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Zehntes Kapitel

Die Goodefroo! ...

Damit kein Irrtum möglich ist: Der Dreimastvollricker Goodefroo, auf dem Pinnaß von Jan Marbst gebaut.

Wer hat sie gesehen?

Nicht im Hafen, wenn ihre Riggen stakig und dürr, wie verdorrte Tannen, in die Luft starrten, wenn die Stagnahtblöcke klirrten und rallten und die Schauerleute in ihrem Bauch rumorten.

Sondern: wenn sie zum dreiundsechzigsten Grad unter Kap Horn heruntergekommen, vom Südoststurm gejagt, Reeling und Wanten blinkend von Eis, unter Sturmsegeln, schräg liegend, eine graue Woge nach der andern nimmt ... durch die tobende See stürmt ... Oder wenn sie in der Südsee, alle ihre weißgrauen Segel, fünfundzwanzig weißgraue Flügel ausgebreitet, leicht und stolz sich neigend über das unendlich sonnige, blinkende Meer dahinzieht, Preis und Ehre ihrer fernen Heimatstadt. Oder wenn sie an jenem düstern Novembermorgen vor dem wilden Nordweststurm, an den Brechern von Texel, die weiß und schrecklich herüberblinkten, hart arbeitend durch das graue, wüste, weite Meer den Eingang in die Elbe suchte, tapfer und hoheitsvoll, so tief auch das harte Wetter sie beugte.

Kann man irgend etwas gegen die Goodefroo sagen? Hat sie ein einziges Stück morsches Tauwerk an Bord, das dem Matrosen heute Ärger bringt und morgen den tödlichen Sturz auf die Decksplanke? Oder ist da irgend welch töricht überflüssig Schnörkelwerk, das dem Matrosen unnütze Arbeit macht?

Aber der Kapitän!

Jan Deeken von Blankenese ist Kapitän. Es ist wahr: er hatte bei stattlichem Oberleib kurzes und krummes Beinwerk; auch ist es Tatsache – keiner streitet dagegen – daß er auf Deck mit kurzen Schritten immer hin- und herging, immer hin und her mit gesenktem Kopf, dann aufsah und einen raschen Blick über Deck und über Bord warf, und dann, wenn er den Kopf wieder senkte, ausspuckte, leise und trocken. Es ist auch wahr, daß er keine weiche Seele hatte. Aber was sagt das alles? War er nicht gerecht? Sorgte er nicht für Feierabend zur rechten Zeit? Gab er nicht an den Koch einen stattlichen Proviant? Und was die Hauptsache ist ... verstand er sein Fach oder nicht?

Es ist eine Sache, bedenklich, fast unheimlich, darüber zu reden. Es war da irgendein Zusammenhang zwischen seinem kurzbeinigen Körper und den Elementen der See; oder was soll man sonst denken. Der ganze Hewen war hellblau, kein Wölkchen am ganzen Horizont und die Brise stetig. Da steht Kaptän Deeken mit einemmal still. Er hört auf zu spucken. Alle Matrosen lassen Arbeit Arbeit sein und stehn und sehn nach ihm. Er hebt den Kopf und schnuppert in die Luft. Er dreht sich um und geht gemächlich in seine Kammer und kommt wieder und hat statt der blauen Tuchmütze eine alte englische Wollmütze, mit einem Klunker darauf, bis an die Ohren gezogen.

»So!!« sagen sie alle. »Dittmal lüggt hee ...« Das sagen sie alle.

»He lüggt ... dee Ohl lüggt! Gott sei Dank!«

Aber er log nie ... Eine halbe Stunde später flog das erste Kommando über Deck.

Kann man etwas gegen Jan Deeken sagen? Es ist nicht möglich. Der faulste Matrose – wenn auf der Goodefroo ein fauler Matrose denkbar wäre – muß ihn loben.

Aber der Steuermann!

Hochmütig war er ... da ist kein Zweifel. Man hat ihn nie scherzen hören; er war selten ein wenig gemütlich. Gescherzt hat er nur später, ganz heimlich, und ganz selten einmal, mit Anna Boje und ihren Kindern ... Aber er war kein Treiber und kein Schimpfer. Immer vornehm und ruhig Blut. Und er verstand seine Sache.

Wer hat den Steuermann Lau gesehen? Wie er am Sonntagmorgen, wenn Schönwetter war, in seinen Morgenschuhen, die seine Mutter ihm gestickt hatte, schön mit bunten Perlen, auf dem Hinterdeck hin- und herging? Oder damals als im Kanal der Junge aus der Gallion fiel ... wie er an die Reeling sprang und aus sicherer Hand den Gürtel warf und zugleich klar und sicher sein Wort kam: »Leeboot aus«? ... Oder wenn er selbst Hand anlegte? Als sie unter Kap Horn am sechsten Sturmtag übermüdet waren und mit fünf Mann am Fall hingen und der schwere Wind stärker war als sie, und er anfaßte und das Part plötzlich kam, daß sie alle fünf platt auf Deck saßen? ... Oder wer hat gesehen, wie er den alten Bootsmann vom Hinterdeck wies? Der war in jungen Jahren Steuermann auf einer norwegischen Bark gewesen, Patent von Drontheim und alles in Ordnung; aber der verfluchte Kümmel wand ihm das schöne Patent aus der Hand und stieß ihn vom Hinterdeck und jagte ihn wieder ins Logis. Er war sonst ein ruhiger, nüchterner Mann, aber sobald er an Land kam, trank er sich voll; und dann setzte sich ihm der Gram ins Gemüt und er kletterte, das alte Herz übervoll von großer Zeit, die Treppe nach achtern hinauf. Aber als er aufsah, stand Steuermann Lau da, sah ihn an und sprach ein ruhiges Wort. Da torkelte er brummend wieder nach vorne ... Oder wer hat gesehen, wie Steuermann Lau in weißem Leinen vor der kleinen Schenke in Apia hinter einer Flasche Sodawasser saß? Da kam eine Schar schöner brauner Mädchen vorüber, mit nackten Oberleibern, Kränze um die Hüften, und lachten ihm zu. Er sah sie freilich an und es flammte etwas in seinen Augen auf – das ist nicht zu leugnen – aber gleich war es gebändigt. Weg war es! Wie nachlässig, gleichmütig sah er sie an! ... Wahrhaftig, wer den Steuermann Lau von der Goodefroo gekannt hat, der weiß: er ist fürwahr ein großer und gerechter Mann.

Aber der Koch!

