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Sechzehntes Kapitel

Das war jener graue, schreckliche Novembertag, da die schöne Bremer Dreimasterbark, mit Salpeter von Iquique, bei Texel den Kurs nicht halten konnte und in die Brecher trieb. Sechs Stunden lag das Schiff umringt und umsprungen von den tollen weißen Wellenhunden. Tausend sprangen bellend und brüllend hinauf und flogen zurück; tausend bissen heulend in seine Seite; tausend wühlten unten an seinem Bauch im Sande. Und die in Lee im Sande wühlten, die brachten ihm den Tod. Es sank schwer über, tiefer und tiefer. Da versuchten sie das Schiff zu verlassen, zehn in dem einen Boot, zehn in dem andern. Das eine kam glücklich durch die Brandung. Das andere wurde gleich vom hinreißenden Sug an die Wandung geworfen und zerdrückt. Man sah nichts mehr vom Boot und nichts mehr von den Menschen. Die weißen Hunde bellten die ganze Nacht.

Es war jener graue, schreckliche Tag, wo die zwölf Fischerboote von Finkenwärder von ihren Gründen südlich von Helgoland flohen. Die Fahrgäste auf der Deutschland hatten sich morgens noch über sie gefreut: wie sie mit ihren schönen, braunen Segeln nordwärts auf dem dunkelgrauen Meer standen, hinter ihnen die blaugraue Himmelswand. Und in dem Graublau, das die ganze Seite des Himmels erfüllte, standen blasse ungeheuere Windsegel geradeaus von der Erde bis zur höchsten Höhe des Himmels, als wären sie aufgestellt die Welt zu fahren. Und gegen zehn Uhr stieg unten auf dem Meer ein schweres Dunkel auf und kam rasch näher, und kam stier und gradeaus wie ein ungeheurer grauer Eulenkopf, darin helle, gelbe Flecke standen, wie das Weißgelbe in uralten, bösen Augen. So schob es sich vorwärts; der weiße Gischt spritzte an seinen Bauch. Da sahen sie von ihrer Arbeit auf. Und da beeilten sie sich sehr. Hei, was flogen sie mit den schönen braunen Flügeln, kleine Strandvögel, dicht über Grau und Gischt. Duckt euch, Vögelein, es kommt der große, uralte Vogel des Meeres. Horch, nun rauschen seine mächtigen Flügel. Er kommt. Sie zogen die Flügel ein, sie duckten sich; da hackte er dreimal nach unten, mit wildem Stoß. Vier schöne braune Flügel trieben in den Wellen.

Es war ein schwerer, grauer Novembertag. Gegen Mittag schwand die letzte Helle. Das ganze Meer graugrünes aufgewühltes Wasser, darüber graue wildheulende Luft, quer hindurch eiskalter Regen und Schnee. Immer dichter folgten die Böen.

Sechs Torpedoboote, schmale, schwarze, mit rundem stählernen Deck, warfen sich, und stampften und wühlten sich durch die wild rollende See der Elbmündung zu. Sie wollen und müssen sie erreichen, ehe der schwere Ebbstrom ihnen entgegenkommt und harte Brandung schafft. Auf dem ersten Boot steht der Kommandant, den Schornstein hinter sich, vor sich den niederen Turm, im triefenden gelben Ölrock, um den Hals das dicke englische Handtuch, auf dem Kopf eine alte Mütze, den Sturmriemen unterm Kinn. Er achtet mit springenden Augen auf jede Bewegung der See. Neben ihm, die Hand am Zeichengeber, der älteste Unteroffizier. Sechs Mann stehen in Schwimmwesten zur Seite, die Hände an der Eisenstange; zuweilen stehen sie alle bis über die Knie im weißen Gischt. Um zehn Uhr, auf dem Nachbarboot, wollte ein Mann seinen Kameraden an sich vorüber gehen lassen, ließ das Geländer los, solange als flinke Augen brauchen aufzusehen, da sprang eine Welle, die noch flinker war, über ihn, und schluckte ihn hinunter. Um elf Uhr – der Kommandant bückte sich gerade, dem Mann am Ruder einen Befehl zu geben – lief unter das erste Boot von achtern her, genau in der Richtung des Kurses, eine ungeheure See: sie hob das Heck und das ganze Boot, und, im Heben, warf sie es ein wenig dwars. Und dann, als sie es auf der spitzen Schulter hatte: ein wilder Stoß ... Koppseis geht es! Wie ein toter Fisch treibt es ... Fünf hingen in Lee an der Bordwand; mit fünfen trieben die Wellen ihr sinnloses Spiel. Sie wurden alle zehn aufgefischt. Das war ein eilig Fischen! Aber sechs gehn mit dem umgestürzten Boot in die Tiefe.

