiten saß, oft den Kopf hob und ihre klaren, grauen Kinderaugen unbeweglich auf ihn richtete, wie ein Zugvogel seinen Flug auf sein Ziel richtet.

Als er in der Oberprima war, gründete er einen Klub, den sie »Die Wahrheit« nannten. Er war der Älteste und Lebensreifste, und bald der Häuptling. Sie behandelten natürlich die schwersten Dinge auf der Welt, denen sie in ihrem Alter am wenigsten gewachsen waren: Religion, Staatskunst, Menschencharaktere. Sie behandelten die Dinge mit unruhigem Eifer und mit Überlegenheit, als Richter und Radikale. Zuweilen freilich, wenn sie das Urteil gesprochen hatten, bekamen sie ein schlechtes Gewissen, weil sie doch ordentliche und tiefe Jungen waren. Besonders Kai Jans bekam es. Er sagte dann seine Bedenken und ging noch einmal, und nun mit mehr Ehrfurcht, um die Sache herum. Aber es ließ sich nicht leugnen, daß er also in diesem letzten Schuljahr doch noch hochmütig wurde. Er vergaß nun doch noch, was er doch vor vier Jahren so deutlich erkannt hatte: daß Torril Torrilsen, mit seinen großen Teerhänden, der nicht schreiben konnte und nichts anderes las als das Drontheimer Gesangbuch und die Bibel, ein viel weiserer und vornehmerer Mensch war, als einige der Domlehrer. Das vergaß er ganz. Die Wissenschaft und seine Begabung machten ihn hochmütig. Mehr als einmal klang im Klub seine Stimme so hell und klar, als wäre es eine Siegesfanfare: ›Seht, da habe ich Hilligenlei, heiliges Land! ... Seht ... ich, Kai Jans! Ich finde den Sinn der Welt!‹ Und in seinen Augen stand: ›O ... Ihr sollt sehen, was noch aus Kai Jans wird!‹ Und zu seiner Mutter sagte er mit verständiger Miene: »Es ist mir sehr unangenehm, daß Vater zu den Versammlungen der Arbeiter geht. Und was ist das mit seinem Bibellesen, Mutter? Die Bibel zu verstehen, dazu gehört schweres, wissenschaftliches Studium; es ist eine Narrheit, was er da treibt.« Male Jans wurde still und biß sich auf die Lippe; sie war sehr betroffen. Aber dann sagte sie mit ungewöhnlicher Sicherheit und sah ihn fast feindlich an: »Du, daran rühre nicht, das sage ich dir! Da laß ihn in Ruh!«

Dieser Hochmut dauerte aber nur ein Jahr ... Als es Frühling wurde, kam ein Sinnen über ihn. Sein Geist zog die scharfen Spitzen ein und wurde milder, breiter, ruhiger. Seine Augen schauten glänzend und versonnen über die Abgangsprüfung weg in das Land der Studentenjahre. Das Alter tat das Seine; er war nun über zweiundzwanzig. Genug ... es ging eine leise Verschiebung in ihm vor ... er merkte es nicht ... Student? ... Ein freier Mensch sein? ... In fremder Stadt wohnen! ... Leben ... Leben! ... Was nützt all das Denken und Tüfteln! Sieh doch! Was hat Anna Boje für einen schönen, weichen Gang! ... Genug: als der Maiabend da war, stand er am Weg im Dunkeln und ließ die Leute an sich vorübergehen, die nach dem Maifeuer hinaufgingen ... und wartete, bis Anna Boje kam.

Sie kam Arm in Arm mit Anna Martens von Freestedt, die zur Zeit bei den Bojes wohnte, um in Hilligenlei das Weißnähen zu lernen. Die war ein schönes Mädchen, dunkel, und breiter als Anna Boje, und von gleicher Größe. Sie war den ganzen Tag fleißig, nähte und nähte und lachte dabei: sie lachte oft so, daß sie nicht allein sich selbst, sondern auch alle andern, die mit schneiderten, unter den Tisch lachte; und zwar brachte sie solch Lachen ohne alle Ursache fertig. Aber abends war sie ernst und sagte zu Anna: »Ich will noch 'mal nach dem Deich hinaufgehen und über die Bucht starren, ob ich ihn behexen kann, daß er heute abend noch zu mir kommt.« Und zuweilen brachte sie es wirklich fertig. Er kam und erzählte: er hätte schon im Bett gelegen; aber holterdiepolter ... er hätte hinausgemußt ... hinauf aufs Pferd ... im Bogen um die Bucht. Nun stand er bei ihr unterm Apfelbaum vor Anna Bojes Kammer und Anna Boje hörte, wie sie flüsterten und küßten ... Sie ist später seine glückliche Frau geworden. Sie hat ihn sein Leben lang behext.