Nichts über den Koch! Klaus Gudewill war tüchtig, sauber, flink. Und war kein Kapitänskoch. So gern er dem Hinterdeck einen guten Tisch gab: seine Kunst und seine Liebe galt dem Vorderhaus. Wenn es angeht – und es geht immer an – stahl er für sie. Und wohl dem Kochsgast! Zu guter Letzt hatte er auch noch die Gabe, die man von einem rechten Schiffskoch erwartet: er erzählte gut und gern, und sang auch gut. Als er auf der Reede von Apia seinen Geburtstag hatte, mußte der Alte ihm Stoff für einen Grog geben. Da hat er erzählt! Da hat er gesungen! Sie lagen auf Deck und Spieren, ihre Mucken in der Hand, und hörten ihm zu. Zuletzt sang er das Kochslied. Das war lang; jeder Wochentag hatte seine Strophe. Er sang es aber zu Ende und wurde so begeistert, daß er auf den Gedanken kam, dem Alten ein Ständchen zu bringen; aber der winkte ab und spuckte aus.

Aber die Back!

Die Back? ... Das ist ein ganz und gar unnötiges Anfragen. Ein gutes Schiff ... ein guter Kapitän ... können immer gute Mannschaft haben, wenn sie wollen. Und Jan Deeken wollte es; also hatte er es.

Kaptän Deeken kümmerte sich nicht weiter um die beiden abgerissenen, verhungerten Leute, die auf der Reede von Kapstadt an Bord gekommen waren. Der Steuermann hatte die Garantie für sie übernommen. Dieser Steuermann kümmerte sich auch nicht um sie. Gar nicht. Er sah über sie weg, als hätte er sie nie gesehen! Als hätte er ihnen nie gezeigt, wie man Aalen die Köpfe abbeißt. Er kannte sie nicht. Piet Boje sagte: »Er ist ein hochmütiger Mensch.« Kai Jans suchte zuweilen mit langen flehenden Augen sein Angesicht; aber er bekam es nicht. Am fünften Tag, da sie an Bord waren, fand er zu oberst in der kleinen Kiste, die sie ihm zur Verfügung gestellt hatten, zwei schöne reine Hemden. Sie waren sehr groß und der Name war herausgeschnitten. Er suchte wieder sein Angesicht; aber er bekam es nicht. Da ging er still mit bebenden Lippen seiner Arbeit nach.

Auch die Mannschaft war kühl gegen sie. Es waren fast lauter Leute, die sechs oder zehn Jahre auf der Goodefroo fuhren; sie standen in engem Verband und bedurften der beiden abgerissenen Hungerleider nicht. Die mochten zu ihnen kommen und sich bewähren. Man dringt nicht an einem Tag in eine Familie ein. Sogar die Jungen und die drei Leichtmatrosen standen zu den Alten und hielten sich fern von ihnen.

So waren die beiden Helden von der Klara nun plötzlich klein und aufs große Maul geschlagen. Sie arbeiteten mit heißem Eifer, waren bescheiden und freundlich in der Freiwache und lugten klug, was das für eine Gesellschaft wäre, unter die sie geraten waren, und staunten über die vielen gerechten und weisen Menschen – wie es ihnen schien – und warteten, wo das Ding hinaus wolle.

So blieb es fünfunddreißig Tage ... bis der Sturm am Kap Horn kam und sie in die Reihe brachte.

Sie hatten bei nassem, schwerem Nordwestwind eine gute Fahrt bis zum dreiundsechzigsten Grad hinab gemacht und hatten genügende westliche Länge, um den Kurs nach Norden zu nehmen: da sprang der Wind nach Südwest um und wurde böig und eisig und wehte drei Tage. Am dritten Tag, gegen Abend – das Deck fing an zu vereisen – holte der Alte seine Wollmütze mit dem großen Klunker. Es wurde aber dunkel und es blieb bei der steifen, eisigen Brise.

Aber gegen neun Uhr – es war schon dunkle Nacht – wurden Wind und Wasser aufgeregter. Ein dumpfes Sausen und Brüllen erfüllte die Luft und fuhr durch Masten und Tauwerk; lang und hoch schreiend pfiff es dazwischen. Piet Boje stand zufällig am Ruder. Seitlich vor ihm stakte der Alte unermüdlich hin und her.

Da trat Steuermann Lau ans Rad, faßte es und sagte: »Hol die Rudertaille ...«

Piet Boje lief, und kam schon die Treppe wieder heraufgesprungen, die Taille in der Hand ... in dem Augenblick kam unerwartet eine schwere See von achtern, warf die Goodefroo nach vorn und riß dem Alten das kümmerliche Beinwerk unter dem Leib weg, daß er einen bösen Fall tun wollte. Steuermann Lau ließ das Rad fliegen und griff nach dem Alten. Im Nu war Piet Boje da, sprang heran und faßte das wild wirbelnde Rad mit einem Griff und brachte es wieder zum stehen und schlug es zurück. Der Steuermann Lau übergab den stöhnenden Alten dem Koch, schrie Piet Boje zu: »'ne gute Tatze! ...« gab das Rad an den Bootsmann, winkte Piet, nach vorne zu gehen, und trat an die Treppe und befahl: beide Wachen an Deck und alle drei Obermarssegel festmachen.

Die Leute stolperten in ihrem schweren Ölzeug und den langen Seestiefeln aus dem Logis und geiten auch glücklich auf. Der Sturm heulte wild über das Schiff; die Goodefroo rollte schwer. Starke Seen schlugen über und füllten das Großdeck mit gischendem Wasser: es leuchtete schreckhaft im Dunkeln.

Nun ging die Backbordwache mit zehn Mann in den Vortopp und die Steuerbordwache mit elf Mann in den Großtopp. Es war stockdunkel; man konnte keine Hand vor den Augen sehen; scharfer Hagel schnitt ihnen ins Gesicht.

Sie kamen aber glücklich hinauf und begannen in dem schweren Wind mit krummen, verfrorenen Fingern in das harte, neue Tuch zu greifen. Kai Jans stand an der Nock; neben ihm arbeitete der Danziger; dann kam der kleine gewandte Heine Marquard. Es ging alles gut, obgleich die Goodefroo wohl fünfunddreißig Grad hin und her schlug und sie nur den hellen Schimmer von Tuch sahen. Es ging gut. Das Segel lag schon auf der Raa, und Kai Jans bückte sich gerade und reichte dem Danziger von unten den Zeising. Der Danziger will zugreifen ... und lehnt sich über die Raa ... er ist ein ziemlich langer Mensch ... da schießt die Goodefroo schwer nach vorn ... Ein furchtbarer Schrei gellt durch die finstere Luft. Kai Jans hat nichts gesehen; aber er fühlt einen heißen Schmerz die Hand entlang gleiten, die den Zeising hält, und stöhnt wild und laut auf, und als er zur Seite ins Dunkle starrt, ist ihm, als wenn da ein leerer Raum ist; er legt dabei die Hand aufs Segel und fühlt wieder den schrecklichen Schmerz und läßt Zeising Zeising sein und tastet sich wimmernd nach innen und klettert hinter den andern Gestalten her in all dem grausigen Dunkel, und dem Brüllen und Pfeifen.

Die Steuerbordwache stand da schon, in kleinen dunkeln Haufen voraus an den Fockwanten.