Sie liegen unten auf dem Grund, im umgekehrten Boot, in schwarzer Finsternis, das Wasser bis an die Brust, und hin und her gestoßen. Da gab der junge Kommandant getrost das Leben auf, und was so daranhängt: die Mutter und die Brüder, und den grünen Wald, und die Ehre unter den Menschen. Er gab es ruhig und tapfer auf. Er dachte: für die Heimat gestorben und damit gut. »Kinder,« sagte er zu den andern, »wir wollen noch beten: Vater, nimm unsere Seelen zu dir in den Himmel, und gib uns einen schnellen und gelinden Tod.«

So wie sie ihn fanden, in dem zerrissenen gelben Ölrock, an den Beinen die hohen Gummistiefel, liegt er im Dom zu Schwerin und schläft in Frieden.

Es war ein schwerer, grauer Tag, ein Morgen voll Kampf und Not. Ist da kein Anblick auf der weiten grauen See, der das Herz erfreut?

Seht, da! Vor den niedrigen grauen Sturmsegeln ... wie sie stampft, und sich wieder hebt, beides mit ernstem Stolz; wie die zerschlagene Welle auffliegt bis zur Gallion! Seht, wie sie dort in der Ferne durch Wolken und Regen und Hagel, durch das weite wilde Grau dahin jagt: die Goodefroo.

Sie hatten am Abend vorher, die Segel voll vom Südwestwind, den Kanal verlassen, und der zweite Steuermann, Piet Boje von Hilligenlei, dachte so um fünf Uhr morgens, als sie die Höhe von Texel hatten, Kurs nach Osten zu nehmen. Aber da kam Jan Deeken an Deck, fing an, in die Luft zu schnuppern, ging nach unten und kam gleich darauf, wahrhaftig, mit der Wollmütze, wieder nach oben und blieb oben.

Sie sagten wieder alle: »Ditmal lüggt hee! Gott sei Dank! Hee lüggt.«

Er humpelte auf und ab, zwischen Reeling und Rudersmann hin und her, die Hände in den Taschen, und sah dann und wann auf und spuckte aus. Nach einer halben Stunde sagte er so im Gehen zu Piet Boje: »Stüermann. Wi wilt nördlich holn.« Und er winkte so verloren nach Norden zu.

Piet Boje schüttelte heimlich den Kopf und tat, wie ihm befohlen.

Um zehn Uhr, als Steuermann Boje schon wußte, daß die schmale und dürre Nase des Alten wieder einmal ihre Schuldigkeit getan hatte – denn es stürmte nun hart aus Südwest und hatte Neigung, nach Norden um zu gehen, so daß es gut war, so fern als möglich von den verdammten friesischen Sanden zu sein – da deutete der Alte mit dem Daumen nordwärts nach einem Segler: »Schon gesehen, Stüermann? Den Seiler da? Das ist der Goodemann.«

Der Goodemann war der Bruder von der Goodefroo und gehörte derselben Reederei.

»Sieh mal: Kaptän Winckel war früher Steuermann bei mir und denkt: ›Fahr du mit dem Alten!‹ Sie hatten kein Vertrauen, Stüermann!« Und er sah Piet Boje schief von unten an.

»Ich hab's mehr mit dem Sehn als mit dem Glauben,« sagte Piet Boje.

»Das ist im allgemeinen auch richtig,« sagte der Alte.

Eine Stunde später war der Sturm nach Nordwest gegangen, und die beiden stolzen Schiffe jagten nebeneinander her, keine Meile voneinander entfernt, mit Kurs auf Helgoland durch die wilde wühlende See. Die Segel waren zum Bersten voll, im Tauwerk pfiff und heulte es. Böen mit schwerem Hagel und Regen jagten hintereinander her und machten die Luft dick und unsichtig. Als es nach einer Stunde ein wenig aufhellte, hatte der Goodemann noch mehr Backbordruder gegeben. Die Leute waren alle an Deck.

