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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Als die drei im Abenddunkel – der Mond stieg grade hoch – auf dem Bahnhof von Hilligenlei anlangten, kamen der Bauunternehmer Claussen und der Maler tor Straten und zwei andere jüngere Geschäftsleute, welche frische Männer waren und sich von den Älteren und dem ganzen Klubtreiben ferngehalten hatten, auf Pe Ontjes zu und fragten ihn heimlich, woher er käme. Sie hatten sich bisher, ganz wie Pe Ontjes, um die Stadt und ihre Verwaltung gar nicht gekümmert, sondern nur an ihre Geschäfte und Familien gedacht; aber seit gestern waren auch sie mißtrauisch geworden.

Da sagte ihnen Pe Ontjes alles.

»Da haben wir's!« sagten sie. »Und er hat geahnt, daß du ihm auf der Spur bist, und hat sich die Zweihunderttausend heute schon auszahlen lassen.«

»Wo ist er?« sagte Pe Ontjes.

»Er sitzt im Klub, wenn er nicht schon über alle Berge ist.«

»Ich geh' in den Klub,« sagte Pe Ontjes rasch. »Sucht ihr ihn anderswo.« Er sah sich auf der Straße um. »Wir müssen mehr Leute haben, ihn zu suchen. Wo sind Leute?«

Einige Leute, auch Frauen und Kinder, liefen im Trab vorüber, die Straße hinauf nach dem Hafen zu.

»Was haben die Leute?« sagte Kai Jans.

»Ja,« sagten die andern, »was mag los sein? Wir sahen schon vorhin, wie einige Leute heimlich und wie unsinnig nach dem Hafen zu liefen.«

Da rannte der Schlosser Nagel vorüber und sie riefen ihn an: »Hierher, Meister! Wohin, Meister?«

Er wandte sich im Lauf und rief: »Wißt ihr's noch nicht?« Und sagte etwas von Dusenschön, was sie nicht verstanden, und lief weiter. Gleich darauf kam ein großer Junge, der, die Pantoffeln in der Hand, auf Strumpfsocken an ihnen vorüber stieben wollte. Pe Ontjes ergriff ihn im Nacken: »Jung, was ist los?« Er entriß sich ihm mit einem Ruck und rief: »Dusenschön hat das Goldschiff ausgraben lassen ... im Dänensand ... Eine Million ist schon gefunden.«

»Hört ihr?« sagte Pe Ontjes. »Ach du liebe Zeit!«

Aus der Wirtsstube des dicken Bütt kam lautes Johlen und Schreien. Man hörte die Namen: Bürgermeister und Dusenschön. Laute Hochrufe wurden ausgebracht. Hin und her aus den kleinen, spitzgiebligen Häusern eilten Menschen hervor, Haustüren schmetterten, Frauen riefen und liefen hinterher. Der lahme Schuster Hagel kam auf seinem Tretwagen vorüber: »Eine Million!« schrie er, und warf sich mit Macht in die Speichen. Die Alte von Thieden, deren Kinder alle verkommen sind, kam aus ihrer Haustür und band sich im Gehen die große, blaupunktierte Schürze um. »O, wenn doch meine Kinder hier wären! Nun werden wir alle reich!«

Als sie ans Ende der Hafenstraße kamen, stand Stiena Dusenschön unter dem Fenster von Rieke Thomsen und drehte sich und wedelte und zierte sich und lächelte. Sie war nun über siebzig alt.

»Die arme Mutter!« sagte Kai Jans.

»Habt ihr schon gehört?« rief sie mit hoher, singender Stimme.

Rieke Thomsen streckte den großen, dicken Kopf heraus und erkannte die beiden. »Nun?« sagte sie höhnisch. »Pe Ontjes? Kai Jans? Glaubt ihr jetzt, daß Tjark Dusenschön heilig Land zustande bringt? Ich habe es immer gesagt.«

»Du hast immer recht gehabt!« rief Pe Ontjes ... »Wo ist Tjark Dusenschön? Wir haben noch einen Lorbeerkranz für ihn.«

»Der höhnt uns noch!« sagte sie in hellem Zorn. »Aus euch beiden wird nie was! Nichts! Gar nichts!«

In der Seilerstraße und auf dem Burgplatz brachen die Leute aus den Wirtschaften heraus und beredeten mit angetrunkenen Stimmen, ob sie nach dem Dänensand hinaus wollten. Einige beschlossen, nach dem Klub zu gehen und Dusenschön zu feiern.

