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Vierundzwanzigstes Kapitel

Am andern Vormittag lief Pe Ontjes zu Heinke und erzählte ihr, daß Kai Jans da wäre; versprach ihr ein altes, goldenes Schmuckstück, das seiner Mutter gehörte, und sagte: »Du bist ein kluges und schönes Mädchen, und bist seine Freundin. Ich bin nicht klug genug für ihn, und Anna wird gleich ungerecht. Geh hin und tröste ihn.«

Da dachte sie: ›Das trifft sich gut, daß der andere vier Wochen Ferien hat und über alle Berge ist: so kann ich mich mit dem lieben, armen Menschen abgeben. Es ist mir ja leicht, zu trösten; denn ich sitze im Glück. O, das liebe Peterlein!‹ Und sie ging zu Mutter Lau, und erreichte, daß sie das Schmuckstück sofort ausgeliefert bekam, pflückte im Garten noch eine rote Nelke und steckte sie in den Gürtel. Und ging nach dem langen Haus.

Er saß in der Wohnstube an dem runden Tisch, an dem alle Janskinder getauft waren und an dem sie alle gegessen und ihre Schularbeiten gemacht hatten, und starrte in stummem Brüten auf das Meer hinaus. »Komm,« sagte sie, »wir wollen auf den Deich hinaus.«

Er stand auf und schüttelte ihr die Hand. »Ich bin ein schlechter Begleiter für dich, Kind.«

»Sei still,« sagte sie; »Pe Ontjes hat mir alles erzählt. Komm mit!«

Auf der Höhe des langen Seedeichs, der grade ins Meer hineinläuft, legte sie mit einer lieblichen, zutraulichen Gebärde ihren Arm in den seinen und ging so mit ihm. Der Westwind wehte ihnen entgegen. Er wehte ihr Kleid zurück. Die Sonne schien zur Linken.

»Du ... als du Primaner warst, hast du mir einmal erzählt, daß deine Vorfahren aus dem Geschlecht der Markmannen wären. Da oben, auf den Windbergen, hätten sie gewohnt und wären von da in die weite Marsch hinabgezogen und wären Bauern gewesen.«

»Zuletzt wurden sie Arbeiter in Hilligenlei,« sagte er, »und der Letzte wurde ein Grübler und Nichtsnutz und hat in der Heimat kein Land, kein Recht und keine Statt.«

Sie ließ seinen Arm fahren, riß mit sprühenden Augen ihre Jacke auf und sah ihn an: »Du hast keine Stelle in der Heimat? Hat deine Heimat etwas Schöneres als ein schönes Mädchen? Hier hast du eine Stelle! Meinst du, daß es leicht ist, durchzusetzen, daß jemand hier wohnt? Oder wäre es dir wertvoller, wenn zehn alte Bauern sich vor dir verbeugten, dazu der dicke Turm von Hilligenlei?«

Er sah sie verwundert mit glänzenden Augen an: »Wie anders bist du geworden ... So lieb und so weich.«

›Ja,‹ dachte sie, ›das Peterlein!‹

Die Sonne schien und der Wind wehte. Sie gingen weiter in das graufunkelnde Meer hinein und sie drückte in ihrer Güte seinen Arm gegen ihre weiche Brust. »Das beste von meinen drei Kleidern habe ich angezogen. Hast du schon gesehn? Und hast du schon die Blume gesehn? Und das Schmuckstück? Alles nur um dich fröhlich zu machen.«

Er sah sie wieder mit großen Augen an. »Dein Mund war früher ein wenig klein,« sagte er, »aber jetzt ist er stark und breit geworden; und deine Augen sind dunkler und milder geworden. Deine Augen waren früher wie zwei zehnjährige, helle Mädchen, die im Winde Ball spielen; jetzt ... jetzt sitzt da eine junge Mutter und spielt mit ihrem Kind.«

›Das hat das Peterlein getan,‹ dachte sie, ›mit seiner süßen Liebe! ... Sei still, meine Seele ... ‹ »Was redest du?« sagte sie ... »Ich bin zweiundzwanzig, das ist es.«

»Weißt du,« sagte er, und lächelte bitter über sich selbst: »Als ich ein junger Student war und du noch ein Kind, da hatte ich eine Zeitlang den heimlichen Gedanken, daß du einmal meine Frau werden solltest. Gott sei Dank, daß ich den Plan nachher fallen ließ, und daß es bei der Freundschaft geblieben ist. Was für ein langer Brautstand wär' das gewesen! Was für ein schwerblütiger Bräutigam! Und zuletzt hätte er gesagt: ›Ich bedauere, Heinke Boje, ich habe kein Brot und keine Gedanken für dich!‹«

»Sei nicht traurig,« sagte sie.