Bald darauf erschien ein Lotsenschoner und beide Schiffe nahmen mit großer Mühe Lotsen an Bord, zuerst der Goodemann, dann die Goodefroo. Dabei kam der Goodemann Backbord voraus.

Gleich darauf zog eine neue Bö heran und raste mit wildem Ungestüm über das Meer.

Schwerer Hagel fuhr rasselnd und schlagend über Deck. Mittschiff liefen wirbelnde Seen über. Die Leute krochen mühsam nach achtern. Die Luft war von Hagel und stürmenden Wolken so dick und die Sonne war so verhüllt, daß sie nicht weiter als bis zum Logis sehen konnten, gegen das wirbelndes Wasser sprang. Das dauerte so eine Stunde.

Da hellte es ein wenig auf und der Sturm ließ ein wenig nach und sie sahen um sich.

Da lag der Goodemann da, Backbord voraus, mit schwerer Schlagseite, und, wie es schien: das ganze Vorgeschirr heruntergebrochen. Hinter dem havarierten Schiff zeigte sich im grauen Gewölk der Felsen von Helgoland.

Der Alte spuckte eilig aus und sah steif hinüber: »Luvt opp!« sagte er ... »Da süht dat schlecht uut.«

Die Goodefroo kam langsam näher heran.

Sie hatten alle wache Augen. Aber Piet Bojes Augen sprangen und stachen.

Der Alte gab ihm sein Glas: »Sehn Sie mal hin!«

»Da ist kein Kaptein,« sagte Piet Boje, »und kein Stüermann ... Kaptein, da 'st Not an Mann.«

»Das 's 'n Glück,« sagte der Alte trocken, »dat wi ünner Helgoland driew.«

Nun flaute der Wind ab.

»Sieh da!« sagte der Erste: »Die Haifische! ...« Einige Helgoländer Boote erschienen mit kurzen Segeln links vom Goodemann.

Jan Deeken starrte hinüber und schimpfte so vor sich hin. Die Goodefroo hielt luvwärts vom Goodemann entlang.

»Ist da Platz und Water, Lots'?«

Der Lotse sagte: » All right, Kaptein.«

Piet Boje warf einen raschen Blick nach dem nordischen Kahn auf der Großluk: »Kaptein?«

»Kann ick nicht verantworten!« sagte Jan Deeken und schüttelte den Kopf.

»Ist unmöglich!« sagte der Erste.

Auch der graubärtige Lotse schüttelte den Kopf.

Piet Bojes Augen flogen bald zum Goodemann, bald in Jan Deekens hageres Gesicht. Auf dem Deck des Goodemann liegt es voll von Rahen, Splittern und wirrem Tauwerk.

»Kaptein!?« schrie Piet Boje.

Jan Deeken schüttelt den Kopf: »Ist nix to maken.«

Piet Boje reißt sich Ölrock und Jacke vom Leibe.

»Kaptein, ick mutt!« Er schlug sich immer gegen die Brust.

»Warum?« sagte der Alte und spuckte aus.

»Wiel ick mutt!«

»Denn dohn S', watt Se ni laten könnt,« schrie der Alte giftig.

»Den Kahn klar! ... Wer geht mit?«

Jan Deeken sah gar nicht hin: »Großtopp back.«

Der Kahn fliegt über Bord. Piet Boje mit zwei Mann hinter her.

Jan Deeken sieht gar nicht hin: »Braßt vull, dat wi klar kamt.«

Die Leute stehn dicht gedrängt an der Reeling, ein Haufe naßblanker Ölröcke und Südwester, und starren nach dem hüpfenden, stürzenden Boot. »Junge, Junge! dat geiht ni gut ... Mensch, wat ist forn Kerl! ... Een Wüterich! Noch geiht gut ... Da sünd se! Da kommt 'n Helgoländer umt Heck! Dee kann ehr helpen.«

»Koppseist sünd sie! ... Verdammt!«

»Mensch, dee Helgoländer fiert dahl! ... Siehst du?«

»Hee hett ehr! ... Borgen ist watt!«

»Ich löw: een Mann! Dee annern beiden sind weg ... versapen.«

Jan Deeken hatte nicht hingesehen. Als er hörte, was sie untereinander redeten, sagte er mit seiner trockenen Stimme: »Ost ... süd ... ost« und sah nach Kurs und Segel.

