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Zweiundzwanzigstes Kapitel

In dieser Zeit kam der große Pe Ontjes Lau eines Tages zu seiner Frau, die ihr wieder gesund gewordenes Kind aus dem Bett nahm, und sagte: »Du, ich glaube, ich muß mich an Dusenschöns Neubau beteiligen. Es wird eine schöne, glänzende Sache.«

Sie ließ von dem Kind und sah ihn erschrocken an: »Pe Ontjes,« sagte sie, »tu es nicht! Ich bin mit allem einverstanden, was du für dich allein unternimmst und wenn es mir als das Waghalsigste schiene; aber mit diesem Menschen mache keine Geschäfte.«

»Unsere Geschäfte greifen aber ineinander!« sagte Pe Ontjes, schon unwillig über ihren starren Widerstand. »Unsere Kunden sind dieselben Leute: erst kommen sie zu mir; dann zu ihm. Wächst sein Geschäft, dann wächst meins.«

Sie schüttelte halsstarrig und finster den Kopf: »Wenn du es tust, so ist es aus mit uns.«

»Mit uns?« sagte er, »was willst du damit sagen? Mit unserm Brot?«

»Ja,« sagte sie, »und ...«

»Nun ... und?« sagte er.

Sie schloß die Lippen und ihre Augen waren dunkel von ihren finsteren Gedanken: »Es ist auch vorbei mit meinem Vertrauen zu dir. Dusenschön ist ein schlechter Mensch.«

»Du bist die einzige in ganz Hilligenlei, die das sagt.«

»Das ist nicht wahr. Der alte Thoms Jans traut ihm nicht, und der Maler tor Straten und der Zimmermann Claussen. Und da sind noch einige verständige Leute mehr. Und wenn ich die einzige bin, so bin ich die einzige. Ich ... ich laufe nicht hinter dem großen Haufen her.«

»Ihr Bojes habt alle miteinander einen Herzfehler,« sagte er. »Ihr leidet an Herzerkältung.«

Sie schlug die Hände zusammen und sagte in großer Not: »Pe Ontjes! Ich kalt! Gegen fremde Menschen! Aber gegen dich und mein Kind? Ich kalt!« Und sie riß ihr Kind an sich und bedeckte seine Brust mit heißen Küssen und weinte.

Da ging er in seine Schreibstube.

Nach einer Weile kam sie herein und sagte mit verhaltener Stimme: »Du, Pe Ontjes, du bist ein Löwe; du darfst nicht mit dem Fuchs unterwegs gehen. Das ist eine alte Weisheit.«

Aber er war nun ganz widerwillig. »Was ist dabei zu wagen? Er und ich können jeden Tag wieder auseinandergehen.«

Da fuhr ihr Zorn wieder hoch: »Ich will nicht, daß du in Dusenschöns Schlepptau bist; und du kommst da hinein. Du bist schon drin.«

Er lachte spöttisch.

»Wenn ich einen so großen Mann habe, so will ich, daß er stark und selbständig ist, sonst schäm' ich mich. Ich schäme mich schon lange und ich will mich nicht schämen.« Sie stampfte mit dem Fuß auf und weinte: »Ich will mich nicht schämen. Ich kann nicht leben, wenn ich mich schämen muß.«

»Denn geh nur,« sagte er trocken, »und schäme dich.«

Da wurde sie im ganzen Gesicht bleich und sagte: »Oh! Ist das Hilligenlei!« und wandte sich ab. Auf der Schwelle wandte sie sich um und sagte mit unheimlicher, wilder Bändigung: »An dem Tag, wo du mit Dusenschön Kompanie machst, geh' ich mit meinem Kind zu meiner Mutter und setze mich an die Strickmaschine. Ich habe dich lieb, daß mir die Sinne vergehen; dafür will ich, daß du mich in Ehren hältst.«

Damit ging sie.

Nun kamen und gingen drei schlimme Wochen.

Sie sprachen kein Wort miteinander. Sie hauste in der Schlafstube und saß stundenlang auf ihrem Bettrand vor dem Kinderwagen und quälte sich mit ihrer Not. Er war tags in der Schreibstube und im Schuppen, und lag nachts im schmalen Bett in der Kammer, die unter dem Dach ist, und konnte wegen unruhigen Gewissens nicht einschlafen; und grübelte darüber, daß sie in ihrem Urteil über Dusenschön doch recht haben könnte, daß er aber jetzt nicht wieder zurück könnte, da er sich sonst vor ihr blamieren würde. Zuweilen stöhnte er in Angst auf, daß er in einen gefährlichen Irrweg hineinginge; zuweilen sehnte er sich heiß nach ihrer Nähe. ›Gott bewahre,‹ dachte er, ›wie prächtig sah sie aus, als sie mir die Freundschaft kündigte; und wie rührend, als sie aufweinte.‹ So quälte er sich und dachte: ›Was soll ich tun? Ich kann dies nicht und kann das nicht.‹ Und er wurde bitter und argwöhnisch gegen alle Menschen, und seine große, ruhige Seele lag mißmutig und krank wie in einer dunklen Höhle.

In der zweiten Woche reiste Tjark Dusenschön nach Berlin und nahm den Bürgermeister und den dicken Ratmann Suhlsen mit, um ihnen die Dachpappenfabrik zu zeigen. Nach einigen Tagen kamen der Bürgermeister und Suhlsen mit weinroten Gesichtern zurück und erzählten im Klub von den bedeutenden Gebäuden und dem stattlichen Betrieb, den sie gesehen hatten. Tjark Dusenschön war noch einige Tage in Berlin geblieben, wo eine Ausstellung von Lebensmitteln stattfand; und speiste dort eine Kompagnie Soldaten mit seinem Fabrikat: Schinken und Erbswurst.