Da kam Steuermann Lau von achtern gelaufen und rief laut: »Was habt ihr ausgesungen ... da oben?«

Sie schüttelten die Köpfe; einer sagte: »Es hat einer geschrien.«

»Es schrie zweimal.«

Da sagte Torril Torrilsen, der Norweger, mit seiner ruhigen Stimme: »Ich glaube, Stüermann, da ist einer von boben kamen ... einer von den Backbordschen ...«

Da reckte Pe Ontjes Lau den Kopf vor ... nach der Backbordwache ... die aus den Wanten kletterte, und rief überlaut: »Kai Jans ... Mein Junge ...!«

»Er ist noch nicht hier,« sagte Piet Boje.

Da schrie er noch einmal laut: »Kai Jans, mein Junge ... Bist du da?«

Da kam der letzte wimmernd von der Fockwant und stolperte an Deck und sah in dem Dunkel keinen andern als den großen Steuermann Pe Ontjes Lau, lief wankend auf ihn zu und hielt seine blutige Hand hin und schrie: »Pe Ontjes ... lieber Pe Ontjes ... meine Hand ist ganz zerrissen ... Ein Krüppel bin ich.« Und hielt ihm die Hand hin, als wenn er sagen wollte: Da hast du sie. »Der Danziger ist von der Raa geflogen ... und hat sie mir mit dem Zeising zerrissen.«

Pe Ontjes Lau hatte ihn an der Schulter gefaßt: »Sei still, mein Junge,« sagte er. »Piet, bring ihn nach achtern in meine Kammer ...«

Die andern hatten sich über Deck zerstreut und kamen zurück.

»An Deck ist er nicht.«

»Jungs,« sagte Steuermann Lau. »Ihr müßt es einsehen, daß wir nicht wenden können ... wir fahren mit zehn Meilen vor Sturm.«

Da hob Torril Torrilsen, der Norweger, seine beiden Hände und betete laut ein Vaterunser und betete es rasch, daß der Kämpfer seine Ruhe fände.

Das war um Mitternacht.

Gegen Morgen, so um fünf Uhr – sie lagen mit den beiden Untermarssegeln beigedreht – da wurde der Wind stark und stärker. Gegen sechs Uhr war das Großdeck unter einer gischenden, wilden, weißen, brüllenden See und über die Back flogen schneeweiß in der dunkeln Nacht hohe Wasserberge. Sie standen alle Mann auf dem Achterdeck.

Gegen sieben Uhr, der Morgen wollte grauen, warfen Wind und Wogen sich so hart gegen das Schiff, daß es sich auf die Seite legte und nicht wieder aufrichten wollte. Sie standen und warteten. Dreiundzwanzig Mann oben; dazu die beiden Verwundeten unten.

»Es kommt ...«

»Es kommt nicht.«

Da schrie der Steuermann Lau: »Marssegelschoten losschmeißen ... Wer will?«

Das ist freiwillige Tat.

Torril Torrilsen und der Zimmermann wollten Piet Boje in den Arm fahren. Und Dierk Peters schrie: »Ich ... an mir ist nichts gelegen.«

»Er ist zu jung.«

Steuermann Lau wollte sagen: »Ich will es selbst.«

Aber Piet Boje vom Freestedter Deich sprang schon die Luvtreppe hinunter, flog an die Reeling – eine See kam über ... er bückte sich gut, die Arme um die Stütze geworfen ... Wie sprang er auf! So springt im Morgennebel der Fuchs, der schon lange am Wall lag und lauerte, wenn der Hase aus dem Weizenfeld kommt. Da ist er am Vorderhaus. Jetzt läßt er die Reeling los ... jetzt ... Schwer stürzt er gegen das Haus. Er drückt sich am Haus entlang und verschwindet.

Gleich darauf fliegt das gewaltige, weißgraue Segel in die Luft ... Hei, wie es fliegt ... Die Goodefroo hebt sich langsam und mächtig.

»Wo bleibt Piet Boje?«

»Er kommt nicht wieder.«

»Die Kette hat ihn getroffen.«

»Er ist zu jung.«

Steuermann Lau sieht Torril Torrilsen an mit einem raschen Blick: »Du hast das Kommando auf der Goodefroo« ... er schleicht die Treppe hinunter – wie wunderlich kleidet es den mächtigen Mann ... Er geht durch brausendes Wasser ihm entgegen.

Da erscheint Piet Boje drüben im Sprung an der Reeling ... Auf halbem Wege treffen sie sich und kommen zu den andern zurück.

Sieben Tage dauerte das schwere Wetter. Sieben Tage arbeiteten sie hart und kamen nicht aus den Kleidern und trauerten um den Danziger. Kein Scherzwort fiel. Der achte Tag war freundlich und sonnig; ein frischer Südost trieb sie in den Ozean, den fernen, schönen Inseln zu. Da packten sie die Kiste des Danzigers, umwanden sie mit Stricken und stellten sie in die Proviantkammer, vergaßen Sturm, Tod und Mühe und wurden guter Dinge.

Kai Jans und Piet waren nun ganz in Reih' und Glied. Aber Kai Jans war Invalide.

Der Kapitän hatte die abgerissene Sehne des Daumens und des vierten Fingers in ihre alte Lage gelegt, hatte die ganze Wundfläche mit Borsalbe bestrichen und eine kunstreiche Binde gemacht. Mehr verstand der auch nicht. Nun ging er an Deck hin und her, war blaß vom Schmerz und vor Kummer, daß er ein Krüppel wäre und so untätig umherstehen müßte. Mit der linken Hand faßte er an, so viel er konnte.

Am dritten Tag konnte Pe Ontjes es nicht mehr ansehen und sagte zu Piet: »Was machen wir mit ihm?«

»Hat der Steuermann nichts für ihn zu lesen? Dann kommt er auf andere Gedanken.«

»Wenn wir unter uns sind,« sagte Pe Ontjes ... »dann können wir wohl du zueinander sagen.«

»Wie du willst,« sagte Piet hochmütig.

»Was für Bücher mag er denn? Nautische?«

»Das ist nichts für ihn.«

»Ist nichts für ihn? Das heißt: er ist kein Seemann.«

»Das ist er auch nicht.«

»So ... so! ...« sagte Pe Ontjes, »... so. Das ist was anderes.«

»Am liebsten,« sagte Piet, »nimmt er solche Bücher, die man auf der Schule hat. Als Junge hat er eine französische Grammatik kurz und klein gelesen. Er ist ein Mensch ... er sieht nicht das, was rund um ihn geht und steht ... er sieht immer Wunderdinge. So taxiere ich ihn.«

Pe Ontjes sah in Gedanken über das sonnige Wasser und sagte so für sich hin: »Ja ... so ist er ... und dann ist es ganz falsch, daß er Seemann geworden ist.«

»Ja,« sagte Piet, »das ist es ... Es gibt bei uns viele, die müßten ein Herzogtum haben, aber woher eins nehmen.«

Steuermann Lau ging in Gedanken nach achtern. Da fiel sein Blick von ungefähr auf Heine Marquard; der saß, die Mütze im Nacken, platt auf Deck an der Reeling, klopfte Rost und pfiff leise dazu.