»Komm,« sagte Pe Ontjes.

»Ach,« sagte Kai Jans, »laß mich jetzt nach Hause gehn. Ich möchte nicht mit nach dem Klub. Ich habe von Kindheit an zu all diesen Leuten hinauf gesehen und ich tue es fast noch. Es ist nicht schön, Könige im Schmutz zu sehen.«

»Bier- und Kartenkönige,« sagte Pe Ontjes. »Es tut dir gut; komm mit.«

Als sie dem Klubhaus näher kamen, hörten sie schon von ferne lautes Brüllen. Sie gingen hinein und öffneten die Tür und sahen in dem dichten Tabaksgewölk die fünfzehn oder zwanzig Mitglieder an der Tafel sitzen; vor ihnen standen die großen, vollen Gläser. Auf dem Tisch, und auf den Borden rings umher, lagen und standen allerlei kindische Stiftungen: Becher, Sammelbüchsen, ausgestopfte Vögel, billige bemalte Statuetten, alles ohne Sinn und Verstand durcheinander, häßlich und verrückt wirkend. Mitten auf dem langen Tisch stand ein großes Schwein von Holz mit einem Wurstkranz um den Hals. Der Klub hatte es sich in geheimer und außerordentlicher Sitzung zu seiner und Dusenschöns Ehre aus der gemeinsamen Kasse gestiftet. Über dem Stuhl Tjark Dusenschöns hing der Lorbeerkranz, den er von Berlin mitgebracht hatte. Er selbst war nicht mehr da.

Daniel Peters stand auf seinem Stuhl, trotz seiner sechzig Jahre in schneidiger Haltung, von oben bis unten nichts als Eitelkeit, und war in seiner Rede grade unterbrochen worden und konnte nicht durch den Lärm dringen.

Doktor Winsing drang mit seinem lachenden Bierbaß durch: »Nun sag' mal, Bürgermeister: ihr könnt es jetzt ja gerne gestehn: du und Suhlsen, seid ihr wirklich und wahrhaftig bis Berlin gekommen?«

»Sag mal, Suhlsen, wieviel Stockwerk hat die Fabrik?«

Alle lachten und schrien durcheinander: »Suhlsen sagt zwei, der Bürgermeister sagt drei.«

»Sie sind am Donnerstag abend in Hamburg bei Pfordte gesehen worden ... Wann sind sie denn in Berlin gewesen?«

»Wo bleibt denn Dusenschön?«

Daniel Peters strich den langen, schönen Schnurrbart: »Meine Herren ...«

»Weiter!«

»Wir wußten ja, was wir von Herrn Dusenschön zu halten hatten, so daß die Reise nach Berlin allerdings höchst unnötig war. Aber ich und unser allverehrter Ratmann sind doch nach Berlin gefahren, in treuer Pflichterfüllung, und haben alles genau besehen.« Er strich wieder gedankenvoll den Schnurrbart und sagte sehr ernst: »Meine Herren ... ich weiß wohl, daß dieser Raum nicht der offizielle Mittelpunkt der Stadt Hilligenlei ist, und daß man hier nicht die offiziellen Ehren verteilt ... meine Herren, die werden im Sitzungssaal unseres altehrwürdigen Rathauses vergeben; aber – und hiermit sage ich eine allbekannte Wahrheit – dieser Raum umschließt oft, und in dieser Stunde wieder, die Intelligenzen der alten Stadt Hilligenlei. Darum sollen die Ehren, die in diesem Raum verliehen werden, nicht gering geachtet werden.«