Am Freitag meldete Heine Wulk in der Zeitung: »Unser verehrlicher Mitbürger Herr Dusenschön bekam nach einer Depesche, die wir soeben erhielten, für seine ausgezeichneten Fabrikate eine hohe Anerkennung in Gestalt eines Lorbeerkranzes. Nach diesem Erfolg wird Herr Dusenschön die geplante mächtige Erweiterung seines hiesigen Betriebes sicher vornehmen; die Stadt aber wird nicht zögern, ihm entgegen zu kommen. Wir dürfen übrigens wohl verraten, daß Herr Dusenschön am Sonnabend mit dem Abendzug wieder in Hilligenlei eintrifft.«

Am Sonnabend kam Tjark Dusenschön richtig an. Der Bürgermeister, Ratmann Suhlsen und einige Mitglieder des Klubs waren am Bahnhof. Heine Wulk und Jan Friech Buhmann standen mit seligen Gefühlen im Dunkeln und sahen auf Tjark Dusenschön, der richtig den Lorbeerkranz im Arme hatte. Draußen, als er die Stufen hinunterging, empfing ihn ein Teil der Handwerker-Liedertafel, welche der Wirt Birnbaum zusammengeholt hatte, mit dem Lied: »Kennst du das Land?« Dies Lied und »Heil dir im Siegerkranz«, waren die einzigen, in denen von Lorbeerkränzen die Rede war; da hatten sie sich für das erste entschieden. Einige hundert Leute, die da im Dunkeln unter den Bäumen standen, riefen ein schwaches Hurra. Die Hilligenleier waren in öffentlichen Huldigungen noch etwas unerfahren. Tjark Dusenschön ging mit ernster, sorgenvoller Miene durch die Menge, und die Leute sagten: »Ja, der hat was durchzudenken ... jetzt ... das ist keine Kleinigkeit!«

Die verbitterte Stimmung, in welcher der große Pe Ontjes stak, richtete sich auch gegen Tjark Dusenschön. Er fand den Lorbeerkranz unter allen Umständen, aber besonders für einen Wurstfabrikanten, sehr lächerlich.

Am Sonntag morgen stand er in dieser Stimmung vor seiner Tür, da kam zufällig der alte Suhlsen des Wegs, blieb breit stehen, und redete in großen, dicken Worten von Dusenschöns Reise. Da fragte Pe Ontjes, nur um der Rede ein Ende zu machen: »Was bedeutet es, daß Heine Wulk schreibt: ›Die Stadt müsse Dusenschön entgegenkommen?‹«

Da trat der alte, bierdumme Wichtigtuer näher an ihn heran und sagte, die Sache wäre diese: Herr Dusenschön besitze zwar genügend eigenes Vermögen, um den Neubau und auch die Maschinen zu bezahlen; er könne dies Vermögen aber erst nach Jahr und Tag flüssig machen. Nun wolle der Magistrat den Vorschlag machen, daß die städtische Sparkasse zweihunderttausend Mark vorschösse, wofür Aktien der Dachpappenfabrik in gleicher Höhe bürgen sollten. »Wir, der Bürgermeister und ich, haben uns ja die Fabrik genau angesehen und kennen den Betrieb. Es ist ein gewaltiges zweistöckiges Gebäude mit einem mächtigen Schornstein und mit drei Arbeiter-Wohnhäusern, alles in bestem Stand und vollem Betrieb. Das Papier ist freilich bei der Börse nicht notiert; der Wert ist uns aber durch den vortrefflichen Stand der Fabrik und außerdem von einem angesehenen Berliner Geschäftsmann garantiert; im übrigen meine ich: die Persönlichkeit des Herrn Dusenschön, seine Tatkraft und sein Genie deckt jede Summe.«

Diesen letzten Satz hatte der Bürgermeister erfunden; er wurde seit drei Monaten im Domklub gehandhabt und jedem Fremden unter die Nase gehalten.

Aber Pe Ontjes, in seiner dunkeln Höhle, konnte den Glanz des Satzes nicht sehen. »Es ist gegen die Statuten der Sparkasse,« sagte er.

»Dem Buchstaben nach!« sagte Suhlsen. »Aber gesetzt den Fall, Herr Lau, wir weigerten uns. Was dann? Sie wissen, daß hinter Herrn Dusenschön die Regierung steht; und es ist bekannt, daß eine Nachbarstadt ihm ein sehr günstiges Anerbieten gemacht hat.«

Der Alte ging, und Pe Ontjes trat in sein Kontor, setzte sich auf die Kante des Schreibtisches und versank in Sinnen. »Gestern der Lorbeerkranz, und nun zweihunderttausend Mark ...« Es war ihm so wunderlich zumute, so als hörte er, im fremden Land, ganz plötzlich den Klang einer alt vertrauten Stimme.

Und als er auf den Klang lauschte ... er wußte nicht, wie es geschah ... da ging er mit Tjark Dusenschön in die Schule ... die Pantoffeln klapperten, und der Schwamm an der Schiefertafel pendelte im Gehen, und die Schultür öffnete sich und sie saßen da in Reih und Glied, und Tjark Dusenschön war der letzte auf der ersten Bank und Mars Wiebers sagte ... was sagte er doch? ... »Die Augen von Tjark Dusenschön sind gut und seine Worte auch; aber sein Tun ist jedesmal eine Überraschung, und zwar eine unangenehme.« Und dann saßen sie in der halbdunkeln Schmiede und Jan Friech brachte mit vollem Mund seine Weisheit an den Tag; und Scheinhold stand am Blasebalg und wartete auf eine gute Gelegenheit, ein kurzes Wort zu sagen, und Kai Jans saß mit großen Augen, die Hände zwischen den Knien; und Tjark Dusenschön ... Tjark Dusenschöns Augen und Worte waren nichts als Lorbeerkränze ... nichts als Lorbeerkränze ... und dann, ja dann: »Ihr könntet mir einige Groschen geben; Großmutter und ich haben heute abend nichts zu essen,« und dann irgendeine Überraschung, eine unangenehme: Tjark Dusenschön erschien in einem neuen blauen Schlips oder einer alten roten Primanermütze oder so was. Ja ... so war es gewesen. Immer so ...

Als Pe Ontjes noch so saß, unter dem schweren Nachdenken ordentlich zusammengesunken, mit allen Sinnen in der Kinderzeit, da ging die Tür, und Tjark Dusenschön stand da.