»Sag' mal ... du bist ja doch auf der Lateinschule gewesen? ... hab' ich nicht allerlei Bücher bei dir gesehen? Es war wohl Latein, was?«

Heine Marquard erstarrte der Pfiff im Munde ... »Ja,« sagte er verbaast. »Ich habe das Zeug mitgenommen und wenn ich einen Einfall bekomme und bin allein im Logis, schmeiß' ich es von einer Ecke in die andere. Seine Rache will der Mensch haben, Steuermann.«

»Ich glaube,« sagte Lau, »du machst dem Jans eine große Freude, wenn du ihm diese Bücher gibst und ihm da ein bißchen hineinhilfst ... weißt du ... bis er die Hauptwege kennt ... Die Feldwege kann er sich selbst suchen, denke ich.«

Am Nachmittag holte Heine Marquard, der Sohn des Oberregierungsrats aus Berlin, die lateinische Grammatik und den Cäsar, spuckte erst aus, genau so wie Kaptän Deeken es tat, machte einige unheimliche Handbewegungen, Grauen und Abscheu zu zeigen, setzte sich wieder platt aufs Deck, schlug auf und zeigte die Hauptwege und hatte zum erstenmal in seinem Leben eine Freude an dieser Sache. Kai Jans saß mit bekümmertem, stillem Gesicht neben ihm, die eiternde, klopfende Hand hoch aufgestützt.

Sie waren alle freundlich mit ihm. Wenn sie sahen, wie er verstohlen den Verband löste und nach der Wunde sah, kamen sie heran, besahen die Wunde und erzählten Geschichten von wunderbaren Heilungen. »Du brauchst gar nicht bange zu sein,« sagten sie, »die Hand wird noch ganz fix wieder. Damit kannst du noch 'mal Bäume ausreißen. Paß man auf! ...« Wenn er in einer Ecke über den Büchern saß und aufsah, sagten sie irgendein Scherzwort, und Jens Petersen tat, als wenn er ihn gegen alle andern in Schutz nehmen müßte und sagte: »Lern du man. Das steht dir am besten.« Und zu den andern sagte er: »Ich will euch was sagen: Da war, als ich in die Schule ging, ein Junge, der lernte, daß ihm der Kopf rauchte. Immer bei den Büchern! Er lernte so sehr, daß er das Fieber bekam und seine Mutter ihn ins Bett stecken mußte.«

»Was wurde aus ihm?«

»Was wurde aus ihm? Sie haben ihm die Bücher in seinen kleinen Sarg gelegt. Darum hatte er nämlich gebeten ... Wenn das Lernen in einem Menschen sitzt, da ist nichts zu machen. Ich sage euch: Das ist ebenso schlimm als das Saufen.«

Piet Boje mochten sie nicht so gern. Obgleich er bei Kap Horn so wacker die Treppe hinunter sprang und so mächtig freundlich war, mochten sie ihn doch nicht. Sie fühlten, daß seine Freundlichkeit Klugheit war, und daß er mehr sein wollte, als sie. Steuermann Lau kam auch nicht an ihn heran, obgleich er ihn zuweilen anredete.

»Die Klara war ein schlechtes Schiff,« sagte er.

»Ich habe aber mächtig viel gelernt,« sagte Piet Boje.

»Kaptän und Steuermann kenne ich,« sagte Pe Ontjes verächtlich.

»Gerade darum!« sagte Piet. »Die beiden waren nicht wie unser Herrgott und sein Stellvertreter.«

»So!« sagte Pe Ontjes, »so waren sie nicht!« Und ging weg.

Am andern Tag, in der Freiwache, kam er wieder. Piet saß nach seiner Gewohnheit ein wenig abseits und las in einem Buch über Schiffsbau, das Heine Marquards Vater seinem Sohn mitgegeben hatte. Lau hatte die kurze Scheckpfeife quer im Mund und schien in guter Laune. Er rauchte nur, wenn er übermütig war und nicht wußte, wohin damit.

»Sag' 'mal, was macht deine große Schwester?«

»Ich denke, es geht ihr gut,« sagte Piet.

»Wie alt ist sie jetzt ... so achtzehn, was?«

»Ja.«

»Was schreibt sie dir denn?«

»Nun ... dies und das.«

»Ich denke, sie kommt zuweilen zu meinen Eltern?«

»Davon schreibt sie nichts.«

»Sag' 'mal, hat sie 'mal was über mich geschrieben?«

»Sie hat 'mal geschrieben: Gott bewahre Dich davor, daß Du mit dem großen Lau auf ein Schiff kommst.«

Pe Ontjes lachte kurz auf. »Wie lange ist das her?« sagte er.

»Wohl so ein Jahr.«

»So,« sagte er beruhigt. »Inzwischen hat sie ihren Sinn geändert, meine ich.«

»Ich glaube nicht,« sagte Piet.

»Was weiß ein Bruder von seiner Schwester!« sagte Pe Ontjes und kehrte sich um. Im Weggehen sagte er: »Du kannst dir nachher einen Jahrgang englischer Schiffsbauzeitung holen, da findest du viele Modelle. Liest du englisch?«

»Natürlich,« sagte Piet gleichmütig.

»Du willst wohl hoch hinaus? Hast die Nase mächtig voran.«

»Das liegt in der Familie.«

»Ja,« sagte Pe Ontjes, »das tut es. Wahrhaftig!«

Sie hatten eine herrliche Fahrt. Jeder, der sie mitgemacht hat, erinnert sich ihrer, besonders die, welche nachher in einen Landberuf übergingen. Und sie waren alle einig. Da waren keine Parteien, keine Cliquen. Sie waren wie Kinder einer ordentlichen Familie.

Haben sie es nicht gemacht wie die Dorfkinder, welche ihre Spiele wechseln nach dem Jahreslauf? Im Winter nach dem Schweineschlachten spielen sie Katerlücken; um Ostern Ballholz und Pickpahl; im Sommer Reigen und faule Sau; im Herbst läufern sie und lassen im freien Feld die Drachen steigen. So hat eine ordentliche Schiffsmannschaft, die auf weiten, öden Meereswegen dahinfährt, ihre Zeiten und Spiele.

Hinter Kap Horn begann ein großes Mützenschneiden. »Koch, einen Teller! ... Einen großen und einen kleinen!« ... Zweimal rund um den Teller geschnitten; der Unterschied gibt den Rand: fertig ist die Bäckermütze ... Es hätte sich der eine oder andere leicht um die Arbeit drücken können. Ja Torril Torrilsen, der Gute, und Wilhelm Baldermann, der Leichtsinnige, hätten die paar Mützen gern ganz allein zurechtgeschneidert. Aber nein: sie waren als ordentliche Kinder alle zusammen bei einem Spiel.