»Sehr gut ... Weiter!«

»Ich habe Sie, meine verehrten Herren und Freunde, mit der Tatsache bekannt zu machen, daß der Domklub in Hilligenlei, am 30. März 1848 gegründet, dessen Vorsitzender zu sein ich zurzeit die Ehre habe: den Herrn Dusenschön, Inhaber der Wurstfabrik – im Vertrauen gesagt: im nächsten Jahr die größte in ganz Deutschland –, einstimmig – ich muß es wiederholen, um den Geist dieser Versammlung zu kennzeichnen – zum Ehrenmitglied ernannt hat.«

Es gab ein gewaltiges Jubeln, ein lautes Durcheinanderrufen.

»Das finde ich nun allerdings großartig.«

»Das macht dem Klub nun wieder Ehre. Das muß man sagen.«

»Das ist echt Hilligenlei. Kein einziger Nörgler.«

Sie schüttelten sich gegenseitig mit ernst-frohen Mienen die Hände.

Der Kornhändler Lau kam wirklich zur unrechten Zeit. Er drang hitzig durch den Rauch und die erhobenen Biergläser an den Tisch und sagte: »Wo ist Dusenschön mit dem Geld? Wo ist er mit dem Geld? Ich bin in Berlin gewesen ... Es ist alles Schwindel.«

Sie verstanden ihn nicht. Der erste Amtsrichter, der sich jeden Tag volltrank und sein schönes und hohes Amt verlodderte, legte seine beiden Hände fest um seinen Stammkrug, stand auf und sagte mit stumpfen, blöden Augen und würdiger Mine: »Herr Lau ... unsere Statuten verbieten, daß Leute ohne Einführung ...«

»Was ist? Was will er hier?«

»Ich bin in Berlin gewesen,« sagte Pe Ontjes wütend. »Es ist alles Schwindel. Verstehen Sie das Wort oder nicht? Es gibt gar keine Dachpappenfabrik. Es ist alles Betrug und Schwindel. Verstehen Sie das?«

Der alte schwere Suhlsen stand auf und starrte mit entsetzten Augen auf Pe Ontjes und sank gleich in sich zusammen auf seinen Stuhl und sein Kopf fiel schwer auf den Tisch.

Das rote Gesicht des Bürgermeisters wurde leichenblaß.

»Bürgermeister ... du ...«

Sie schrien alle durcheinander. »Was ist das nun? ... Suhlsen! ... Bürgermeister ... Ihr seid doch da gewesen.«

»Verdammt noch mal ... so rede doch, Mensch! Hast du die Fabrik gesehen oder nicht? Bist du in Berlin gewesen?«

»Nur nach Hamburg,« sagte Daniel Peters. »Bis Pfordte ...« und drehte sich um und stand unschlüssig an seinem Stuhl, die Augen an der Erde.

Jene jüngeren Bürger, die Pe Ontjes auf dem Bahnhof empfangen hatten, und einige andere drängten in die offene Tür; Wirt und Kellner und Leute von der Straße drängten nach. Einer von ihnen sprang an den Bürgermeister heran und stieß ihn vor die Brust und schrie ihn an wie einen Schlafenden: »Wo ist der Schuft? Blamiert sind wir vor dem ganzen Land.«

Doktor Winsing, der seit seinem Examen niemals wieder in ein Buch seines Faches hineingesehen hatte, ein ganz unbegabter, geistloser Mensch, aber mit einem sichern Maul, rief breit dazwischen: »Wir verbitten uns solche Sprache gegen ein Mitglied unsres Klubs, solange die Dinge nicht klar sind.«

»Verbitten?« sagte Pe Ontjes. »Was seid ihr denn? ... Wir haben zu euch hinaufgesehen. Zu dem Magistrat und den Studierten, und der eine der Herren Pastoren ist ja auch hier. Aber was sind Sie? ...« Er wußte nicht, wie er es sagen sollte.