Da sah Pe Ontjes auf, ganz in jenen Gedanken, ganz mit den Augen, die er als Junge machte: »Du Lump, was hast du mit dem Geld gemacht? ...«

Tjark Dusenschön sah den Blick, und wußte, wie es um ihn stand, und seine Augen wurden unsicher. »Nun ... wie ist es?«

»Mit dem Kompaniegeschäft ist es nichts!« sagte Pe Ontjes, und seine flache Hand fiel schwer auf den Tisch.

Da sagte Dusenschön einige gleichgültige Worte und ging hinaus.

Der große Steuermann Lau von der Goodefroo setzte sich schwerfällig auf seinen Stuhl und fing wieder an, zu grübeln. Verschwunden und versunken war die Kinderzeit. Er saß und horchte. Es war ihm, als wenn nun ein anderes kommen müßte, nämlich der helle Klang einer weichen Frauenstimme.

Aber der kam nicht.

Die Wohnstubentür wurde geöffnet und sie ging mit ihrem weichen, festen Gang über die Diele und summte. Er nickte mit dem Kopf: »Aha ... sie hat gemerkt, daß Tjark Dusenschön abgeblitzt ist und singt schon das Siegeslied, und bildet sich ein, daß sie viel klüger ist als ihr Mann, und viel tatkräftiger, und Gott weiß was alles. Und man muß größer sein als Anna Boje, sonst kann man nicht neben ihr existieren!« Und da er das dachte und sie in all ihrer wunderbaren Herrlichkeit vor seiner Seele sah, wallte die heiße Liebe so wild in ihm auf, daß er stöhnte.

Er sprang auf und fing an, schwer nachzudenken, ob er denn wirklich kein ganzer Mann wäre, ein Mann, der ganz und gar auf sich selbst steht, ganz und gar: ein Mann eigenen Blickes, eigenen Urteils, eigenen Tuns. Und er fing an, sich in langem Sinnen und in schwerem Grübeln von Hilligenlei zu trennen und von allem, was drum und dran war, vom Bürgermeister und dem Domklub und dem ganzen Bürgerstand, und stand ganz allein auf dem Deich und sah die alte Stadt, und als ihren König Tjark Dusenschön, und als ihre Häupter jene verschlafenen oder eitlen Menschen, und er fühlte zum erstenmal etwas wie Liebe für sie und fürchtete für sie. »Hilligenlei,« sagte er langsam und leise ... »Wenn Tjark Dusenschön nun ein Betrüger ist und blamiert Hilligenlei vor dem ganzen Land ... ich will sehen, wie es mit Tjark Dusenschön ist ... Ich will es heute noch wissen ... Und dann ... wenn ich das weiß ... dann ... dann soll das Weib auf ihren lieben Knien, und mit Lachen und Küssen, Abbitte tun.«

Als er noch dabei war, sich in der neuen Klarheit, die in ihm und um ihn entstand, zurechtzufinden, kam der alte Thoms Jans vorüber, in seinem grauen Arbeitszeug, lehmbespritzt, den Spaten auf der Schulter, und in der Hand die blecherne Kaffeekanne, und sah mit seinen tiefversteckten Augen durch das Fenster. Pe Ontjes öffnete und der Alte erzählte, er hätte einen Brief von Kai bekommen, der ihm nicht gefallen hätte. »Da habe ich mir die Sache durch den Kopf gehen lassen ... ich schrape wohl soviel Geld zusammen ... ich wollte die Reise nach Berlin riskieren! Er hat mich schon immer eingeladen. Nun sag' mir mal: weißt du Mittel und Wege, wie ich dahinkomme?«

»Das will ich dir kurz sagen,« sagte Pe Ontjes. »Die Uhr ist sechs. Punkt acht stehst du in deinem Sonntagsanzug, in der blauen Mütze und mit der kurzen Pfeife auf dem Bahnhof. Ich bring' dich ganz hin ... Wenn die Leute fragen, sollst du sagen, daß ich nur bis Hamburg mit dir fahre.«

»Bist nicht recht klug?« sagte der Alte ganz beleidigt. »Meinst du, daß ich mich in zwei Stunden zu so was entschließen und mich auch noch fertig machen kann? Vor morgen mittag ist nicht daran zu denken.«

»Du stehst punkt acht auf dem Bahnhof! Nun mach, daß du wegkommst.«

Der Alte stakte davon und schüttelte im Gehen immerfort den Kopf. Ein wenig weiter verfiel er in einen kleinen Trab.

Pe Ontjes ging nach seinem Schuppen und ordnete noch einiges im Kontor; dann, als es Zeit wurde, ging er in die obere Kammer, zog sein Seemannszeug an, und kam in die Wohnstube.

Da saßen Anna und Heinke da, und das Kind stand zu ihren Füßen. Anna sah rasch und neugierig zu ihm auf, mit erwartenden Augen. Aber er tat, als merkte er es nicht. »Ich reise heute abend nach Berlin,« sagte er.

»Oh!« sagte Heinke und fuhr auf. »Nach Berlin? Dann gehe doch zu Kai! Er hat mir einen so trübseligen Brief geschrieben. Die Not, die er dort sieht, frißt ihm wohl noch das Herz ab.«

»Was willst du in Berlin?« fragte Anna. »Wegen Tjark Dusenschön?«

»Ihr sollt sagen, daß ich nach Hamburg gefahren bin ... Nun haltet gut Haus.« Und er ging hinaus.

Da sprang Anna auf und kam ihm nach, als er eben die Haustür hinter sich zumachen wollte, und trat dicht an ihn heran und ihre Augen brannten. »Hast du kein Wort für mich?«

»Nein,« sagte er und schaute sie groß und kalt an, »kein einziges.«

Da trat sie zurück und ging stumm in die Stube.

*

Am andern Mittag stiegen die beiden wohlbehalten in Berlin aus dem Zug. Der Alte, von den Jahren zusammengeschrumpft, saß tief in der blauen Sonntagsmütze; gleich unter dem Tuchschirm funkelten die Augen. Er bedankte sich erst bei dem Schaffner, daß er gut herübergekommen war, und lief dann im kurzen, steifen Trab, gewaltig rauchend, hinter Pe Ontjes her.