Nachher, als der Südpassat wehte, fischten sie und fingen Vögel. Alle Mann, nein, alle Kinder. Ein Stück Speck an die Angel und nun alle übers Heck ins Kielwasser gesehen. Hans Jessen hält die Angel. Da sieht Hinnerk Lornsen auf: »Kinder! Da kommen Albatrosse! ... Rasch, ... wo ist die Schnur?« ... Hinnerk Lornsen pflückt die Federn und stopft sie in Segeltuchsäcke und bringt sie nach Haus. Seine sieben Kinder schlafen in einem kleinen, roten Haus hinterm Elbdeich in den Federn, die ihr Vater in der Südsee pflückt und stopft.

Acht Wochen später, als sie nach einigen rauhen Tagen Kap Horn wieder hinter sich hatten und den Bug heimwärts, mit dem Südostpassat, ein wenig langsam zwar, nach Teneriffa trieben – drei Wochen lang änderten sie nicht die Segel –: da fing eine große Schiffsschnitzerei an. Das ganze Vordeck lag voll von Spänen.

Das kunstvollste machte Dierk Peters, der alte Matrose, schon an die fünfzig. Er hatte als junger Mensch in einer Straße Hamburgs ein schmuckes holsteinisches Mädchen kennen gelernt; die war dem heißen Seemann zu willen gewesen. Da hatte er ehrlich an ihr gehandelt und sie geheiratet. Er war im ersten Ehejahr ganze zwölf Tage bei ihr. Als er zum erstenmal wiederkam, war sie außer sich vor Freude. Als er zum zweitenmal wiederkam, fand er am Fensterplatz eine fremde Zigarrentasche. Als er zum drittenmal wiederkam, lag sein Kind auf dem Kirchhof und sie war nicht imstande, ihm die Nummer des Grabes zu nennen. Als er zum viertenmal kam, fand er sie verwahrlost auf dem Bett. Als sie erwachte und ihn sah, ging sie aus der Stube und kam nicht wieder. Da ging er wieder in See und wurde stiller und stiller. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, daß er ein zwiefacher Mörder wäre, nämlich des Weibes, daß er sie aus dem stillen Elbdorf nach Hamburg nahm, und des Kindes, daß er ihm das jämmerliche Dasein und damit den Tod gegeben hatte. Er stammte aus einem Geschlecht, das nicht so rasch bei der Hand ist, eine Sache auf Gott zu werfen oder auf das Schicksal, sondern sie auf die eignen Schultern nimmt. Die werden dann breit und dick davon ... Er schnitzte das beste Schiff, er schnitzte sechs Wochen daran bis auf die Höhe von Teneriffa und schenkte es dem Steuermann Lau. Anna Bojes kleine Kinder, wenn sie auf dem Rücken im Kinderwagen lagen und ihre Augen spazieren gehen ließen, sahen entweder das schöne Gesicht ihrer Mutter oder das Schiff unter dem Balken, das Dierk Peters, der sich einen zwiefachen Mörder nannte, im Atlantik geschnitzt hatte.

Piet Boje schnitzte auch; er machte aus Klugheit alle Spiele mit, welche die Kinder der Goodefroo spielten; aber er ging immer bald zur Seite und saß bis über die Ohren in dem Lehrbuch für Schiffsbau, das ihm von achtern geliehen war, und bei seinen Modellen, und studierte die Berechnungen.

Der Südostpassat hielt fünf Wochen an. Von Staten Island bis zum Äquator ist kein Mann in die Ricken gestiegen, ein Segel zu wechseln. Danach wechselte der Wind in einer Bö zu einem leichten Nordostwind; und wieder waren sie wochenlang ohne Segelarbeit bis auf die Höhe von Western Islands.

Was waren das für Sonnabendnachmittage!

Jedermann weiß, was die Sonnabendnachmittage auf einem guten Hamburger Segler bedeuten; aber niemals hat es auf irgendeinem Hamburger Schiff so schöne gegeben, als auf der Goodefroo auf dieser Fahrt. Sie saßen alle in Lee auf Deck. Der eine flickte; der andere wusch; der dritte stopfte; der vierte las; der fünfte pfiff; der sechste erzählte allen, die zuhören wollten.

Wilhelm Baldermann saß mit dem Rücken gegen das Wasserfaß und nähte am Unterfutter seiner Donkyjacke. Er hätte wohl eigentlich eine neue verdient; aber er wollte sparen. So wenig es ihm bis jetzt gelungen war: jetzt wollte er sparen. Früher war es nämlich nie der Mühe wert gewesen. Hundert Mark? Zweihundert Mark? So wenig Geld kann man nicht sparen. Das geht in drei Hafentagen so durch die Finger. Weg ist es. Aber jetzt war es der Mühe wert. In Apia war er Gott sei Dank krank gewesen und nicht von Bord gekommen; so hatte er nun fünfhundert Mark beim Alten stehen. Fünfhundert Mark! Das wird eine Heimkehr! Zuerst nach Glückstadt zu den beiden Alten! Dreihundert Mark auf den Tisch geworfen! »Hier für eure alten Tage.« Dann nach Altona auf die Steuermannsschule! Es wurde nämlich Zeit: er war schon achtundzwanzig ... So flickte er nun an seiner Jacke und lächelte still glücklich vor sich hin ... Er hat seinen Plan nicht ausgeführt. Schon in Cuxhaven fiel er den Landhaien in die Hände. Sie schwatzten ihm zwei goldene Uhren auf, für jede Westentasche eine: so wäre die neueste Mode. Am andern Tag sahen sie ihn in St. Pauli in der Herkuleshalle in einer Loge sitzen, links und rechts eine aufgetakelte Dirne. Am neunten Tag schlich er auf einer englischen Bark wieder von Hamburg weg.

Heine Marquard hatte seine eingeseifte Arbeitsbüx auf Deck gelegt, stand mit gespreizten Beinen darauf und bearbeitete sie mit dem Besen und dachte mit stillem Lachen: ›Das sollte deine Mutter sehen und der Bruder, der Leutnant,‹ und vergaß wieder das Elternhaus, fing an zu pfeifen und schwenkte den Besen im Takt.