Kai Jans sagte: »Die ganze Stadt sieht auf euch, Männer und Frauen und Kinder, weil ihr in Amt und Ehren steht; sie meinen alle, ihr seid inwendig etwas. Aber ihr zieht euren Gehalt und erfüllt notdürftig und ohne Geist euren Beruf. Ihr solltet stolze und wache Leute sein, Licht und Segen für die Stadt. Heiliges, reines Land sollt ihr daraus machen. Ja, das sollt ihr!«

Der alte Suhlsen wurde hinausgetragen. Dann und wann trat ein Handwerker an den Bürgermeister heran und schalt ihn. Zuletzt faßte der Wirt ihn an und zog ihn in die Nebenstube und schlug die Tür hinter ihm zu. Dort saß er lange zusammengedrückt in der Ecke, und wenn einer an ihn herantrat, sah er stumpf auf und sagte: »Schneid mir den Bart ab ... schneid mir den Bart ab ...« Er hatte wohl das Gefühl, daß er an seinem Bart, als an seiner Eitelkeit, zugrunde gegangen war.

Pe Ontjes und Kai Jans gingen, Tjark Dusenschön zu suchen. Im Burggarten wollte Kai Jans weggehn. »Laß mich nun nach Hause gehen,« sagte er, »ich habe nun gestern und heute Not genug gesehen.«

»Du kommst mit,« sagte Pe Ontjes zornig. »Wir wollen an Tjark Dusenschön heran.«

»Ich mag nichts mehr sehen,« sagte Kai Jans mutlos, »ich habe alles gesehen, was es in der Welt Trauriges und Schreckliches gibt. Was soll ich noch das Gesicht von Tjark Dusenschön sehen?«

»Komm mit, es tut dir gut nach all deinem Grübeln.«

Als sie in die Seilerstraße einbiegen wollten, kam ihnen ein kleiner, altmodischer Wagen entgegen. Im Schein des Mondes sahen sie, daß der Fahrer sein hageres Bauerngesicht auf sie wandte und sie scharf ansah. Als sie die Straße schon ziemlich weit hinuntergegangen waren, sagte Pe Ontjes plötzlich: »Du, der Bauer kam mir verdächtig vor ... Horch ... wo fährt er hin?« Sie standen still und horchten und hörten den Wagen die Hafenstraße hinunterrollen. »Hörst du? Er fährt nach der Fabrik hinunter. Komm, wir wollen sehen, wo er bleibt.«

Sie eilten nach der Fabrik hinunter und sahen, daß sie wie gewöhnlich erleuchtet war, und man hörte arbeiten und das Schreien von Schweinen.

Sie sahen sich verwundert um. Irgendwo mußte der Wagen doch sein. Da entdeckte Kai Jans ihn. Auf dem Deichweg hielt er. Die dunkle Masse des Deiches erhob sich hinter ihm und verdeckte ihn.

Sie gingen an den Wagen heran und Pe Ontjes sah scharf hinauf und sagte leise: »Bahne Voß von Krautsiel? Auf wen wartest du?«

»Das geht niemanden etwas an,« sagte Bahne Voß und lächelte harmlos.

»Du bleibst hier ruhig halten und sagst keinen Ton,« sagte Pe Ontjes leise, »sonst fällt dir meine Faust aufs Maul. Du Kai: Geh in die Fabrik und sieh, ob er da ist. Vielleicht jagst du ihn mir in die Hände.«

Kai Jans ging nach dem Schuppen hinüber und suchte in den halbdunkeln Räumen vergebens das Kontor. Da ging er hinter dem Schweinegeschrei her und kam in einen langen Gang, der an den Ställen hinlief. Da sah er da im Schein des Mondes einen ungeheuer langen Menschen, der gebückt, polternd und stolpernd, hinter einem Schwein her lief. Und er erkannte Jan Friech Buhmann. »Was machst du hier?« sagte er. »Was machst du hier ... Rennst mit dem Schwein hin und her, und kneifst es in den Schwanz und haust gegen die Verschalung?«

»Ach!« sagte Jan Friech und wischte sich den Schweiß von der Stirn ... »Ach ... du bist es, Kai!«