Als Piet Boje nach einer Viertelstunde mit den zehn Helgoländern das Deck des Goodemann betrat, setzte eine neue Bö ein und hüllte das Schiff in wildes, fliegendes Wasser und Grau.

Der älteste Matrose sprang an Piet heran: »Der Kaptän ist schwer krank; die Steuerleute und vier Mann zu Schaden gekommen.«

»Ruder in Ordnung?«

»Ja.«

»Leck?«

»Nein.«

»Peil dee Pump'!«

»Ladung?«

»Holz: übergegangen.«

»Ich, der Steuermann von der Goodefroo, habe das Kommando.«

Der Matrose kam an Piet heran: »Zwei Fuß Wasser bei der Pumpe!«

»Lotse ... nach der Elbe!«

Da kam Hunke Heien oder Heien Hunke, oder wie er hieß, kniff die Lippen so schmal, daß nichts von ihnen zu sehen war: »Stüermann! Dat geit ni! Wie mütt em opt Land setten.«

Da lachte Piet Boje übers ganze Gesicht. »Backbordwache und vier Helgoländer an die Pumpen! ... Steuerbordwache rein Deck!« Und schickte die andern in die Ladung.

Da dachten sie: ›Hätten wir den verdammten Grünschnabel im Wasser gelassen!‹ Und gingen hin und taten stumm und tapfer ihre Pflicht.

Fünf Stunden lang standen sie auf dem hängenden Deck, auf das die Seen leckten, und arbeiteten mit Macht, mit ruhevollen Händen und wachen Augen. Der Steuermann von der Goodefroo stand in triefender Kleidung, starr vor Kälte, mit dem Glas in der Hand, beim Rudersmann, und sah nach vorn, ob die Hilfe käme.

In der Höhe von Scharhörn erschienen zwei Schlepper, welche der Reeder ihnen entgegenschickte.

Das war abends im Halbdunkel.

Einige Stunden später kam Anna Boje angelaufen, denn sie hatte bei Ballsen, wo sie wohnte, gehört, daß die Goodefroo angekommen wäre. In dem schweren Mantel von Anna Martens, ein buntes Tuch um den Kopf, das die Wirtin ihr gegeben hatte, ging sie am Telegraphenhaus vorbei, gegen Sturm und peitschenden Regen an, nach dem Kai zu und sah das havarierte Schiff. Da sah sie drei Männer in Ölröcken im Gespräch miteinander an einem Boote stehen und trat heran und fragte. Da wandte sich der Jüngere, als er die Stimme hörte, rasch um; und sie erkannten sich.

Er erschrak aber erst und sagte: »Du? ... Ist unsere Mutter krank?«

Da sah sie ihn mit lachenden Augen an: »Nein, alle wohl.«

Er ging einige Schritte mit ihr und sagte: »Was hast du, Anna? Du bist so eigen?«

Da erzählte sie ihm alles und er freute sich und fragte sie nach allem.

»Es ist schön,« sagte er, »daß du so gut und glatt in die Ehe kommst; es ist immer so ein unsicheres Ding mit euch Mädchen.«

»Wie meinst du das?«

»Nun,« sagte er, »die eine ist wild; die andere quält sich mit einer hoffnungslosen Liebe; die dritte bleibt ledig und wird wunderlich. Aber du: gut und glatt in den Hafen. Siehst du, das freut mich.«

»Was weißt du davon, Piet?« sagte sie bedrückt, »ob es so gut und glatt gewesen ist, du bist immer in der Fremde gewesen ... Und wenn du jeden Abend an meinem Bett gesessen hättest, Piet, du hättest es doch nicht gemerkt. Was weiß ein Bruder von seiner Schwester? Sieh: wer kommt da? Dein lieber Schwager!«

An diesem Abend, während draußen der Sturm weiter raste und Menschen in schwerer Arbeit sich gegen den bittern Tod wehrten, sprach Piet Boje noch mit seinem Reeder, der aus Sorge um seine beiden schönen Schiffe nach Cuxhaven gekommen war.