Jakob Siemsen und Otto Funk saßen Rücken an Rücken. Jakob Siemsen schnitzte an einem Wandbrett, darauf der lateinische Spruch stand, daß es nötig wäre, auf die wilde See und in die bunte Fremde zu fahren und müßte man dabei sterben. Otto Funk stopfte Strümpfe. Obgleich sie beide gleich alt waren, so um zwanzig herum, ganz junges, frisches, starkes Blut, war ein großer Unterschied in ihren Gesichtern. Jakob Siemsen stammt aus einem freundlichen, milden Pfarrhause und seine Brüder und Schwestern wohnen heute in Schleswig-Holstein in Pfarrhäusern zerstreut, und er selbst ist ein eifriger Bibelleser und ist mit Torril Torrilsen, dem Guten, befreundet, obgleich der dreißig Jahre älter ist. Er will das Schnitzwerk seiner Mutter schenken und denkt bei seiner Arbeit an die Schelme von Brüdern und an die kleine Schwester, die heiraten will, und an ihre Kinder; und sein Gesicht hat über solche Gedanken einen sanften, freundlichen Schein. Otto Funk aber sieht finster darein. Er war eines reichen Bauern Sohn in Dithmarschen und hatte eines Vormittags, siebzehnjährig, mit vier Pferden und dem Dienstjungen am feuchten Graben gepflügt: da war das Handpferd ausgeglitten und hatte das Sattelpferd mitgenommen. Darauf lagen alle vier Pferde und der Junge dazu im Graben. Sein Vater hatte, die Hände in den Armlöchern der Weste, unter der Tür gestanden und hatte es gesehen und kam an, als zwei Pferde und der Junge glücklich wieder heraus waren. Aber trotzdem, und obgleich er sah, wie abschüssig und glitschig das Ufer war, hatte der jähzornige Mann den Jungen wild angefahren: »Du bist zu nichts zu brauchen ... Ich wollte, du gingst mir aus den Augen und ich säh' dich nicht wieder ... Du kannst bloß sagen, wann du gehen willst ... und wie viel du mithaben willst ... Mir alles einerlei! Bloß weg!« Mit den Worten war er fortgegangen ... Der Junge machte alles wieder in Ordnung und pflügte bis Mittag. Da kam er zu seinem Vater in die Stube und sagte mit verschlossenem Gesicht: »Gib mir das Geld, wie du gesagt hast ...« Der warf ihm mit demselben Gesicht einen Tausendmarkschein auf den Tisch und sagte kein Wort dazu. Da ging der Junge in die Kammer seiner Schwester; die mußte ihm ein Beutelchen von weißem Leinen machen an einer starken Schnur; darin hängte er sich das Geld um den Hals auf der bloßen Brust; und ging aus dem Haus eine Stunde Wegs zu seiner Tante und blieb dort acht Tage. Acht Tage stand er an jedem Nachmittag zur Vesperzeit und sah nach dem schönen, breiten Hof seines Vaters, und acht Tage lang zu derselben Zeit stand der Vater auf dem Deich an seinem Hof und sah hinüber. Sie sahen sich da wohl stehen und jeder wußte vom andern, daß sein Herz nach dem andern schrie; aber keiner konnte sich beugen, weder der Siebzehnjährige noch der Vierzigjährige. Es fiel aber keinem andern Menschen ein, die harten Herzen zu ändern, nicht der Mutter, nicht der Schwester, nicht dem Pastor, nicht den Nachbarn. Sie wußten alle, daß jedes Wort das Herz noch härter machte. Da ging er am achten Tag nach Hamburg und nahm Dienst auf der Goodefroo. Nun saß er Rücken an Rücken mit Jakob Siemsen. Der schnitzte an seinem harten lateinischen Spruch und dachte fröhlich an sein freundliches Elternhaus; der andere dachte mit finsterer Stirn an die im Grimm verlassene Heimat. Jakob Siemsen ist zwei Jahre später auf der Goodefroo, in der Gegend der Goldküste, am Klimafieber gestorben; Torril Torrilsen, sein Freund, hat mit ihm gebetet und hat das Vaterunser gesprochen, ganz langsam, als er auf der Reeling lag. Sein Vater und seine Mutter sehen täglich nach dem Schnitzwerk hinauf; das richtig in ihre Hände gekommen ist und überm Sofa hängt ... Otto Funk verließ bald danach in irgendeinem südamerikanischen Hafen die Goodefroo. Man hörte nirgend von ihm. Er schrieb auch nicht. Fünfundzwanzig Jahr später, ein Jahr nach dem Tod seines Vaters, erschien er plötzlich in der Heimat, ein stattlicher, verschlossener Mann, ganz das Ebenbild seines Vaters, unverheiratet, Kapitän auf einem mächtigen Dampfer, der von Frisco nach Yokohama fuhr. Er besuchte seine Tante, die ihn damals beherbergt hatte, und machte einige kleine Fahrten durchs Land, traf einige alte Bekannte bei einem Glase Wein, sprach ruhig und wenig von seinem jetzigen Leben, sprach mit seinem jüngern Bruder wie mit einem Fremden – seine Schwester war gestorben – und blieb acht Tage. Auf Vaters Hof kam er nicht; zu Vaters Grab ging er nicht. Er hatte so etwas Starres im Gesicht und etwas Aufrechtes in der Haltung, als zürnte er noch mit irgendeinem. Es konnte keiner an seine Seele herankommen. Das alles hatte das eine wilde Wort getan: Ich wollte, ich säh' dich nicht wieder.

Piet Boje nähte einen losen Knopf an seinen besten Anzug. Obgleich er wahrhaftig nicht kleinlich war, so war seine ganze Kiste nichts als Ordnung und Sauberkeit.

Kai Jans sitzt ganz zusammengesunken, die noch immer wunde und verbundene Hand über den Kopf gelegt – wenn er sie hochhält, brennt und klopft es nicht so sehr – und liest abwechselnd im Cäsar und sucht in der Grammatik. Neben ihm erzählt Hinnerk Lornsen von Apenrade dem Segelmacher die Geschichte, die er am liebsten erzählt: wie er als Junge mit dem kanadischen Holzschiff in Aberdoway in Wales gelegen hat und die blonde vierzehnjährige Lotsentochter jeden Nachmittag mit ihm den Fluß hinaufgegangen ist und ihm, dem steifen Nordschleswiger, das Englisch und das Küssen lehrte. Das liegt nun weit zurück; er ist über vierzig und Vater von fünf Kindern.

Hans Jessen sitzt in der Mitte, platt auf Deck. Er hat einen Band Gartenlaube auf den Knien, den die gute Nachbarin des Elternhauses ihm mitgegeben hat. Sie hat selbst acht Kinder und hat doch an ihn gedacht. Als er von ungefähr ein Blatt umwendet, sagt er: »Seht 'mal, hier ist die Mannschaft von einer Nordpolfahrt!« Zwei, drei sehen ihm über die Schulter. Heine Marquard, der jetzt gern, wo es irgend angeht, seine Gelehrsamkeit anbringt – auf der Schulbank saß er mit saurem, stumpfem Gesicht – lehnt ihm fest auf den Schultern. Torril Torrilsen, der Gute, der neben ihm sitzt und mit einem grauen Wollfaden, fast so dick wie ein kleiner Finger, Kai Jans' Wolljacke stopft, beugt sich auch zu dem Buch und sieht auf das Bild, und ganz gemächlich setzt er seinen braunen, verarbeiteten, teerigen Zeigefinger unter das Bild. »Sieh,« sagt er: »Da steht mein Name.« Da besahen sie alle das Bild und erkannten ihn. Auch Kai Jans hob die Augen und besah es und sah dann träumend übers Meer und sah in ferne, grausige Finsternis.

Danach, wenn es Abend wird, singen sie die alten Lieder.

Wer hat die Sonnabendabende auf der Goodefroo mitgemacht? Der hat sie nicht vergessen.