»Über dreißig Jahre alt,« sagte er, »und noch immer unwissend, ob irgendwo in der Welt ein Platz ist, wo ich zu brauchen bin ... Die anderen nimmt Gott an die Hand und führt sie auf irgendein Feld, und sei es noch so klein und sagt: ›Da bau du dir ein Häuslein, und baue deinen Kohl.‹ Mich aber hält er zum Narren. Er hat kein Feld für mich, sondern will, daß ich ein Jäger bin, daß ich im Gestrüpp und Moor suchen muß, ein wirrer Jäger, nach einem edlen, fabelhaften Wild.«

Da wurde sie mutlos und schwieg und kehrte wieder um und dachte: ›Heute habe ich verspielt.‹

An der Schleuse, die schwer durch das Wasser rauschte, gab sie ihm die Hand und sagte mit zuckendem Mund: »Du bist mir lieber als Mutter und Geschwister. Wenn du nicht fröhlich bist, kann ich nicht glücklich sein, und schenkte man mir, ich weiß nicht was. Ich komme morgen und immer wieder, bis du lachen kannst.« Tränen standen plötzlich in ihren Augen; sie wandte sich rasch und ging fort.

Am andern Morgen kam sie wieder, in demselben blauen Kleid, und mit der roten Nelke und ging wieder mit ihm auf dem Deiche, dem Meer zu. Und das Meer lag in weitem, graugrünem Mantel, und ein schimmernder Gürtel ging ihm quer über die Brust. Und in der Marsch dehnte sich Feld an Feld: schwergrünes Gras und helle Kornfelder und in der Ferne baumdunkle Höfe und Dörfer. Ins Land hinein aber streckten sich weit und sanft die Höhen und trugen auf ihrem Rücken Felder und Wälder und Dörfer.

»Sieh doch,« sagte sie und sah rund um sich, »wie schön deine Heimat ist! Kann es dich nicht fröhlich machen, daß du ein Kind dieses Landes bist, in dem seit Jahrtausenden so viele tapfere Menschentaten geschehen sind? Und du bist jung und klug und gesund dazu. Deine Heimat und deine Jugend müssen dir predigen, daß du tapfer ausschaust, wie du etwas Gutes vollbringst.«

»Vor zwei Jahren,« sagte er in Sinnen, »habe ich mit dir darüber gesprochen, daß ich eine Arbeit angefangen hätte. Ich wollte in einem Buch zeigen, wie in diesen unseren Tagen, in allen großen Volkssachen ein anderer Wind aufkommt, wie ein Morgenwind. Überall ein Vorwärtswollen, ein frisches Ändern, ein mutiges Bessern, ein Weiserwerden, ein Gerechtseinwollen. Ich wollte dann weiter forschen, woher dieser Wind wehe und welche Segel wir, die Wachen im Land, aufziehn müßten und wohin wir steuern müßten. Also wollte ich ein Lied von deutscher Wiedergeburt singen. Ich war auch schon fleißig bei der Arbeit und hatte Freude daran und hoffte auf Frieden.

»Aber dann kam der Streik. Ich hatte viel zu laufen und zu reden und zu helfen. All das Mißverstehn, all das Hassen, all die unsinnigen Gedanken in den Menschenköpfen standen wie dunkle, wirre Gewalten um mich und bedrängten mich. Und dann der grauenvolle Tod der beiden Knaben, und gestern meine Heimat ein Narrenhaus.

»Heinke ... ich weiß jetzt: All unser bißchen Ändern und Bessern und Vorwärtswollen ist wirr, ist kleinlich, ist nichts und wird nichts; darum: weil der Untergrund unseres Lebens falsch ist; darum: weil wir kein rechtes Weltgefühl, keine rechte Religion haben. Uns fehlt ein guter, reiner Glaube, Heinke. Ein Glaube, der vor uns herzieht wie eine lichte Heroldserscheinung, ein Glaube, dem alle klugen und tapfern Menschen zustimmen. Sieh, wenn wir einen solchen Glauben hätten, dann würde uns all das andere von selbst zufallen. Da, am Grund des Menschenlebens, am Glauben: da muß unsere Wiedergeburt anfangen.