»Ich will es gar nicht so hoch anschlagen,« sagte der ruhige, ältliche Mann, »daß Sie einige Verbesserungen vorgeschlagen haben, welche sich zu bewähren scheinen. Ich will Ihnen auch Ihre heutige Tat nicht so hoch anrechnen, obgleich sie mir und Ihnen ein gutes Stück Geld gebracht hat. Ein gut beanlagter, aber leichtfertiger Mensch hätte dasselbe fertig gebracht. Es ist vielmehr dies: ich habe das sichere Gefühl, daß Sie eine Sache, die Sie anfassen, mit Klugheit und Kraft und ständig wacher Aufmerksamkeit, aus Freude an der Sache, durchführen. Solche Leute sind für den Chef eines großen Unternehmens von großem Wert, und sind selten. Darum will ich Sie, wenn Sie einverstanden sind, vorläufig nach Gadeshead schicken, den Dreimaster zu überwachen, der da auf dem Helgen liegt. Ich schicke einen Mann mit hellen Augen dahin ... Ich möchte, daß es das letzte Schiff wäre, das ich drüben bauen lasse.«

An diesem Abend, während draußen der Sturm heulte und mehr als ein junges Weib zur Witwe machte, kam Anna Boje, die das stille, edle Gesicht hatte und die scheuen, reinen Augen, dazu das heiße Herz, zur guten Ruhe. Nachdem sie in der Wirtsstube bei Ballsen friedlich miteinander gegessen hatten, brachte er sie in ihr Zimmer hinauf und wollte Abschied nehmen.

»Gute Nacht, Goodefroo!« sagte er und küßte sie.

»Gute Nacht, Goodemann!« sagte sie und ließ sich küssen.

Aber sie konnten dann doch nicht auseinander finden. Es flog wieder ein Feuer auf, an dessen schönem Schein sie nun aber in seliger Freude saßen, bis in die Nacht hinein. Und als sie so saßen, dachte Anna Boje: ›Kai Jans wäre kein Mann für mich gewesen. Was grübelt er viel und macht sich Sorgen? Ich ... ich bin nun im heiligen Land;‹ und sie lachte leise.

Am andern Abend kamen die vier im Dunkeln mit der Bahn in Hilligenlei an. Pe Ontjes und Anna gingen voran; Piet und Kai Jans hinterher.

Da, wo es von der Bahnhofstraße nach der Hafenstraße hinunterging, sagte Kai Jans nach langem Schweigen: »Du ... sag' mal ... als du da gestern mittag über Bord sprangst: woran dachtest du da? Das möchte ich wohl wissen.«

»Wie meinst du ...?« sagte Piet Boje in seiner raschen Weise. »Woran ich dachte? An das Geld! Ich habe mit dem Sprung wenigstens fünftausend Mark verdient. An das Geld und an mein Vorwärtskommen.«

»So!« sagte Kai Jans. »An anderes dachtest du nicht ... Ich meine: die Besatzung war doch in mächtiger Not.«

»Nein ...« sagte Piet Boje verwundert, »daran habe ich nicht gedacht. Ich habe sie ja noch mehr in Not geführt, da ich mit dem lecken Kasten von Helgoland ging! Ich dachte an den Wert von Schiff und Ladung ... das heißt: ich dachte an mich.«

»Und die beiden,« sagte Kai Jans, »die ertrunken sind? Sie treiben nun in der See, Welle auf, Welle ab, zwei junge Menschen!«

»Was geht mich das an?« sagte er verwundert und zornig. »Sie gingen doch freiwillig mit!«

»Ja, weil sie dir vertrauten!«

»Ach was! Vertrauten! Sie wollten Geld verdienen, Mensch!«

»So ...« sagte Kai Jans und wollte gehen.

In dem Augenblick kam ein Mann vorüber, den weder Kai Jans noch Piet im Dunkeln erkannten.

»Habt ihr schon gehört,« sagte der Mann, »wie der junge Mecklenburger gestorben ist? Der sechste Mann, der mit auf den Grund gegangen ist, hat es erzählt. Er hat gesagt: ›Kinder, wir wollen noch beten,‹ und hat Gott die Seele befohlen und um gelinden Tod gebetet. Ich habe hier in Hilligenlei soviel Tratsch gehört von Heiligland, Heiligland. Auf der Kanzel hört man es im Ernst, und auf der Kegelbahn im Spaß. Aber dies ... dies, scheint mir, war wirklich ein Sprung aus Schreck und Dunkel ins heilige Land ...« Damit ging der Mann vorüber.

»Das war gut!« rief Kai Jans laut, »oh! ... das war gut!« und man hörte an seiner Stimme, wie seine zugeschnürte Kehle sich plötzlich löste.

Ohne sich von Piet zu verabschieden, ging er die Hafenstraße hinunter.