Als sie sich im Gasthof ein wenig besonnen hatten, gingen sie gemeinsam in die Friedrichstraße. Von da wollte Pe Ontjes den Alten zu Kai nach der Brunnenstraße schicken; aber der sah bedenklich auf all die Menschen und die Fuhrwerke und die himmelhohen Häuser und sagte: »Ich riskier' es nicht; ich will bei dir bleiben.«

Da gingen sie zusammen die Friedrichstraße hinunter, der große Pe Ontjes voran, hinterher der kleine Alte, immer in halbem Trab, stillstehend und wieder voreilend. »Du,« sagte er, »es ist hier etwas lebendiger als weiland auf dem Feuerschiff in der Bucht von Hilligenlei. Aber meine Frau hat offenbar einen ganz verkehrten Begriff von Berlin gehabt; sie meinte, es wäre alles Samt und Seide; aber ich sehe hier Hosen und Stiefel, ich sage dir: so heruntergekommen geht in Hilligenlei kein Mensch.«

Auf dem Potsdamer Bahnhof fanden sie richtig den Zug, der sie aus den Menschenwogen und aus den hohen Mauern heraus auf freies, mageres Feld brachte und nach einer kleinen Stunde in der Nähe eines kleinen Sanddorfes absetzte. Sie gingen auf den Vorsteher los und fragten nach der Dachpappenfabrik.

»Dachpappenfabrik?« sagte der. »Ich weiß nicht. Ich bin noch nicht lange hier.« Und er rief einen Wärter.

»Ah! ...« sagte der ... »Jawohl! ... Da ... hinter dem Wald,« und er sagte noch etwas; aber sie verstanden ihn nicht, weil er ein Ostpreuße war.

Sie stiefelten los, immer tief in dem weißlichen Sand. Pe Ontjes voran reckte den Hals und suchte den Schlot und die lange, zweistöckige Fensterreihe. Sein Gang war stark. Der Alte ging rauchend hinterher, ganz gemütlich, die Augen überall.

Sie erreichten die Höhe, aber sie fanden nichts als einen jungen, dürren Kiefern- und Tannenwald.

»Ich muß mich erst mal hinsetzen,« sagte der Alte und setzte sich gemächlich auf eine Art von Wall, der am Weg entlang lief, holte Streichhölzer hervor und fing an, seine Pfeife wieder anzuzünden.

Pe Ontjes stieg auf den Wall, reckte den Hals und witterte wie ein Jagdhund.

»Kannst was sehen?« sagte der Alte gemütlich.

»Steck den Wall man nicht an!« sagte Pe Ontjes ärgerlich.

Der Alte saß und rauchte, wie wenn ein kleiner Landbäcker bäckt. Und fragte nach einiger Zeit wieder: »Kannst was sehen?«

Indem machte Pe Ontjes, der noch oben auf dem Wall stand, eine seiner mächtigen Bewegungen, daß der Wall auseinander ging und er hinunter rutschte. Er sah verwundert auf seine Füße und sah, daß der vermeintliche Wall so was wie eine vermorschte Mauer war; es lag da Lehm und Steingebrock durcheinander. »Na nu?« sagte er.

»Sieh mal!« sagte der Alte und deutete mit seiner Pfeife nach dem Verlauf des Walles. »Sieh mal! Der geht ja merkwürdig viereckig durch die Kiefern ... Na, ich weiß Bescheid ...«

»Ach!« sagte Pe Ontjes verächtlich.

Der Alte schwieg wieder und rauchte: »Weißt du,« sagte er dann, »weißt du ... Wenn da ein Arbeiter in Hilligenlei ist, der da vierzig Jahre gewohnt hat, und will für die Ausbildung seines Kindes, oder für einen anderen guten Zweck, hundert Mark leihen, dann kann er von Pontius zu Pilatus laufen, und bekommt es nicht. Aber es kommt der erste beste Lump und Windbeutel und sagt, er hätte irgendwo hinter Berlin im Sand eine halbe Million liegen, dem schenkt ihr ganz Hilligenlei und seine Ehre dazu.«

Pe Ontjes stand und pfiff, und hielt in Gedanken Ansprachen an verschiedene Leute, an Tjark Dusenschön, an den Bürgermeister, an Anna Boje und auch an Pe Ontjes Lau.

»Wollen wir hier noch lange sitzen?« sagte der Alte.

Pe Ontjes sah einen Mann durch den Wald kommen und hob seine Stimme: »Sagen Sie, war hier früher eine Dachpappenfabrik? Was?«

»Nein!« sagte der Mann ... »Aber es sollte vielleicht eine werden.«

»Sagen Sie mal,« sagte Pe Ontjes, »kennen Sie Tjark Dusenschön? Er ist an Leib und Beinen wie ein Gardist, aber der Kopf ist wie eine rundgeschälte Steckrübe und schmeckt auch danach.«

»Nein,« sagte der Mann verwundert; »so was habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.«

Da gingen sie nach dem Bahnhof zurück, und saßen da drei Stunden in Sonne und Wind auf einem Wall, der aber ein wirklicher Wall war. Der Alte rauchte und brachte allerlei anzügliche Vergleiche hervor: vom Riesen Goliath, der etwas schwer von Verstand gewesen, und vom alten Bürgermeister Eli und vom langen Absalom, der an den Haaren hängen blieb. Pe Ontjes hörte zu. Zuweilen lachte er sogar auf. Er dachte an den glorreichen Frieden, den er mit Anna Boje machen wollte.

Es war schon spät am Nachmittag, als sie wieder mitten in der großen Stadt waren und Pe Ontjes vor einem mächtigen Gebäude stehen blieb. »Hier wart' ein bißchen,« sagte er zu dem Alten. »Dies ist das Ministerium für Bauten. Ich will einmal fragen, was sich mit der Hafenrinne und mit ganz Hilligenlei machen läßt.«

Er wurde in ein Zimmer geführt, wo er zu seiner großen Verwunderung einen freundlichen grauköpfigen Landsmann fand, der ihn tüchtig ausfragte und zuletzt mit bedächtigem Kopfnicken entließ. Als er wieder herauskam, stand der Alte unbeweglich auf derselben Stelle, dicht an der Mauer, die kaltgewordene Pfeife ganz fest in der Hand, als wäre sie seine einzige Bekannte unter all diesen fremden Erscheinungen. So sah er mit tiefen Augen auf den Strom der Menschen.