»Aber wo soll man diesen neuen Glauben finden? Keiner kann sagen, wo er ist. Und die ewige Macht gibt ihn uns nicht. Es ist schrecklich, wenn man Gott bittet: Zeig mir ihn, schenk mir ihn! Sieh, ich brauche ihn und mein Volk, sonst bleibt das Herz zerrissen: und er ... er sieht einen an mit seinen stummen, ruhevollen Augen, immerzu mit seinen ruhevollen Augen ... Ich kann nur mit dir darüber reden. Du bist mir wie alles Reine und Liebe in der Welt.«

Sie sah ihn an mit Augen, die voll von Tränen waren. ›Ach,‹ dachte sie, ›wie gerne küßte ich ihm Hände und Augen.‹

»Wein nicht,« sagte er. »Freu dich doch, daß du nichts mit mir zu schaffen hast.«

Sie kehrte um und ging stumm neben ihm. Sie wußte bei ihrer Jugend nicht, was sie ihm antworten sollte. Als sie Abschied nahm, sagte sie: »Weißt du noch, wie du mir aus der Südsee die Früchte mitbrachtest? Das ist das wichtigste Ereignis in meiner ganzen Jugend. Und wie du mir bei meinen Aufsätzen halfst? Immer warst du lieb mit mir. Darum stehst du mir viel näher als Mutter und Geschwister, und ich ruhe nicht eher, als bis du fröhlich wirst.«

In dieser Nacht grübelte und betete sie heiß bis Mitternacht um Hilfe. Es war aber ein gewaltiges Beten; denn dies Geschlecht betet selten und stark.

Am Morgen, als die Frühe noch heilig war, kam sie wieder. Er kam ihr schon aus der Tür entgegen und ging mit ihr. Der Wind wehte stark und stoßweise. Die Frühsonne stand klar über dem fernen Waldrand, schräg überm Wodansberg.

Und auf dem Wodansberg, der den Vätern schon als ein heiliger Berg erschien, auf der Kuppe zwischen den niedrigen Eichen und den Hünengräbern saß in der frischen Morgenfrühe ein Bote dessen, den man nicht fassen und nennen kann. Die glänzenden Füße im Heidekraut, vornübergebeugt, sah er mit seinen leuchtenden Augen auf die beiden Menschen, die da auf dem Deich gingen, klar sichtbar vor dem hellen Schein des Meeres. Es waren aber seine Augen so scharf, daß sie zwei fliegenden Pfeilen glichen, die im Fliegen glühn.

Sie gingen stumm nebeneinander; der Wind warf ihr Kleid zurück und bog jedes Glied ihres Körpers. Und es kam ein Schwalbenpaar von den Hügeln hergeflogen und flog dicht an ihren Knien vorüber. Sie griff danach und stieß den leisen Ruf aus und sagte in einem Atem, wie vorwärtsgestoßen: »Du sagtest gestern, es fehlte unserem Volk und unserer Zeit ein heilig Land, darauf zu stehen; und darum eine innere, sichere Freudigkeit des Lebens und des Willens. Sag' mir: Hat es wohl jemals in der Welt einen Menschen gegeben, der auf solch heiligem Lande stand und darauf fröhlich war und Schönes erntete?«

Er blieb stehen und sah sie groß an. »Ja,« sagte er, »ich denke, der Heiland stand darauf.«

»Ja,« sagte sie, »ich denke, er stand da nicht als schlichter Mensch, sondern in göttlicher Kraft?«

»Ja, Kind,« sagte er traurig, »wer weiß das? Sein wirklich Bild ist bald nach seinem Tode und dann immer mehr, übermalt und übergoldet worden. Nun sind ja freilich viele fleißige Gelehrte, seit hundert Jahren schon, an der Arbeit, aus der dicken Übermalung sein wirklich Bild herauszubringen. Und sie haben besonders in den letzten zwanzig Jahren viel erreicht. Ich kenne den größten Teil dieser Forschung. Aber zur Klarheit sind sie, soviel ich sehe, nicht gekommen.« Er sah grübelnd vor sich hin und sagte dann zögernd und sinnend: »Als ich Pastor war, freute ich mich an seiner köstlichen Weisheit und Güte und predigte darüber; und dachte, es wäre gleichgültig, ob er ein wenig Wunderwesen war oder ein schlichter Mensch. Das ist ja auch gleichgültig ... nein ... es ist nicht gleichgültig ... nein.«

Das Schwalbenpaar flog rasch, mit kurzem, süßem Laut dicht an Heinke Bojes Knie. Sie griff danach und rief und hob den hellen Kopf und sagte rasch: » Das sollte gleichgültig sein? Das? Es ist nichts Notwendigeres auf der ganzen Welt, als daß in dieser Sache Klarheit ist. Solange da keine Klarheit ist, ist das heilige Land ein unsicherer und schwankender Besitz, die Gemüter der Menschen fahren unruhig von einer Meinung zur andern, und allerlei Kirchenglaube und Priesterwille hat falsche Gewalt über die Menschen. Es gibt nichts Notwendigeres in der ganzen Welt, als daß über das Wesen des Heilands Klarheit ist.«