Pe Ontjes und Anna waren weiter gegangen und fanden die Mutter an der Maschine.

»Da sind wir,« sagte Pe Ontjes. »Wir haben Frieden gemacht, Mutter Boje, und in vier Wochen soll Hochzeit sein.«

Anna gab der Mutter die Hand, hielt sie fest und sagte in ruhig freundlichem Ton: »Wir würden gern bei dir bleiben, Mutter ... aber da ist noch jemand für dich ... draußen. Einer, den du zwei Jahre lang nicht gesehen hast. Darum wollen wir gleich zu Onkel Lau gehen.«

Damit gingen sie nach der Küchentür zu.

»Da ist noch jemand für mich?« sagte Helle Boje, »und ihr habt ihn mitgebracht? ...« Und sie ging mit zitternden Knien die Diele entlang, und als da niemand war, öffnete sie die Haustür und sah in die Dunkelheit. Von Mittelgröße war sie, schon etwas gebückt von der Sorge um die Kinder und von der Arbeit an der Maschine. Die letzten Blätter der Kastanien lagen auf der regenfeuchten, windigen Straße.

»Piet?« sagte sie.

Da kam er schräg über die Straße auf sie zu, und legte den Arm auf sie und ging mit ihr hinein und streichelte sie.

Sie weinte vor Freude. »Mein Jung,« sagte sie, »daß ich dich wieder habe.«

»Ja, Mutter!« sagte er, »und nun denke dir! ...« Und er erzählte ihr von dem Glück, das er gehabt hatte. Von dem Sprung von der Reeling sagte er nichts.

Da freute sie sich! ... »O,« sagte sie, »nun bist du oft an Land!«

»Alle halbe Jahr komm ich jetzt nach Hilligenlei, mindestens,« sagte er. »Du sollst nun Freude von deinem Ältesten haben!«

»Habe ich ja immer gehabt, Piet,« sagte sie. »Immer, mein Junge!«

»Nun?« sagte er. »Hast du den ganzen Tag an der Maschine gesessen?«

»Nicht solange,« sagte sie.

»Doch,« sagte er ... »Du bist müde und matt, und siehst gar nicht gut aus ... Anna ist nun verheiratet; für Hett sorge ich. Heinke ist ein tüchtiges Mädchen und findet auch ihr Brot ... Weißt du was? Ihr habt wohl Platz auf dem Boden? ...« Und ehe sie wußte, was er wollte, faßte er im Zorn die ganze schwere Maschine, und hob sie auf, und trug sie aus der Stube, und die Treppe hinauf, und schrie dabei laut: »Du hast ausgedient! Ausgedient hast du!«

Helle Boje wollte sich über ihn freun und wollte lachen und weinte heiß auf.

Als er wieder herunter kam und eben mit seiner Mutter in die Küche trat, wurde die Haustür aufgerissen, und eine helle, silberne Stimme rief: »O, Mutter! Kai Jans ist da von Berlin ... schon seit vorgestern! Und ist mit Anna und Pe Ontjes nach Cuxhaven gefahren! Und Anna ist mit Pe Ontjes Lau verlobt. Und ich weiß von nichts. Und da ist sonst noch was los! ... Aber kein Mensch sagt es mir.«

Sie stand schon in der offenen, hell erleuchteten Stubentür, als er in dem Dunkel der schmalen Diele ihr entgegenkam. Er sah, wie groß sie war, und wie sie sich noch mehr aufrichtete, und mit der Scheu und Unsicherheit der sechzehn Jahre ihre grauen Augen auf den fremden Mann richtete.

»Heinke?« sagte er.

Da erkannte sie ihn und sprang mit einem Jubelschrei an seinen Hals, und drückte sich an ihn.

Er streichelte sie und zog sie in die Stube und machte die Tür zu. Nun sah sie ihn und wurde verlegen und fuhr mit der Hand leise über seinen Ärmel: »Wie anders siehst du aus! Und du hast einen Bart ... O, ... die Maschine ist weg!?«

Da erzählte er ihr von seinem Glück, und die Mutter sollte nun nicht mehr an der Maschine arbeiten.