»Was bedeutet dies? Sag' es mir doch! Wo ist Tjark Dusenschön?«

»Ach,« sagte er jämmerlich und atemlos. »Kai! Ich weiß nicht ein noch aus. Ich lauf' hier seit drei Tagen und lauf' mir die Lunge aus dem Hals. Meine Frau meint, ich sitze bei Krautsand und fange Aale. Er hat keine Schweine mehr und kein Geld mehr, glaube ich, der arme Mensch, und steht und wühlt mit seinen Leuten im Dänensand, Geld zu schaffen.«

»Mensch,« sagte Kai Jans, »es ist ja alles nicht wahr. Es ist ja alles Schwindel.«

Jan Friech setzte sich schwer hin: »So,« sagte er, »alles Schwindel? ... Alles Schwindel ... Wo ist er denn?«

»Wir wissen es nicht. Wahrscheinlich flüchtig.«

»Du, Kai ... er ist doch ein großartiger Mensch. Ein großartiger Mensch! Er ist dir und Pe Ontjes weit überlegen, weit ... So! ... Alles Schwindel! ... Alle Achtung, Kai!«

»Sag' bloß, wo er ist?«

»Vor einer Stunde war er im Kontor. Wo er jetzt ist, weiß ich nicht. Es kamen Leute vorbei, die schrien von Dänensand und von Totschlag. Da hat er sich denn nun wohl irgendwo versteckt ... Ich habe doch immer viel von ihm gehalten. Ich muß sagen, er hat mir von allen Menschen am meisten Freude gemacht.«

»Komm mit zu Pe Ontjes.«

Pe Ontjes stand am Wagen und wartete vergebens.

Da kamen einige Leute vorüber, erkannten die Stimme von Pe Ontjes und riefen: »Wir haben ihn! In der Brandtwiete haben wir ihn gestellt und nach dem Rathaus gebracht. Und ihm das Geld abgenommen! Es liegt schon wieder in der Stadtkasse. Ihn selbst haben wir laufen lassen.«

»Wie war ihm denn zumute?« fragte Kai Jans.

»Er war ziemlich ärgerlich, das könnt ihr glauben; aber im übrigen unverfroren. Er fürchtet bloß, daß er Prügel bekommt, und ist wahrscheinlich zu Fuß unterwegs nach der nächsten Bahnstation.«

Da ging Pe Ontjes mit Kai Jans und Jan Friech nach dem langen Haus zu. »Ich muß sagen,« sagte Pe Ontjes, »mir tut leid, daß ich ihn nicht zu sehen bekomme.« Er ging nach dem langen Haus hinauf und fand die Tür von Stiena Dusenschön offen, ging hinauf und kam gleich wieder heraus: »Die Wohnung ist leer.« Sie gingen wieder auf die Straße hinunter und redeten darüber miteinander, wo er wohl sein könnte.

Da sah Jan Friech von ungefähr nach seiner Schmiede hinüber, und sah, daß die Tür, die einen Spalt hatte, vorsichtig und sachte angezogen wurde ... »Ach Gott!« sagte er leise, »ich weiß, wo er ist!« Und ging auf die Tür zu. Da saßen im Mondenschein, der in die westlichen Fenster klar hineinschien, ganz deutlich zu sehen, auf dem alten, verfallenen Wagenkasten von Vollmacht Nissen, den sie einmal verlost hatten, Tjark Dusenschön, und neben ihm seine Großmutter, die alte Stiena. Und Daniel Peters, der Bürgermeister, saß ihnen gegenüber auf einer umgestülpten Schiebkarre. Und Tjark Dusenschön redete vor ihnen, mit seinen blanken, treuen Augen.

Kai Jans fuhr heiß auf ihn los: »Was willst du nun? Sag' mir ... was denkst du nun? So elend gehst du wieder in die Welt hinaus.«

»Elend?« sagte Tjark Dusenschön erstaunt, und griff mit den Händen in die großen, ehrbaren Klappentaschen ... »Ach, Mensch ... du bist zu dumm.«

»Schlag ihn ins Gesicht!« sagte Pe Ontjes.