»Siehst du?« sagte sie, »da im Dunkeln unterm Baum? Da steht Kai Jans, der geht mit dir ... ich kehr' wieder um ...« Sie wollte wieder 'mal das Hexen versuchen.

Da gingen die beiden allein über die drei Stege. Er ging neben ihr, und zuweilen, wegen der Schmalheit des Steiges, hinter ihr und erglühte an ihrer schönen, starken Gestalt, die er undeutlich im Dunkeln sah. Sie sprachen wenig miteinander. Was nützte das Reden? Jeder wollte Taten erleben. Er war aber in seiner großen Jugend und Unschuld so unsicher, daß er nicht einmal wagte, sie anzureden.

Als sie die Höhe erreicht hatten, sahen sie sich um. Man sieht von dort nach allen Seiten weit ins Land hinaus. Weit und breit, im ganzen Halbkreis, leuchteten die Maifeuer.

Da brannte, nach Südwesten zu, das Feuer von Freestedt. Das hatte Anna Boje einst selbst mit errichtet. Mit brennenden Torfsoden als Fackeln waren sie hingezogen und hatten es angezündet und waren ums Feuer gesprungen ... Da weit in der Marsch nach Norden zu brannte das Feuer von Hemme. Das große schwarze Bauwerk, das hinter dem Feuerschein stand, war der dicke, hölzerne Glockenturm. Der Pastor selbst lieferte jährlich eine Teertonne dazu und baute den Feuerstoß eigenhändig auf ... Ganz fern im Westen, einen Strich nach Süden, leuchtete ein schwächlich Feuerlein. Das machte mitten im grauen Watt auf seiner Insel der Hirte, der da allein mit seinen Schafen hauste. Aus getrocknetem Seegras und gestrandetem Kistenholz baute er es auf. Sein Hund stand mit klugen Augen neben ihm; aber die Schafe standen ferner im Dunkeln und sahen mit dummen Augen in die lohende Glut.

Und rund um die Stadt Hilligenlei ... Wie viele Feuer brennen am Maiabend um Hilligenlei? Es brennen seit tausend Jahren ... ach wer weiß, wie viel länger ... drei Feuer um die Stadt. Es liegt um die alte Stadt die Mainacht als ein dunkles Band, darin drei Feuer glühen.

Das eine gehört dem Westereck und brennt oben auf dem Deich. Zusammengestohlen und geraubt haben sie es. Sie halten es für keine Sünde, zum Maifeuer zu stehlen; und es ist auch keine Sünde. Was nicht angenagelt oder angehängt ist, oder in der Erde wächst oder steht: das gehört den Jungen für ihr Feuer. Es ist jetzt nicht mehr so groß – als es vor zehn Jahren war, da Pe Ontjes Lau der Held des Westerecks war. Damals schlugen die Flammen bis zum Himmel und die Engel zogen die Füße hoch. Aber schön ist es noch immer.

Das zweite Feuer ist in der ebenen, freien Feldmark, wo das Land sieben Meilen weit so eben ist wie ein Tisch, und gehört dem Nordereck. Die Jungen vom Nordereck sind uneinig Volk; sie sind wie Hunde, die sich nicht leiden mögen. Was könnten sie sonst für ein Maifeuer haben! Sie sind ein zahlreiches und starkes Volk; man denke: allein sechs Witten, sieben Suhren, neun Hansens, Enkel von dem Hansen, der noch als ein Sechzigjähriger, wenn ihn der Übermut packte, unter seine Hausmauer trat und eine Wagenrunge über sein Hausdach warf. Aber nun, unter dem argen Streit, leidet ihr Maifeuer. Zweimal ist es ihnen geschehen, daß ein Verbitterter, ein Landesfeind, ihnen den Holzstoß in der vorhergehenden Nacht ansteckte. Er brannte und brannte, und sie schliefen. Seitdem lauern Wachen am Feuer in der Nacht und erteilen dem, der sich nähert, ohne vorhergehendes richterliches Urteil, ja ohne genaues Ansehen der Person, jämmerliche Haue.