Als sie aus der Friedrichstraße abbogen und in die öden, graden Straßen des Nordostens kamen, wurden sie bedrückt.

»Nun sieh doch!« sagte der Alte. »Wenn du auf dem Deich von Hilligenlei stehst, was siehst du da? Du siehst Land und Sand, und das Meer bis Engelland, und darüber den Himmel so weit, daß dir bange wird. Aber dreh dich hier um: was siehst du? Es muß einer einen schweren Stumpfsinn im Kopfe haben, oder eine eiserne Peitsche im Nacken, um in diesen tiefen Steinbrüchen zu hausen.«

Als sie in die Straße einbogen, in der Kai Jans wohnte, standen da auf dem Bürgersteig und an den Hauseingängen kleinere und größere Haufen von Männern, die lebhaft miteinander sprachen. Jüngere, halbwüchsige Leute zogen in lauter Unterhaltung in Reihen nach den Wirtschaften am Ende der Straße; Frauen lehnten hier und da aus den Fenstern; blasse Kinder an den Haustürstufen sahen mit ernsten, altklugen Augen zu der Unterhaltung der Großen auf. Die Helme einiger Schutzleute blinkten in der Ferne.

Der Alte hielt einen jüngeren Arbeiter an, der, die Augen an der Erde, seines Weges ging, und fragte, was das bedeutete, daß alle diese Leute nicht bei der Arbeit wären. Der verstand die plattdeutsche Rede nicht und sah Pe Ontjes an. Der wiederholte die Frage. Da erzählte der Arbeiter in fremdartigem Deutsch, daß alle diese Leute und er selbst zu der Arbeiterschaft einer großen Kesselschmiede gehörten und jetzt streikten.

»Warum streikt ihr denn?«

»Kurz zu sagen: der Mann will uns verbieten, daß wir einen eigenen Glauben haben; er will nicht, daß wir alle offen gestehn, daß wir zur Arbeiterpartei gehören.«

»So!« sagte der Alte und zwinkerte mit den Augen. »Der meint denn, daß er mit seinem kleinen Wort die große Zeit aufhalten will, die durchaus und immer vorwärts will.« Und er hob den Zeigefinger und zwinkerte wieder mit den Augen und sagte launig: »Es wechselt der Gottheit lebendiges Kleid.«

Der Arbeiter lächelte: »Das ist von Goethe.«

»Na,« sagte Pe Ontjes, »nun müssen wir aber weiter.«

Sie fanden die richtige Hausnummer und erstiegen drei schmale, dunkle, unreine Treppen.

»Müssen wir noch höher hinauf?« sagte der Alte. »Hörst du? Was ist das für ein Gemurmel und Gelärm?«

»Da ist irgend etwas nicht in Ordnung,« sagte Pe Ontjes und stieg langsam weiter.

Oben standen links und rechts die Wohnungstüren offen. Aus der Wohnung zur Linken kam Jammern und Reden von Frauenstimmen. Vor der anderen Tür stand ein Arbeiter in mittleren Jahren; er hielt seine Frau am Arm zurück und sagte: »Was willst du dir das Elend ansehen? Du kannst drei Nächte lang nicht schlafen.«

»Was ist hier?« fragte Pe Ontjes.

»Ach ...« sagte der Mann, »hier wohnt eine alte Großmutter, deren Sohn war ein schlechter Mensch und ist im Zuchthaus gestorben. Sie erzog seine beiden Kinder, ihre Enkel, die jetzt so fünfzehn bis siebzehn Jahr alt sind. Nun sah die Alte, die eine sehr rechtliche und ordentliche Frau ist, daß die beiden Jungen durchaus den Weg des Vaters gehen wollten. Sie arbeiteten als Lehrlinge in unserer Schmiede. Da haben sie nun in diesen Tagen nichts zu tun gehabt und haben getrunken und haben mit einem kleinen Mädchen Unfug gemacht und haben damit vor der Alten geprahlt. Das hat die alte Seele nicht ertragen können. Sie ist eine rechtliche, ordentliche Frau und vom Lande, wo man so was nicht kennt. Sie ist erst vor acht oder zehn Jahren vom Lande hierhergekommen. Genug: als die beiden Jungen heute nachmittag von ihrem Rausch aufwachen und Kaffee verlangen, hat sie ihnen eine tüchtige Portion Rattengift hineingetan. Nun liegen sie beide tot. Die Polizei wird wohl bald kommen.«

Er ging in die gegenüberliegende Tür und sagte zu den Frauen, die sich im schmalen, dunklen Gange drängten: »Macht Platz!« und sie sahen in die Stube.

Da lagen da in der ärmlichen, halbdunkeln Stube auf dem Fußboden, neben dem Tisch, die beiden Knaben, in verlotterter Kleidung, vom letzten Schmerz gekrümmt, mit blaßblauen Gesichtern und Schaum vor dem Mund; und am Fenster saß die alte, hagere, von ländlicher Feldarbeit gebeugte Großmutter in sauberer Kleidung, und strich mit den mageren Händen die Schürze glatt und sagte mit wunderlich ruhiger, eintöniger Stimme, so wie ein Gerichtsschreiber ein gleichlautendes Protokoll zum zehntenmal vorliest: »Ihr Vater ist vierzig Jahr alt geworden und hat fünfzehn davon hinter eisernen Stangen gesessen. Er hat mit schlechten Taten siebzig Menschen unglücklich gemacht und mit schlechten Worten siebentausend. Das wollten diese beiden auch ... Kommt die Polizei nicht? Ich bin eine alte, gottesfürchtige Frau, und muß wissen, was ich tu'.«

Sie hob den Kopf wieder und sah die zehn oder zwölf Menschen, die sich am Eingang drängten, und sagte wie zu sich selbst: »Ich fürchte mich vor keinem Menschen ... bloß vor Kai Jans.«

Pe Ontjes Lau wandte sich um und fragte den Mann, der neben ihm stand: »Was hat Jans damit zu schaffen?«