*

Hundertfünfzig Tage waren vergangen, seit die Goodefroo mit ihren Kindern im Hafen von Apia die Anker gelichtet hatte, da kam ein schöner, klarer Septemberabend. Da standen sie alle auf der Back und sahen schräg voraus und warteten. Aber die Sonne ging unter, die Dämmerung kam, und das Feuer kam nicht. Da gingen sie ins Logis; denn die Luft war kalt.

Sie waren aber kaum hineingetreten – Wilhelm Baldermann, der immer zuletzt kam, stand noch in der Tür – da sang Jakob Siemsen, der Ausguckmann, hell und freundlich: »Füer verrut?!« Da stürzten sie alle hinaus ... auf die Back ... und starrten über die dämmernde See ... da stand da in der Ferne das Feuer von Lizzard. Wie mit zwei großen, wilden Löwenaugen starrte es von der Klippe herab, über die wogende, graue Wüste ...

»Mensch ... nun sag' ... was wollen wir zuerst tun ... wenn wir in Hamburg sind! ...«

»Jung', was wird Mutter sagen! ...«

»Du, Piet ... ich bin in zwei Jahren nicht zu Hause gewesen.«

»Ich in vier Jahren nicht,« sagte Piet ...

Als er sich mit blanken Augen umsah, stand Kai Jans nicht unter den andern. Da ging er ins Logis und fand ihn geduckt in der dunkelsten Ecke sitzen, auf Torril Torrilsens Kiste, die verbundene Hand aufs Knie gestützt. Er blieb an der Tür stehen und sagte unsicher: »Freu' dich doch ...«

»Worauf soll ich mich freuen?« sagte Kai Jans tonlos.

Da ging Piet wieder hinaus.

Am andern Morgen stieg langsam die Küste von England auf. In zwei Tagen hatten sie den Kanal hinter sich. Am Abend des vierten fuhren sie am ersten Elbfeuerschiff vorüber. Am fünften, als sie im Schlepptau hinauffuhren, waren sie vom Backbord nicht wegzutreiben. Steuermann Lau verteilte etliche tüchtige Anreden, aber auch das half nicht viel.

Hans Jessen kam immer wieder zu Piet: »Sieh da ... du ... die Ziegelei von Neufeld! ... Siehst du, die Bösch! ... Mensch, was'n Spaß! ...«

Piet Boje hörte zu und sah fern im Geist den Turm von Hilligenlei und sah die niedrige Stube und sah die Mutter ...

Da ging Steuermann Lau vorüber: »Was hast du nun für Pläne,« sagte er ... »ich meine für dein ganzes Leben? ... Zeitlebens Seemann bleiben?«

Piet Boje hob die Schultern: »Wenn es noch so wäre wie früher,« sagte er, »da einem das Schiff selbst gehörte oder doch ein Stück daran.«

»Ja,« sagte Pe Ontjes, »wenn! ... Aber nun ist es eine verdammt schmale Sache. Man ist Beamter, und zwar auf dem Wasser. Solange man jung ist, geht das, aber dann!«

»Ja,« sagte Piet Boje gedankenschwer, und da ... wie er so in die Zukunft hineintastete, sah er, verschwommen und undeutlich, so etwas wie einen Lebensweg, wie man einen Hafenstrom im Morgennebel sieht. »Ich habe, seit ich zur See ging, mehr Interesse am Schiff selbst gehabt, als am Fahren. Der Bau und sein Schwimmen und sein Treiben vor Segeln hat mich immer mächtig interessiert. Da war der Alte auf der Klara: der hat mich da noch weiter hineingerissen. Ich weiß nicht ... wenn ein Mensch von seiner Jugend an all seine Liebe an eine Sache wendet und kennt am Ende diese Sache besser als die andern: Dann muß man ihn doch brauchen können, ja, dann muß er einen guten Wert haben. Je höher, je wichtiger die Sache selber ist ... Nun also ... das ist es, was ich darüber denke, und weiter weiß ich nichts.«

Steuermann Lau nickte mehrmals langsam mit dem Kopf. »Das läßt sich hören,« sagte er ... nickte noch einmal und strich mit der Hand durch die Luft. »Da ist nichts davon wegzupusten ... Die Nase immer voraus und helle Augen ... dann muß es sich machen ... Inspektor an einer Werft ... so was. Immer hinauf!«

»Und was willst du?« fragte Piet höflich.

»Ich? ... Ja! Das will ich dir sagen ... du sprichst mit andern nicht darüber ... ich will noch drei, vier Jahre mit der Goodefroo fahren; dann will ich 'mal sehen, ob ich am Lande fest werden kann.«

»In Hamburg?«

»In Hilligenlei.«

»So!« sagte Piet erstaunt. »In Hilligenlei.«

»Ja, mein Alter hat da einen Plan und ist schon dabei, ihn auszuführen. Einen kleinen Kornhandel, verstehst du, Mais und Gerste mit Ewern von Hamburg. In Hilligenlei selbst ist ja nichts zu machen: da ist alles verschlafen, aber die Umgegend ist gut. Die Landleute! ... Übrigens ... ich komme diesmal nicht nach Hilligenlei. Du gehst wohl 'mal zu meinen Alten und grüßt sie von mir. Du kannst auch deine Mutter und deine Schwester grüßen.«

»Ich dachte,« sagte Piet, »du wolltest mit nach Hilligenlei fahren und zusehen, was aus Kai Jans wird.«

»Ich habe mir schwere Gedanken darüber gemacht, das kannst du mir glauben,« sagte Pe Ontjes. »Ich habe aber nichts anderes ausgetüftelt, als daß ich einen mächtig langen Brief an den alten Wedderkop geschrieben habe. Du kennst ihn ... das ist der einzige Mensch da, der ein wenig über das Gewöhnliche hinaussieht. Geh' du auch 'mal zu dem Alten, sag' ihm, daß der Kai Jans ein feiner Kerl ist, so und so, du kennst ihn ja eben so gut, wie ich ... als Seemann nicht zu gebrauchen, ganz abgesehen von seiner kaputten Hand. Wenn er nichts anderes weiß, kann er ihn vielleicht in Hamburg in einem Kontor unterbringen.«

*

Als am andern Tag die Sonne sank, wollten sie sich in dem kleinen, spitzgiebligen Hause unter den Kastanien zum Abendbrot niedersetzen. Die Mutter saß noch an der Maschine; aber Heinke und Hett klapperten schon ungeduldig mit den Tassen. Da kam ein rascher Schritt den Bürgersteig entlang ... ein rascher, unruhiger Schritt ... und zögerte unter dem Fenster ...

Es stand ihnen der Atem still ...

Wie freuten sie sich! Nein ... wie freuten sie sich!

Wie streichelte ihn die Mutter!

Als Heinke und Hett das sahen, fingen sie laut an zu weinen; denn sie hatten noch nie gesehen, daß ein großer Mensch gestreichelt wurde.