Das dritte Feuer ist oben auf der Höhe, wo Anna Boje und Kai Jans, die Altersgenossen, nebeneinander stehen. Auf der Höhe, zwischen den Gräbern ihrer heidnischen Väter, haben die Domschüler ihr Feuer. Von alters her haben sie es; aber mit zwei Unterbrechungen. Einmal, vor fünfhundert Jahren, verbot der Domherr den Jungen das Feuer: er fürchtete Rückfall ins Heidentum. Und ohne Grund war die Furcht nicht. Denn Thode Witt von Volkmersdorf – es liegt gleich hinter der Höhe – ein alter Graukopf und Griesgram, war mit einem Pferdeschädel gekommen und hatte ihn in das Feuer gelegt und hatte in die Glut gestarrt, als starrte er in die Tiefe von tausend Jahren. Und vor vierzig Jahren hatten der Bürgermeister und der Rektor es verboten; sie sagten, es wäre nicht mehr zeitgemäß. Maifeuer nicht mehr zeitgemäß!! Daß Gott ihnen Ruhe läßt in ihren Gräbern, den Narren, den Zeitgemäßen.

Anna Boje blieb in einiger Entfernung stehen und sah nach dem Feuer, das lichterloh brannte. Wie schwarze Teufel sprangen die kleinen Lateinschüler um die Glut. Vom Feuer in ihren ganzen Erscheinungen schön beleuchtet standen die Großen mit ernsten, träumenden Gesichtern, darunter manche schöne, jugendliche Gestalt. Anna Boje stand im Dunkeln und ließ ihre kühlen, klaren Augen über sie hingleiten und dachte wieder, was sie seit einem Jahr so oft dachte: ›Wie ist es möglich, daß in ganz Hilligenlei kein einziger Mann sich um dich kümmert? Und wenn sich einer um dich kümmerte, würdest du ihn nehmen?‹ Und sie wußte keinen einzigen.

»Du,« sagte Kai Jans mit bebender Stimme: »Ich wollte dich fragen, ob du ...«

»Nun?« sagte sie und sah ihn neugierig ruhig an.

»Ich möchte wissen,« sagte er und atmete hörbar, »ob du mich wohl ein wenig lieb haben kannst?«

Sie schwieg eine Weile, ganz erstaunt. »Du,« sagte sie dann ruhig ... »du bist immer ein Freund von uns gewesen ... So halte ich etwas von dir ...«

»So meine ich nicht,« sagte er ... »Weißt du, daß der Oberprimaner Thedens heimlich verlobt ist? ... Du ... Anna! ... Ich bin ein unruhiger Mensch, immer unruhig und unglücklich und weiß nicht, was ich soll ... sieh ... wenn du mich lieb hättest ... du bist so schön und so rein ... Du solltest sehen, wie lieb und treu ich sein würde ...«

Da hob Anna Boje die Schultern: »Das Mädchen, mit dem Thedens sich verlobt hat, muß anders sein als ich,« sagte sie klar und ruhig. »Nein!« sagte sie und schüttelte bestimmt den schönen, hellen Kopf: »Das tu' ich nicht. Du bist mir viel zu jung ... Das ist nichts für mich ... Und dann noch fünf oder acht Jahre warten? ... nein, ich will dir sagen: dann lieber tot.«

Er stand ordentlich geduckt: es war ihm mit einemmal so sonnenklar, daß er einen großen Irrtum gehegt hatte. »So!« sagte er leise und biß sich auf die Lippen ... »Hast du einen andern, einen ältern?«

Sie machte ein hochmütiges und finsteres Gesicht: »Wer soll mich heiraten?« sagte sie. »Einige Familien verkehren nicht mit mir, weil ich die Tochter einer armen Lehrerwitwe bin; die andern sagen: ich bin hochmütig. Ich gehöre zu niemandem. Bloß zu Anna Martens von Freestedt, die ich von Kind an kenne. Und die jungen Männer? Wirkliche Männer sind hier ja wenige ... Sieh ... die da kommen, sind das Männer?« ... Es kamen zwei Lehrer den Weg herauf: der eine war körperlich schwach; der andere war ein Muttersohn.