Der Mann ging mit den beiden nach seiner Wohnungstür zu und sagte: »Ein gewisser Kai Jans hat früher schon zwei Jahre lang bei uns gewohnt und wohnt nun wieder seit über einem Jahr bei uns. Er ist zwischen diesen Zeiten einige Jahre in seiner Heimat Pastor gewesen, hat aber keine Ruhe finden können. Er ist so ein Mensch, wissen Sie ... es ist immer Weihnachtsabend in ihm, und die Menschen und die Dinge verderben ihm immer den Weihnachtsabend. Er meint, es müsse viel mehr Glück in der Welt geben, und die Welt wäre nicht in Ordnung. Und nun ist er hier, ob er den rechten Sinn der Welt finden kann. Aber er kann ihn nicht finden. Als er das erstemal hier war, als Student, da saß er abends bei uns, half meinen Kinder bei den Schularbeiten, stritt sich mit uns über Politik und Religion, und war frisch und gemütlich. Er war noch ein rechter Junge damals, und hatte Augen, als wenn er alles zum erstenmal sähe. Aber seit er zum zweitenmal wieder hier ist, redet er wenig, er sitzt da und fragt uns aus und grübelt. Er fragt unsre Kinder aus, was sie denken und meinen; er fragt uns Erwachsene nach unserem Glauben und unserer Politik; er fragt die Alten, die meistens vom Dorfe sind, wie die Gutsbesitzer gegen sie gewesen sind und was sie damals geglaubt haben und was sie von der Kirche halten und wie ihnen jetzt zumute ist und so was. Ich habe noch niemals einen Menschen gesehen, der mit so wenig Worten die Menschen zum Reden bringen kann. Er ist meistens traurig und grüblerisch. Bloß wenn er mit den Kindern spricht, wird er zuweilen munter; aber es schlägt immer wieder und ganz plötzlich in Ernst um. Neulich abends hatte er fünf oder sechs Kinder in seiner Stube und die Tür stand offen. Da erzählte er ihnen lang und breit: wie ein Dorfjunge morgens in der Dämmerung aufsteht und mit seinem Vater eine Kuh wegbringt, und sie kommen über die Heide, und die Sonne geht auf über dem Wald; und sie kommen durch Dörfer und durch eine kleine Stadt und sehen dies und das, und dann kommen sie beide auf einem andern Weg zurück. Dann geht der Junge einige Stunden in die Schule, wo sie alle durcheinander sitzen, Knaben und Mädchen, groß und klein; und geht dann am Nachmittag mit seinen Kameraden an den Strand, und sie sehen weit übers Meer die fernen Segel, und knien und suchen Krebse und Quallen; und abends sitzen sie vor den Haustüren; und ehe sie zu Bett gehen, zieht noch ein Gewitter mit schwerem Wagenrollen übers Dorf. Das alles erzählte er den Kindern und wir hörten von der Küche aus zu; und zuletzt fragte er: ›Was sagt ihr nun dazu? War das nicht ein schöner Tag?‹ Da lachten die Kinder und sagten: ›Mensch ... meinst du, daß wir das glauben, was du uns erzählt hast? Das ist ja ein Märchen!‹ Da kam er aus der Stube zu uns in die Küche, ganz traurig und verzweifelt und sagte: ›Seht, was ein Dorfkind alle Tage erlebt, das nennen eure Kinder ein Märchen; in solchem Jammer sitzen sie!‹ Seine Stimme ging uns durch und durch; ich sehe ihn noch, wie er das sagte ... Sagen Sie, Sie sind bekannt mit ihm? ... O!« sagte der Mann plötzlich, »ich sehe es Ihnen an! ... Sieh doch, Mutter, dies ist der Vater von Kai Jans! ... Na: Nun kommen Sie aber hierher in seine Stube! ...« Unterwegs sagte er: »Sehen Sie, nun kennt er die beiden Jungen, die Toten drüben, seit sechs Jahren, und hat immer zu der Alten gesagt: ›Großmutter, verlier den Mut nicht, es wird doch noch was aus den Jungen.‹ Aber sie hat den Mut doch verloren, und ich glaube ... mit Recht. Es wird ein großer Jammer werden, wenn er kommt ... Aber nun kommen Sie; hier ist seine Stube.«

Er führte die beiden an seiner weinenden Frau und an den Kindern, die verschüchtert an der Küchentür standen, vorüber in die Stube. Sie standen eine Weile still und bedrückt, und sahen sich in dem sauberen, kleinen Gemach um, das nach dem tiefen, trübseligen Hof hinausging, und wollten sich gerade, müde, ein wenig setzen: da kamen mehrere Menschen die Treppe heraufgelaufen. Heftige schreckhafte Worte erklangen.

Da sprang Pe Ontjes an die Tür: »Kai Jans!« rief er. »Hierher!«

Aber der hörte nicht.

Als sie hinüberkamen, stand er da schon in der Tür und schrie: »Großmutter! Was hast du getan! Alte, gute Großmutter! ... Nun bist du eine Mörderin!«

Die alte Frau saß noch immer in derselben ruhigen Haltung auf dem Stuhl am Fenster und strich die Schürze; sie sagte auch jetzt ganz ruhig: »Nun ist es fertig, Kai Jans! Dies ist viel sicherer als dein ewiges: Großmutter, paß auf, es wird noch alles gut ... Sie wären nun ins Loch gekommen, und dann wieder heraus, und so immer weiter; und ich hätte es nicht mehr hindern können. Dies war der letzte Tag.«

Er lag vor den Kindern auf den Knien und streichelte sie: »Die Menschen haben die Schuld; sie wollten eurem Großvater und Vater kein Land geben; sonst wäret ihr ernste Bauern geworden. Sie gönnen euch nicht einmal eine Stelle zum Stehen; von Mutter Erde heben sie euch weg, drei, vier Stockwerk hoch, da dulden sie euch. Der Mensch aber, der nicht in der Erde wächst, der Mensch ohne Land, ist verwirrt und verweht.« Er weinte laut auf. »Wir haben nichts ... nichts ... keine Einigkeit, kein Vertrauen, keine Heimat, keinen Glauben, keine Liebe, keine Hoffnung. Wir werden geschüttelt wie Korn im Siebe ... Was ist es mit der Welt? Ich weiß nicht ein noch aus ...«

Da faßte ihn eine starke Hand an der Schulter: »Du,« sagte Pe Ontjes laut, »du sollst mit uns.«

Kai Jans stolperte auf, als wenn ihn ein Engel Gottes riefe, und langte mit der rechten Hand aus, die von der Nacht bei Kap Horn noch gekrümmt war. »Pe Ontjes!« schrie er. »Lieber Pe Ontjes, ... Oh, da bist du, Vater! Seht ... so ... so geht es mir.«

Da zogen sie ihn fort auf den Gang hinaus.