Er hatte unruhig zugehört und sagte langsam und unsicher und wie suchend: »Ja ... da hast du wohl recht! Wenn es möglich wäre,« sagte er langsam, in schweren, arbeitenden Gedanken, »unter der Goldvermalung sein wirkliches Leben zu finden, und es ergäbe und erwiese sich, daß er ein Mensch war, ein schlichter Mensch, und man könnte das Tiefste seiner Seele zeigen, das heilige Land, auf dem er stand und auf dem er seine herrlichen Ernten gewann ... ja ... und man könnte dann also sagen: Nun kommt, alle Menschen: seht hier, hier stand ein Mensch, ein Mensch wie wir, auf heiligem Land und war glücklich und fröhlich, kommt her, alle Menschen kommt: wir wollen uns auf dies heilige Land stellen und wollen bauen an der Wiedergeburt unseres Volkes! ... Aber sieh ... es geht nicht ... Die Urkunden sind zu dürftig. Ich glaube nicht, daß man seine Seele und sein Leben noch findet. Nein, ich glaube nicht ... Und also werden die Kirchen immer, immer herrschen, und damit der Irrtum.«

Da flogen die Schwalben mit hellem Ruf dicht an ihre Knie. Sie bückte sich und griff und rief sie und die Schwalben strichen scheu an ihrer Hand vorüber und sie redete wie vorwärtsgestoßen, es leuchtete voll und schwer in ihren grauen Augen. »Du sagst, es haben viele vorgearbeitet und bedeutende Tatsachen stehen jetzt fest, jetzt? Kai Jans! Wag du es doch! Mit deinen Kinderaugen und mit deinem heißen, wilden Herzen: durchsuch die Forschungen! Mal du ein Bild vom Heiland!«

Er schlug entsetzt gegen seine Brust: »Ich?« sagte er, »ich? ich armer, ungelehrter Mensch?«

»So einer, wie du, muß es tun,« sagte sie. »Ein armer, ungelehrter Mensch ... Du ... hast du nicht in armer, harter Jugend mit eigenen und mit deines Vaters Augen in viel Menschennot hineingesehen? Du hast sonderliche Augen von Gott bekommen; von deiner Kindheit an sagen sie von dir, daß du die Menschen und die Dinge nackend siehst. Oder hast du Furcht vor dem, was die Menschen sagen werden?«

Er schüttelte rasch den Kopf. »Ich habe schon lange verlernt,« sagte er, »nach Menschenmeinung zu fragen. Aber ich sage dir, es ist eine schreckliche und schwere Arbeit. Mach das ferne, fremde, wunderbare Dasein wieder lebendig! Gott bewahre mich: Wie soll ich das tun!«

Sie faßte seinen Arm und sah ihm mit ihren schönen, ernsten Augen ins Gesicht: »Wag es! Fang morgen an! Es mag dir gelingen oder nicht. Sei du einer von den vielen, die an ihrem Teil bereit stehn, der Menschheit zu helfen, bis ein Besserer mit mächtigerer Hand in die Speichen greift. Fang morgen an, Kai! Such Hilligenlei!« Sie hatte ihn zum Stehen gebracht und schüttelte seine Arme. »Hilf, Kai Jans! Ein Stück zur Wiedergeburt deines Volkes tu du, und fürchte dich nicht.«

»Ich fürchte mich nicht,« sagte er ... »Glaub' doch das nicht. Versuchen will ich es. Du hast eine süße, wunderliche Gewalt über mich, als wenn ein Engel Gottes mich bezwingt.«

Da ließ sie seine Hände los und rief die Schwalben und ging mit ihnen nach Hilligenlei zurück. »Sieh!« sagte sie ... »siehst du die weiße Wolke dort am Wodansberg? Wunderbar, wie sie weggleitet. Als wenn sie lebendig ist.«

Er kehrte sich rundum und sah die weite, breite Welt, und sah das Mädchen an. Sie ging ruhevoll und sicher und sah mit schönen, ruhigen Augen über die Hügel hin. »Du bist die Herrin von dem allen,« sagte er.

»Natürlich!« sagte sie. »Meer und Wind, und Heide und Hügel können nicht das tun, was ich eben getan habe.« Sie kehrte sich um: »Wo sind nun meine Schwalben?«

»Sie haben dir wacker geholfen,« sagte er. »Sie sind nun fortgeflogen ... Ein Narr bist du.«

»Geh nach Haus und sei fleißig,« sagte sie und nickte. »Ich muß jetzt auch an meine Arbeit gehn.«


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