Sie standen eine Weile schweigsam nebeneinander. Dann sagte sie gleichmütig: »Geh' zu deinen Freunden. Ich will nach Hause gehen.«

Da fuhr er auf: »Ich habe dich so lieb,« sagte er mit heißer Bitterkeit. »Von meiner Kindheit an habe ich dich lieb! Und ich bin doch was und werde was, das sollst du sehen! Und du stößt mich so von dir!«

»Ich kann's nicht ändern,« sagte sie und kehrte sich um und ging den Weg hinab.

*

Kai Jans ging acht Tage lang mit zusammengekniffenen Lippen umher und mit finstern Augen, so daß sie ihn fragten, ob er krank wäre. Und Jan Friech Buhmann kam auf die Straße und sagte: »Gegen Zahnweh ist Ausglühen mit einem kleinen Nagel das einfachste Mittel, Kai.« Kai Jans wollte das Haus im Kastaniengang nicht mehr betreten.

Aber eines Tages, als er sich vierzehn Tage lang nicht hatte sehen lassen, kam die große Heinke auf ihn zu und sagte in ihrer lieben, scheuen Art: »Du, Kai, ich habe so einen verdrehten Aufsatz aufbekommen; du mußt mir helfen.« Das klang so selbstverständlich und so zutraulich, daß er nicht widerstehen konnte. Da ging er wieder hin, und freute sich, daß er wieder in der kleinen, gemütlichen Stube saß, in der die Maschine fleißig klapperte und die schmucken Mädchenhände sich rührten und die großen Kastanien die Luft rotbraun machten. Hell schienen die Köpfe der beiden Mädchen.

Er kam also wieder; aber er fand Anna seltener. Sie machte sich in der Küche zu schaffen, oder ging in ihre Kammer, so daß er mit der Mutter und Heinke allein war. Da sprach er viel mit dem Kind: über seine Schularbeiten und über Piet; und verschaffte ihr gute Lesebücher, und spielte mit Hett und ihr ein Kartenspiel. Und er gewann das Kind lieb, weil es so natürlich und so scheu zutraulich war.

Einmal, als er vorüberging, traf er sie auf der Straße und sah, daß sie verweinte Augen hatte, und fragte sie, was ihr fehlte. Sie fing an zu schluchzen und sagte, die Mutter hätte sie hart angefahren, weil sie Hetts Buch genommen hätte; er hätte es ihr aber vorhin ausdrücklich gestattet, es zu nehmen. So sei er immer: er löge, aber die Mutter glaube ihm. »Mutter hat mich gar nicht lieb,« sagte sie und schluchzte; »sie sagt: ich mache alles verkehrt und bin verstockt und unliebenswürdig.«

»Wie kommt sie dazu, das zu sagen?«

»Ja ... Hett sagt immer: Mama, meine liebe Mama! Das sagt er zwanzigmal am Tag. Nun soll ich das auch sagen. Und das kann ich nicht.«

»Warum kannst du es nicht?«

»Das weiß ich nicht. Ich kann es wohl denken; aber ich kann es nicht sagen. Ich bin gar nicht verstockt, aber ich muß es ja werden.« Sie schluchzte erbärmlich.

Da tröstete er sie: »Du wirst bald groß,« sagte er, »und dann gehst du 'mal vom Haus, und nachher,« sagte er, »bekommst du einen feinen, klugen Mann.«

»Ich habe es noch keinem gesagt,« sagte sie bitterlich weinend, »als bloß dir, weil du immer so freundlich mit mir bist und mir nun auch sagst, daß ich einen guten Mann bekomme ... Ich wollte, ich bekäme ihn bald; ich kann mich mit unserer Mutter und Hett nicht vertragen.«

Ihre Zuneigung und Offenheit rührte ihn und er sagte: »Wir beide wollen immer Freunde sein. Komm', darauf wollen wir uns die Hand geben.«

»Ja,« sagte sie ... »du bist immer gut mit mir. Du bist auch der einzige;« und sie sah ihn aus tränenfunkelnden Augen sehr ernst an und schüttelte ihm kräftig die Hand und lief ins Haus.