Da trat im Gang ein Mann an ihn heran, klein, schmal und dunkel, den Kopf ein wenig schwächlich zur Seite geneigt, und nahm ihn ein wenig beiseite.

»Gestatten Sie,« sagte der Mann sehr freundlich, »ich bin ein Verwandter Ihres Freundes ...«

»Ja, ich kenne Sie,« sagte Kai Jans, und riß sich auf und nahm sich zusammen. »Wir haben uns einmal bei meinem Freunde getroffen. Wir haben über Religion gesprochen. Ganz richtig! Sie sind katholisch.«

»So ist es!« sagte der Mann. »Ich soll Ihnen vorreden, daß Sie auf einige Jahre mit ihm unterwegs gehen. Er geht nun wirklich im Herbst nach Südafrika ...« Und er sagte in kurzen Worten Zweck und Dauer der Reise.

Dann wurde er ein wenig verlegen. »Ich sehe,« sagte er, »daß Sie sehr bedrückt sind: darf ich noch etwas sagen? ... Ich nehme an, daß Sie von unserem gemeinsamen Freunde wissen, daß ich aus einem kirchlich orthodoxen Hause bin. Meine Mutter ist aus einem orthodox-protestantischen Adelshaus, mein Vater war katholisch-orthodox, wie ich auch bin.«

»Ja,« sagte Kai Jans ... »Was wollen Sie mir sagen?«

»Nun hat mein Vetter, Ihr Freund, oft mit mir über Sie und Ihr Grübeln gesprochen und gestern hat er mir Ihre letzten Briefe gezeigt. Und da: zumal ich nun den Auftrag bekam, Sie hier aufzusuchen ... und da ich Sie in dieser Verfassung finde, spüre ich den Wunsch, den heißen Wunsch, Ihnen zu sagen: ›Lassen Sie das Grübeln! Lassen Sie es! Wir kommen doch nicht damit zum Ziel.‹«

Kai Jans fuhr unwillig auf.

»Ich bitte Sie!« sagte der Fremde, indem er ängstlich und mit freundlicher Bewegung nach Kai Jans' Armen griff: »Ich habe als junger Mensch – ich bin jetzt bald fünfzig – auch eine Zeit des Zweifelns und Grübelns gehabt; aber ich habe es aufgegeben. Es nützt nichts. Ich habe es mit beiden Händen von mir geschoben. Ich habe zu meiner Seele gesagt: Ich will nicht grübeln, ich will nicht erkennen! Ich will glauben, was die alte, ehrwürdige Mutter Kirche glaubt und lehrt. Und sehen Sie« – seine Stimme war weich und zitterte leise – »seitdem ich diesen Entschluß gefaßt habe, bin ich ein Mensch, der zu jeder Zeit aus all der Rauheit und Kälte und Sünde des Lebens hineintritt in den stillen, schönen, heiligen Dom aller Gnaden Gottes und der Heiligen.«

»Und nun?« sagte Kai Jans.

»Ich bitte Sie herzlichst,« sagte der Fremde, »glauben Sie mir, daß ich nicht danach giere, einen Katholiken aus Ihnen zu machen! Meine Mutter, die orthodoxe Protestantin, war glücklich in ihrem Glauben. Ich will Sie nur bitten: so wie ein Küchlein unter die Henne, so tauchen Sie in dem alten Glauben Ihrer Kirche unter. Glauben Sie an die Erlösung durch sein Blut. Weicher und friedebringender ist allerdings der Mutterschoß meiner Kirche.«

Kai Jans schüttelte abwehrend den Kopf und sagte mit zugeschnürter Kehle: »Sie haben recht: es ist ganz dasselbe, die katholische oder die protestantische Kirchenlehre: es ist ein Wust von veralteten Menschenmeinungen. Wer sich ihnen unterwirft, mag wohl glücklich werden; aber glücklich wie ein König, der seine Krone verschenkt hat und in der Nachtmütze fröhlich ist; oder wie ein Soldat, der ohne Kokarde im pflicht- und rechtlosen Haufen sich wohl fühlt. Ich ... ich für meine Person ... will dies Glück nicht. Ich will den ewigen Mächten und all ihrem Grauen ins Gesicht sehen, und wenn es mir die Sinne verwirrt. Es nützt nichts, daß wir miteinander reden.«

Da ging der traurig und still davon.

Da trat der Arbeiter in die Stube, der ihnen vorher auf der Straße die Auskunft gegeben hatte, faßte Kai Jans an die Brust und sagte: »Nun hast du unsern Jammer bis auf den Grund gesehen. Nun räche doch die Toten! Und die Kinder, die in den dunkeln Höfen sitzen und nicht spielen! Was war das für ein frommer Schleicher? Kai Jans, komm zu uns herüber.«

Kai Jans schüttelte verzweifelt den Kopf: »Wie gerne!« sagte er, »wenn ich es könnte! Ich kann ja nicht! Ihr habt ebensoviel Engherzigkeit und Ungerechtigkeit als alle andern Parteien. Ein Mensch, mit weiter, freier Seele, kann nicht Parteimann sein.«

Der junge Arbeiter sah ihn zornig an: »Ohne Partei kannst du nichts erreichen. Das weißt du.«

»Das ist nicht wahr,« sagte Kai Jans heiß. »Die am tiefsten gewirkt haben, die haben zu keiner Partei gehört; ihr gerechter Sinn ließ es nicht zu.«

»Komm zu uns, so hast du einen Grund, auf dem du stehst, und ein gutes Feld zur Arbeit; und dein Vater würde sich freuen.«

»Nein, nein! So will ich keinen Grund gewinnen und kein Arbeitsfeld; das wäre kein heilig Land. Ich kann keine Orthodoxie annehmen, weder eine politische, noch eine religiöse ... Ich kann nicht ... Sei nicht böse.«

»Mach ein Ende,« sagte Pe Ontjes stolz und steif, »komm mit uns.«

»Denn geh!« sagte der Arbeiter gutmütig und gab ihm die Hand. »Was das Herz nicht will, muß man nicht tun. Aber vergiß uns nicht.«

Da ging der auch.