Und nun ging das Verwundern los! ... »Wie bist du groß geworden!« ... »Groß nicht, Mutter; aber breit ist er geworden ...« »Deern, Anna, was bist du für ein mächtiges Mädchen!« ... »Ich bin so groß, wie du,« sagte sie ... »Ich bin auch fast so groß,« sagte Heinke, »und bin erst zwölf« ... »Am Ende bin ich der kleinste,« sagte er und lachte. »Aber wer ist der dümmste?« ... »O,« sagte sie, »das wird sich zeigen; wir sind auch nicht auf den Kopf gefallen!« ... Da sah er sich in der hohen, hellhaarigen Gesellschaft um und sah in lauter stolze, graue Augen und freute sich.

Und nun ging das Fragen an. Dreihundert Mark legte er auf den Tisch ... »Zweihundert hat Mutter abgetragen,« sagte Heinke; »Mutter arbeitet viel zu viel ...«

Er setzte sich an die Maschine und ließ sich zeigen, wie es gemacht wurde, und schalt die Mutter. Die stand mit feuchtlächelnden Augen neben ihm.

»Wie war denn Lau gegen dich?« sagten sie.

Er lobte Lau ... »Ein bißchen hochmütig ... na ... das sind wir auch. Aber tüchtig und gerecht! ... Ich soll euch grüßen, auch dich, Anna.« Die warf den hellen Kopf zurück und sagte nichts.

Heinke stand schon lange da, eine Frage auf den jungen, roten Lippen. »Du ... ich habe alle Briefe gelesen, die Kai Jans nach Hause geschrieben hat, und habe ihn immer grüßen lassen und er hat wieder gegrüßt. Weißt du das?«

»Das weiß ich ... Seine Hand ist noch immer nicht heil.«

»Noch immer nicht? ... Mutter, darf ich jetzt gleich hingehen?« ...

Sie stob die Hafenstraße hinunter, lief die Deichschrägung hinauf und trat hinein und fand den langen, braunen Jungen mit der verbundenen Hand am Tisch sitzen; Vater und Mutter bei ihm; und alle drei mit stillen, bedrückten Gesichtern; sie waren ja wieder 'mal so weit wie sie vor vier Jahren waren. Da blieb sie steif und verlegen an der Tür stehen, sah ihn an und dachte: wie mager und häßlich ist er. Sie hatte ihn ein einzig Mal gesehen, vor vier Jahren, als er mit Piet fortging, und meinte, daß er ein feiner Junge wäre.

»Sieh,« sagte Male Jans und richtete den Kopf ein wenig auf: »Da ist Heinke Boje; die hält viel von dir.«

Sie machte die zwei Schritte zum Tisch und hielt den Arm lang hin: »Ich freu« mich, daß du da bist,« sagte sie freundlich. »Tut die Hand weh?« ...

Er schüttelte den Kopf: »Jetzt nicht mehr,« sagte er. Er langte nach der Fensterbank: »Sieh', ich hab' dir einen kleinen Korb mitgebracht von Samoa.« Er wußte, daß man vorsichtig mit den Bojes umgehen mußte, und setzte ausdrücklich hinzu: »Ich habe ihn extra für dich gekauft.«

»Das ist aber gut von dir,« sagte sie langsam und deutlich, und sah glücklich auf den Korb in ihrer Hand ... »Was willst du nun aber werden?« sagte sie.

»Ja,« sagte er bedrückt, »wenn ich das wüßte!« und er suchte unsicher die stillen Gesichter seiner Eltern.

»Ich habe dir noch nicht gesagt,« sagte seine Mutter, »daß Kassen Wedderkop sich deine Briefe geholt hat. Er wollte sie 'mal lesen. Er sagte, Pe Ontjes hätte ihm geschrieben. Vielleicht weiß Wedderkop etwas für dich.«

Indem ging die Tür und Kassen Wedderkop kam herein.

Er war entschieden zu breit und auch zu groß für diese niedrige Stube mit den beiden kleinen Fenstern. Sein Stöhnen zuerst, und seine Stimme, die dann kam, waren auch viel zu laut für einen so kleinen Raum und für drei so verschüchterte Menschen.

»Nun, da ist er ja!« sagte er ... »nun, was macht die Hand?« Er faßte ihn am Arm und drehte ihn nach dem schwachen Tagesschein und sah ihn an, und wieder, wie vor vier Jahren in der Werkstatt von Heine Wulk, gefielen ihm die klugen, vornehmen Augen und der stolze, breite Mund. »Was macht die lateinische Grammatik?« sagte er, »und der Cäsar? Die Leute da in Korea waren so taub; davon spreche ich etwas laut ... Kurz und gut ... wenn du Lust hast, sollst du in die Bücher hinein. Der alte Direktor ist tot und es sind hier zwei, drei jüngere Lehrer, die an einem wunderlichen Fall ihre Freude haben.« Er stöhnte sehr und griff nach seinem Rücken. »Ich verlange aber von dir, daß du dich später, wenn du ein Mann bist, für meinen großen Gedanken begeisterst, nämlich: daß die Völker um die Nordsee ... sie sind von einem Stamm und einem Glauben und haben alle den Löwen im Wappen ... sich zu Schutz und Trutz zusammentun ... und wenn es auch fünfzig Jahre dauert, bis das geschieht, und Kriege zuvorkommen, glauben sollst du daran.«

»Das will ich!« sagte Kai Jans und sein hageres Gesicht strahlte von Freude und Güte. »Alle Völker sollen einig sein!«

Als sich die erste Freude ein wenig gelegt hatte, sagte Thoms Jans mit den klugen, schelmisch verlegenen Augen, die er oft hatte, besonders wenn er mit sogenannten Gebildeten sprach: »Ja,« ... sagte er, »er hat nun soviel gesehen ... Amerika ... Afrika ... China ... rund um die Erde ist er gewesen ... aber Hilligenlei, das heilige Land, hat er nicht gefunden.«

Kassen Wedderkop lachte verlegen: »Ja,« ... sagte er ... »wo das finden?«

»Ja,« sagte Thoms Jans. »Wo das finden! ... Ich glaube ...« und er machte noch immer seine schelmisch verlegenen Augen: »Ich glaube, es ist noch gar nicht da; es liegt irgendwo in der Zukunft.«

Er dachte an die Zukunftshoffnung der Arbeiterpartei; er meinte, da wäre das heilige Land und dachte: ›Nun wird er ein Gelehrter, und wird uns helfen, daß wir hineinkommen.‹ Er wagte es aber weder vor seinem Sohn noch vor dem gebildeten Mann zu sagen.

Seine kleine Mutter stieß ihn an und sagte leise mit heimlich strahlenden Augen: »Du, Kai? Ob du wohl in deiner Donkyjacke in die Schule gehen kannst?«

Er aber hörte nichts von dem, was sie sprachen. Er stand in wirrer Verwunderung vor dem neuen Weg. Und sah sich darauf wandern; und wanderte, und zog dahin, und dachte an jeder Wegbiegung und auf jeder Anhöhe: ›Nun kommt es, das heilige Land! Nun kommt es!‹


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