Er meinte es ehrlich und treu mit der Freundschaft. Das lange, schöne Kind aber wußte nicht, was es tat, wenn es in diesen Sommermonaten ins Feld ging und am Weg und an der Hecke, hier ein Zweiglein, und da eine Blume pflückte und daraus, so im Dahingehen, mit feinem angebornen Sinn ein schönes Sträußlein zusammenstellte und darüber sann, was sie damit nun tun sollte, und träumend dachte, ob sie es wohl Kai Jans bringen könnte und wie sie es anfangen müßte. Sie glitt am Wall in die Knie und besah den Strauß von allen Seiten und malte sich aus, was für ein Gesicht er machen würde, und hörte seine gute Stimme und sah seine guten, schönen Augen und stand auf, ganz in Sinnen, und ging weiter. Aber wenn sie dann durch die Wiesen heimging, wurde sie bedenklich, und allmählich wurde sie traurig, und zuletzt setzte sie sich auf den letzten Steg und nahm eine Blume nach der andern und warf sie in das fließende Wasser und ging still nach Haus.

Kai Jans redete und tat viel mit ihr und hatte eine herzliche Freude an ihr, aber seine Sinne waren bei ihrer großen Schwester. »Wo ist Anna?« sagte er.

»Die ist weg,« sagte Heinke.

»Wo ist sie?«

»Sie ist mit Anna Martens bei der Schneiderin. Du weißt doch, daß sie das Schneidern lernt.«

»Wo ist Anna?«

»Sie ist weg!«

»Wo ist sie? Es ist doch jetzt keine Schneiderstunde?«

»Sie hockt am Heckenweg bei den Kindern.«

Was tut denn Anna Boje am Heckenweg? ...

In diesem Jahr, da ihr Leben öder und öder schien, ein Tag reihte sich an den anderen und keiner brachte das große Ereignis; über die Seele war schon lange ein unruhig Verwundern und Verbittern gekommen: da hatte Anna Boje dennoch eine Freude, ein große, schöne, heimliche Freude.

Seit einem Jahr, fast an jedem Spätnachmittag, wenn sie in der Küche bei der Arbeit stand, kam vom Heckenweg her eine kleine Sperlingsstimme: »Antje Boje?«

Dann kam Anna Boje in der großen Küchenschürze mit ihrem weichen, wogenden Gang in den Garten und sah sie da schon stehen: die beiden Kleinen in der Pforte und hinter ihnen ihr Vater. Die Mutter war immer kränklich und konnte nicht mit ihnen gehen. Und Anna Boje beugte sich nieder, mit den Kleinen zu reden. Und wenn sie niederkniete: »knack,« sagte ihr Knie. Dann lachten die drei. Dann fragte die Größere, während die Kleine in ihrem Arm stand: »Was hast du gegessen? Wo bist du gewesen? Magst du mein Kleid leiden? Sieh mal, meine Strümpfe?« Und die Kleine streichelte ihr Haar und faßte an ihr Ohr und sagte: »Ei ... ei ... wie weiß ist dein Ohr ... Dein Haar ist ganz blank. Mutters Haar ist nicht blank ... Was hast du für einen roten Mund? ...« und spitzte ihren Mund und küßte sie. Und die stolze, schweigsame Anna Boje streichelte und drückte das Kind und redete lieblich mit ihm. Dann stand sie auf und sah mit Verwirrung in das kluge und gütige Gesicht des Mannes und redete ein paar Worte. Sie kannte ihn von ihrer Kindheit an. Als sie noch ein Kind war, hatte sie oft gehört, daß er in seinem Amt tüchtig und freundlich wäre; seit sie größer wurde, hatte sie ihn nach Jungmädchenweise heimlich von fern verehrt.

Dann sagte sie: »Ich muß wieder an die Arbeit;« gab den Kindern die Hand und ging. Unterm Apfelbaum wandte sie sich noch einmal um und nickte. Wie sah das aus, wenn sie mit ihrem hellen Haar und ihrer stolzen Gestalt unter den weißen Blüten stand und unter den reifen Früchten.

Was tut Anna Boje am Heckenweg? Das tut sie. Und das ist ihre heimliche, stille, reine Freude.