»Das ist ganz verkehrt, Pe Ontjes,« sagte Jan Friech und setzte sich auf den Amboß. »Er kann nichts dafür. Sein ganzes Unglück ist, daß er Brutto und Netto verwechselt. Das tat er schon als Junge.«

»Vergeßt nicht,« sagte Tjark Dusenschön gleichmütig und ruhig, »daß ich Ehrenmitglied des Domklubs bin.«

»Was hast du nun von einem solchen Leben?« sagte Kai Jans in großer Not. »Was denkst du? Wozu bist du auf der Welt?«

»Was meinst du?« sagte Tjark Dusenschön ... »Nimm es mir nicht übel, Kai Jans, du bist ein Narr ... Man muß Geld nehmen, wo man es kriegen kann, das ist doch klar.«

Pe Ontjes fürchtete, daß der Mensch wieder anfing ihm zu imponieren und sagte: »Komm, Kai, wir wollen gehen!«

»Aber was bist du denn?« rief Kai Jans mit heißem Drängen. »Was treibt dich um, und was willst du in der Welt? Tjark, sag' mir doch! ... Du bist doch ein ernster Mensch.«

Tjark Dusenschön sah mit mildem Lächeln und leisem Kopfschütteln zu ihm auf: »Armer Kerl!« sagte er. »Du bist ja förmlich in Not um mich! Was weiß ich von mir selbst? Es macht mir Spaß so!« Er horchte hinaus ... »Es ist still jetzt ... ich will gehen. Ich wollte dem Pack nicht in die Hände fallen.«

Als sie wieder in den hellen Mondschein hinausgingen, sagte Kai Jans müde und ganz bedrückt: »Nun laß mich, Pe Ontjes! Ich habe genug von dem Jammer.«

»Nein,« sagte Pe Ontjes verbissen, »komm mit! Wir wollen sehen, wie es in der Stadt aussieht. Wir müssen es durchfechten, Kai. Immer auf die Wahrheit und Wirklichkeit los; immer dicht heran; und wenn sie ein Gesicht hat, wie des Teufels Großmutter.«

Als sie den Burggarten wieder erreicht hatten, kamen viele in Scharen die Westerstraße herauf, vom Dänensand zurück. Sie hatten erfahren, daß alles Schwindel war, tobten und schrien und lachten durcheinander. Von allen Seiten, aus allen Häusern und Straßen kam Türgeklingel, wirre Rufe und eilende Menschen. Der große Pe Ontjes lachte.

»Lach nicht,« sagte Kai Jans. »Wie kannst du lachen, wenn deine ganze Heimat sich in solcher Erniedrigung zeigt?«

»Was geht mich Hilligenlei an?« sagte Pe Ontjes wild. »Frau und Kinder! Das andere ist mir alles gleichgültig.«

»Sag' nicht so!« sagte Kai Jans. »Sag' nicht so! Sie sind unsere Brüder und Schwestern. Wenn wir das nicht denken, wüten wir gegeneinander wie wilde Tiere.«

»Ach, Brüder und Schwestern!«

Da sahen sie einen Mann vom Kastaniengang herkommen und erkannten im Mondschein Piet Boje. Er war von Hamburg herübergekommen, um einen halben Tag bei seiner Mutter zu sein. Nun hatte er Heinke zu Anna gebracht, damit die an diesem wirren Abend nicht allein wäre, und wollte nun nach dem Bahnhof und mit dem Nachtzug nach Hamburg zurück. Er wußte alles, was geschehen war, und sagte: »Man wird nun in Zukunft nicht mehr sagen dürfen, daß man von Hilligenlei ist«; und ging in Gedanken neben ihnen her nach dem Bahnhof zu.

»Wenn es das wäre!« sagte Kai Jans. »Aber hör und sieh: all diese Menschen!«

Es liefen wohl hundert oder zweihundert Menschen von allen Seiten auf die Bahnhofstraße zu. Man hörte das Getrabe der Schritte und häßliche Scheltworte; dazwischen klang rohes, trunknes Lachen.