»Nein! ... Und der große Pe Ontjes Lau ist nun mein Schwager. Denk mal: Schwager!« und sie lachte. »Es ist man gut, daß wir uns immer ›du‹ genannt haben, sonst wäre es peinlich, jetzt damit anzufangen. Nein ... wann wollen sie heiraten?«

»In vier Wochen.«

»In vier Wochen,« sagte sie und versank in Gedanken wie in einen tiefen Teich ... »Du,« sagte sie, »Kai Jans macht ja nun bald Examen. Er will ja nun doch Pastor werden; und ich finde das auch richtig.«

»Ihr seid gute Freunde?«

»Ja,« sagte sie ernst und weich, »er ist immer so merkwürdig freundlich mit mir gewesen. Ich habe eine ganze Menge Briefe und Postkarten von ihm. Es ist ganz wunderlich, wieviel Freude wir davon haben, wenn wir miteinander sprechen.«

»Ja, was sagst du aber davon, daß er immer ein Heiligtum sucht, oder was soll man sagen? ein heilig Land oder so was?«

»Ja,« sagte sie und zog die feinen Augenbrauen zusammen und sah mit starren, nachdenklichen Augen auf die Erde: »Was soll man dazu sagen? ... Weißt du, was ich bloß dazu sage? Ich weiß, daß er ein guter und kluger Mensch ist. Und mehr sage ich nicht.«

»Na, denn geh man hin und sag ihm guten Tag.«

Da ging sie.

Er saß eine Weile allein in der Stube; sah um sich und fand alles Alte an seinem alten Platz; sah dann auf die Erde, und wurde von allem, was er in den letzten Tagen erlebt hatte, müde. Und fing an, an das Schiff zu denken, dessen Bau er beaufsichtigen sollte. Und sah das unfertige Schiff und sah sich darauf hin und her klettern, und fragte die Leute aus, und stieg in den Raum hinab. Und wie er da so herumstand und sich die Arbeit ansah, ... da hörte er von oben her ein Klappern und Stoßen, und dachte: ›Was ist denn das? Was für eine neue Maschine arbeitet da an Deck?‹

Er richtete sich auf, und besann sich, wo er war, und öffnete die Stubentür, und schüttelte in Verwirrung den Kopf ... Aber dann war er in drei Sätzen die Treppe hinauf.

Da stand die Mutter da im Schein der kleinen, trüben Küchenlampe an der Maschine, ganz in Gedanken versunken, und ließ die Maschine spielen, und sah nun verwirrt auf.

»Du hast sie so rasch weggenommen ... ich konnte mich gar nicht besinnen ... Ich glaube ... ich kann nicht nachdenken, wenn ich nicht an der Maschine sitze ... ich habe immer beim Arbeiten an euren Vater und an euch gedacht.« Sie wischte an dem blanken Steg der Maschine und schluchzte heiß auf.

»Nun,« sagte er, »sei ruhig, Mutter. So ... sei still ... Denn sollst du noch zwei, drei Stunden täglich daran sitzen, mehr aber nicht ... Nun komm.«

Sie blieb aber sitzen und sagte: »Sieh, Piet ... ich habe mir immer so schrecklich schwere Sorgen gemacht um jeden von euch. Jeden Tag hab' ich mich gefürchtet, daß du so eine rasche Tat begingest wie dein Vater, und auch dabei umkämest. Und wegen Anna: sie hat schwere Zeit hinter sich, Piet ... und Heinke ist so still und verschlossen ... und, Piet ... ich habe den Mädchen das nie gestanden, aber du mußt es wissen, wenn ich vielleicht plötzlich sterbe: Ich habe Hett so lieb ... er ist das letzte Kind, das ich von ihm bekommen habe ... Und nun habe ich eine so grauenvolle Angst ... er ist nicht wahrhaftig, wie ihr seid.«

»Ich weiß,« sagte er mit finstern Augen, »Anna hat mir darüber geschrieben. Aber nun ich es weiß, ist es gut. Ich bleibe nun in Hamburg und will auf ihn passen. Der Bengel soll wohl geraten; dafür laß mich sorgen! ... Er ist doch aus gutem Stamm? ... Nun, sei guter Dinge! ... Sieh, wieviel habe ich jetzt erreicht! Und ich erreiche noch mehr! Ich will mich mächtig zusammennehmen. Immer weiter! Immer vorwärts!«

»Ja, Piet,« sagte sie bedenklich, »meinst du denn, daß du so zu einem Frieden kommst?«

»Ach, Frieden!« sagte er. »Was ist Frieden? Komm mir doch nicht mit dem Gerede von Kai Jans! ... Nun komm!«


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