Aber nun, in diesem Sommer ... in diesem Sommer ... da wurde es etwas anders. Es wurde Not; es wurde eine Seligkeit. »Meine Mutter mag mich nicht ... Heinke ist noch ein Kind ... Hett denkt nur an sich ... Piet ist in der Fremde ... Wo soll ich hin mit der Seele? Grete Deelen hat mit neunzehn geheiratet; Liesbeth Thaden mit zwanzig ... Ich bin zweiundzwanzig, und kein Mensch kommt. Ich bin ganz verlassen ... ich glaube, wenn er, der am Heckenweg mit mir redete, ledig wäre: er würde mich um Liebe fragen! Wie gütig und klug ist er! Wie lieb sind seine Augen.«

Ist da kein junger Mann in Hilligenlei, der Augen hat, daß er das Schönste sieht im Land: diese junge, strahlende Kraft, diese tiefverborgene Klugheit? Der sie an seine Hand nimmt und freut sich der Wunder ihres Leibes und ihrer tiefen, klaren Seele? Und zeugt gesunde und starke Kinder, ein Geschlecht, das der bösen Zeit gewachsen ist? ... Die jungen Männer von Hilligenlei! Der eine hat ein wildes Kneipenleben hinter sich und ist nun kränklich. Jetzt, da er ein Mann sein sollte, geht er langsam auf dem Deich auf und ab und schnappt nach Luft. Zwei andere, leidlich frische Gesellen, machen mit großen Stöcken weite Fußwanderungen, die Augen am Straßenrand, und bessern beim Wandern in schweren, gewichtigen Reden an den Einrichtungen des Staates, in einem Lebensalter, da der Mensch nicht weiter sehen kann, als bis in eines jungen Weibes Augen und auf ein begrenztes Arbeitsfeld. Andere junge Leute, Bürgerkinder, stellen sich, eben aus der Garnison zurück, hinter Vaters Ladentisch und setzen sich an Vaters Schreibtischlein und sehen sich nach einer Geldheirat um und gewinnen ein Weiblein, das ihren bescheidenen Geldbeutel für wertvoller hält als ihre Person, und dies Geldbeutelein und dazu den Hausschlüssel festhält, daß der Ehegemahl sich nicht in irgendein Unternehmen stürze. Und so sitzen sie in den Sträßchen und Lädchen und sehen gegen des Nachbars Hauswand und haben nie einen frischen Wind sausen hören und erfahren nie, daß ein frischer, starker Mensch und ein frischer Mut viel mehr wert ist, als hunderttausend Taler. Andere sitzen nach der Arbeit mit den Verheirateten zusammen im Domklub, geduckt am Biertisch. Die Alten erzählen faule Anekdoten und verderben die männliche Jugend, daß sie für die Ehe und ihre Mühe zu feig und roh ist ... An Anna Boje denkt kein Mann. Wenn sie vorübergeht, sagen sie: »Mensch, was für ein Mädchen ... Sieh doch den Gang!« Dann sagen die anderen: »Versieh dich nicht, du! Sie hat keinen Groschen, und sie wartet auf einen Grafen.«

Das sind die jungen Leute von Hilligenlei. Und darum bewegt Anna Boje, die Zweiundzwanzigjährige, in ihrer reinen Seele den Gedanken und kann ihn nicht von sich weisen, so sehr sie sich auch quält: »O ... wenn er ledig wäre! Und würde mich um Liebe fragen! O ... wie selig müßte das sein!«

Kai Jans ist ihr viel zu jung.

Einmal traf er sie ganz allein in der Küche und trat dicht an sie heran, und bat sie flehentlich: »Du, Anna gib mir einen einzigen Kuß, einen einzigen in meinem Leben.«

Sie trat zornig zurück. »Ich bitte dich, daß du mich in Ruhe läßt,« sagte sie, »mit dieser Sache spiele ich nicht. Wenn du noch einmal so kommst, Kai, dann ist es aus mit unserer Freundschaft.«

Als sie einige Tage später, am späten Abend, noch einmal in den Garten ging, Leinenwäsche hereinzuholen, die sie gebleicht hatte, sah sie ihn seitwärts im Heckenweg stehen, und vor ihm stand eine große, schmucke Bauerntochter, Kind einer heruntergekommenen Familie und selbst träge und geil.

Da sagte sie am dritten Tage zu ihm, als er kam, in großem Zorn: »Gehst du mit der? Du? Hast immer so hohe Worte über Hilligenlei geredet? ... Bist damals in die Welt gezogen, um es zu suchen? ... Und gehst mit der?«

Da wurde er sehr zornig: » Du!« sagte er, » du! ... Du bist schuld! Wenn du mich lieb hättest, so würde ich weiter an Hilligenlei glauben können ... aber nun ...«

Sie erstaunte und sagte: »Na, das kann gut werden! Ich soll Schuld haben? Ich will dir was sagen: Das steckt in dir selbst, Kai Jans!«


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