Da packte Kai Jans zusammen, was er mitnehmen wollte, gab den Wirten ihr Geld und ging mit den beiden fort. Die Wirte standen bedrückt an der Tür.

Es war nach Feierabend, als sie den Nordosten verließen und die Invalidenstraße entlang gingen. Tausende von Arbeitern, Frauen, Kindern und Wagen füllten die Straße. Zuweilen erschien es wie ein unordentliches, aufgelöstes Heer, das sich ordnen wollte; dann wirrte es wieder hin und her, ziel- und zwecklos; zu beiden Seiten standen die hohen, steilen Mauern und engten und quetschten den Zug. Im Westen, in der hohen Ferne, leuchtete am weiten, freien Himmel die heilige Abendglut.

Kai Jans sah, wie sein Vater stillstand und staunend auf das mächtige Bild Menschenleben sah, und sagte traurig: »Von diesen Tausenden sind nicht Hundert, die wissen, was der rechte Lebensinhalt ist. Sieh, das Rot am Himmel! Wie fern sind wir von Gott und von der Natur, und darum vom Glück.«

Sie gingen wieder die Friedrichstraße hinunter, aßen ein wenig im Stadtbahnbogen und saßen da lange und bedrückt. Als sie heraustraten, war es Nacht.

Eine halbe Stunde später fuhren sie in die Nacht hinaus nach Hamburg zu. Der Alte saß in der Ecke, als hätte ihn jemand hineingedrückt, und rauchte; aber allmählich sank die Hand, welche die Pfeife hielt, auf die Knie, und der Kopf sank schlafmüde auf die Brust. Pe Ontjes lag langausgestreckt auf der Bank und stritt sich im Schlaf mit Tjark Dusenschön und mit der Stadtvertretung von Hilligenlei und kümmerte sich in seinem Zorn gar nicht darum, daß Anna Boje ihn mit lachenden Augen immerfort schüttelte, daß sein Körper hin- und herfuhr.

Kai Jans saß und starrte vor sich hin und quälte sich mit den Ereignissen der letzten Wochen, die ihn so schwer erschüttert hatten, und mit all seinem vergeblichen Grübeln und Suchen von seinen Kindertagen an und dachte in seiner Seele: Es ist alles aus und vorbei, sinnlos, zwecklos. Was willst du denn nun tun! Aus der Welt gehen, oder stumpf und dumpf weiter leben? Aber du kannst ja weder das eine noch das andere. Ja, was denn also? Es gibt noch ein drittes! Man kann irrsinnig werden! Werde irrsinnig! Werde irrsinnig! Mensch, werde irrsinnig! Steig' in Hamburg aus dem Zug und sage zu den Leuten auf dem Bahnhof und in den Straßen: »Menschenkinder, was lauft ihr so unruhig und so rasch? Was macht ihr für sorgenvolle Gesichter? Was sind eure Kinder so blaß und ernst, warum gehen sie nicht hin und spielen im Wald? Warum müht sich eure Jugend und hat keine Blumen im Haar? Was wohnen so viele von euch in schrecklich dunkeln Höfen? Was habt ihr für große Gefängnisse und Irrenhäuser? Was ist mit euch? Seid ihr verrückt? Wißt ihr denn nicht, daß die ganze Welt rund um Hamburg heilig und selig ist? Seht doch um euch, macht doch die Augen auf! Seht ihr nicht: Rund um euch ... Alles heiliges Land? ...« Aber als seine Seele so wohl eine Stunde lang dem furchtbar tiefen Abgrund entlang ging, vom schweren Trank der Not trunken und irr, erbarmte sich die Natur und ließ ihn in einen tiefen Schlaf verfallen. Und im Schlaf sah er ein lichtes, freundliches Bild.

Es kam ein Vogel geflogen, groß und hell, und lang wie ein Reiher, mit mächtigem, aber sanftem Flügelschlag, der sagte zu ihm: »Setz' dich auf mich; ich will dir etwas Schönes zeigen, daß du fröhlich wirst.« Und sogleich, wie er sich auf ihn gesetzt hatte, war ein Gefühl von Freiheit und fröhlicher Erwartung in ihm, und bald, indem sie über Länder und Meere flogen, als wären es Felder und Teiche, kamen sie zu einer bewaldeten, hohen Bergkette und ließen sich auf der Höhe nieder. Und sein Begleiter sagte: »Siehst du es?« Und als er aufsah, sah er ein weites Land, waldreich, mit sanften Hügeln, und eine frische Luft zog hindurch wie Odem Gottes und breite, sonnige Häuser lagen an den Rändern der Wälder zerstreut in Gartenland und es gingen Menschen in den Gärten, stark, mit blitzenden reinen Augen und auf den Stirnen hohe friedvolle Gedanken. Als er noch so hinuntersah, in fröhlichem schönem Sinnen, hörte er eine Stimme neben sich und sah überrascht auf und erkannte den alten wunderlichen Matrosen, mit dem er einst vor sechzehn Jahren von Vancouver aus drei Tage ins Land gefahren war; und nun sah er auch, daß das Land, das er hier sah, dasselbe war: »Sieh!« sagte der Alte: »Du solltest das heilige Land einmal sehn, weil du so herzlich darum gegrübelt hast.« Damit verschwand das ganze Bild.

Er hat es auch nie wieder gesehn, weder im Wachen noch im Traume. Es war ihm aber für die kurzen Jahre, die er noch lebte, eine heimliche Quelle der Stärkung.


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