»Hör,« sagte Kai Jans, »wie sie lachen! Sie ahnen nicht, daß sie Wahnsinnige des Lebens sind!«

Piet Boje hob die Schultern und sagte gleichgültig kalt: »Das sind wir ja alle, Kai. Sollen wir überhaupt etwas anderes sein?«

»Du bist doch immer ein glücklicher, sicherer und klarer Mensch gewesen,« sagte Kai Jans.

Da lachte Piet Boje rasch auf. »Ach!« sagte er, »Jung und frisch bin ich gewesen! Ich habe Freude am Klettern gehabt! Aber seit ich oben bin ... Dies Getriebe auf unsrer Werft, Tag für Tag; heute eine Verbesserung versuchen, morgen eine verwerfen; mehr leisten als andere Werften, als andere Völker; dazu die unzufriedenen Arbeiter; und die Schleicher und Streber! So Tag für Tag. Das ist ja alles zwecklos.«

Sie waren in der Nähe des Bahnhofes angekommen. Im Schatten der schwarzen Steinkohlenschuppen standen große Haufen Menschen und lauerten lautlos, daß Tjark Dusenschön oder der Bürgermeister den Weg zum Bahnhof kämen, um über sie herzufallen.

»Weißt du,« sagte Piet Boje, »es gibt glückliche Menschen.«

»Wo?« sagte Kai Jans rasch und sah ihn an.

»Menschen mit einer fixen Idee! Du mußt ein Mensch werden mit einer fixen Idee, dann kannst du glücklich sein. In den Irrenhäusern, die Menschen mit glücklichen, fixen Ideen, die sind glücklich! Und die sich zu irgendeiner besonderen Sekte halten! Ich habe das in unseren Werkstätten beobachtet, und in London. Zum Beispiel die Leute von der Heilsarmee: die sind glücklich. Siehst du: schaff dir eine fixe Idee an, so bist du glücklich.«

»Ja,« sagte Kai Jans, heiße Not in den Augen. »Du hast recht ... wir sind ja auch noch nicht fern von der Zeit, da die Menschen wie dumpfe Tiere waren. So leben wir nun noch nicht von Erkenntnis, sondern von Einbildungen und fixen Ideen. Ich ... Piet! ... Ich wollte, ich hätte eine solche fixe Idee, eine fixe Idee für alle Menschen, eine große und weite und herrliche ... eine, die uns näher zum Lichte brächte, zur Erkenntnis.«

»Gute Nacht!« sagte Piet Boje und lachte laut auf und gab ihnen die Hand und ging.

»Nun sieh,« sagte Pe Ontjes. »Nun sieh!«

Ein großer Haufe betrunkener Bürger hatte das hölzerne Schwein vom Tisch des Domklubs weggenommen und an einer Stange befestigt und trugen es durch den klaren, schweigenden Mondschein, und gröhlten. Es waren Männer darunter mit grauen Köpfen, auch einige vom Domklub. Die im Schatten des Schuppens standen, kamen hervorgebrochen und vereinigten sich mit ihnen zu einem großen, lärmenden Haufen, der den ganzen Platz erfüllte.

»Sieh!« sagte Pe Ontjes und warf seine Hand nach dem Haufen hin: » Das ist dein Hilligenlei! ... Das ist das ganze Volk und die ganze Menschheit. Da hast du sie!«

»Du,« sagte Kai Jans mit fremder Stimme und faßte nach seinem Arm, als sollte er fallen. »Du, lieber Pe Ontjes! du bist ein einfacher Mensch; aber du stehst von deiner Kindheit an ... so sicher im Leben ...«

»Mein Junge!« sagte der Kornhändler Lau verlegen: »Ich ... sicher? ... Anna Boje und ich werden hin- und hergerissen von Zorn und Liebe ... Es fehlt uns, wie allen Menschen: Steuerruder und Kompaß.«

Da ließ Kai Jans seinen Arm los, und sagte mutlos, und man merkte, wie ein Grausen durch seine Seele ging: »Kein Mensch weiß etwas! Kein heilig Land! Kein Gott! Alles wirr! Wirr!«


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