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Fünfzehntes Kapitel

Der Südsüdwest fuhr frisch und stetig in die Segel; der Regen sprühte leicht schräg über Deck; das Wasser rauschte und klatschte um das Schiff. Das Helgoländer Feuer flog durch die graue sternenlose Nacht.

»Vor ungefähr vierhundert Jahren da fuhr also der Dithmarscher Wieben Peters diesen selben Weg ... Er fuhr ihn aber nicht in Frieden wie wir drei, sondern in bitterem Zorn. Er meinte, sein Volk hätte seine Rechtssache zur Unrechtssache gemacht. Und so war es auch. Aber die Grundursache seines Zwistes mit seinem Volk lag da: daß er eine Herrschernatur war, und der kleine Bauernstaat keinen Platz für ihn hatte. Sie fühlten sich da alle gleich Herr, gleich hoch. »Was hat er für einen herrischen Blick! ... Sieh, er hat einen Gang wie ein Graf von Rantzau! ... Was hat er für ein klares, klirrendes Wort! ... Sag: woher hat er den Schnitt von seinem Rock? ... Seht seinen langen gelben Bart! ... Kommt, laßt uns ihn ärgern!« Da brüllte er zuletzt auf wie ein Stier.

Mit fünfzehn wilden, unruhigen Leuten an Bord fuhr er in die See. Die Flammen von den brennenden Häusern seiner Widersacher leuchteten am Strand entlang. Das Volk schrie wild her hinter dem Landesfeind.

Auf Helgoland wohnte derzeit ein kümmerliches Völklein, ein fauler, zurückgebliebener Bodensatz eines tapfern Volkes, das übers Meer nach England weiter gezogen war. Sie lebten von einem bißchen Heringsfang, und daß sie in unruhigen Nächten ein gutes Feuerlein oben auf dem Turm anzündeten, damit etwa ein Schiff auf eine ihrer Klippen und Sande liefe. Es glückte ihnen aber selten, obgleich der Pfaffe, den sie sich hielten und zu dessen Füßen sie allsonntäglich alle Mann saßen, so dringend betete, daß Gott ihren Strand mit Schiffstrümmern segnen möchte. Als Wieben Peters mit einem frischen Südost in ihre Bucht und gegen ihren Strand lief, verkrochen sie sich in die Abstiege und Spalten am Unterland; und Wieben Peters mit seinen fünfzehn Mann war Herr von Helgoland.

Er wohnte in dem alten, starken Turm, den das frühere tüchtige Volk gebaut hatte, und zog von da herunter und brandschatzte sein Heimatland. Jedesmal, wenn er herunterstieg, wurde eine Dithmarscher Kuff, welche mit Stückgut von Hamburg kam, leer gemacht; oder es flog über einen Dithmarscher Bauernhof der rote Hahn. Wenn er dann heimkam, freute er sich. Er lachte in sich hinein und spielte mit der Hand in seinem langen gelben Bart, machte Knoten darin und löste sie wieder.

So gab er seiner Seele wilden Haß zu essen und tat, als wenn sie satt und zufrieden davon wäre. Aber sie quälte sich sehr ...

Da fuhr er eines Tages, mit sechs Mann an Bord, nach Norden, rein aus Freude am Fahren. Und kam mit seiner Kuff bis auf die Höhe von Bergen und fuhr hinein, zu sehen, ob da ein Dithmarscher läge. Er suchte und fragte die ganze deutsche Brücke hinunter, wo Schiff an Schiff lag. Aber es war kein Dithmarscher darunter. Da ging er mißmutig in eines der Kaufhäuser, um sich für die Heimfahrt einigen Proviant zu kaufen.

Nun wurden die deutschen Kaufleute in ihren Häusern an der deutschen Brücke, in dem fremden Land, scharf bewacht und gewaltig kurz gehalten, daß sie sich nicht allzu sehr Herren fühlten, sondern als gelittene Gäste. So war es ihnen auch verboten, ihre Weiber bei sich zu haben. Sie wußten sich aber zu helfen, indem sie auf der Hinterseite ihrer tief eingemachten Bettstellen kleine Türen schnitten, durch welche ihre Weiber, die in der Stadt ihre Hausung hatten, abends zu ihnen hineinschlüpften.

Als nun Wieben Peters in der Dämmerung in eine dieser Stuben trat, war der Hamburger nicht da. Da ging er in seinen dunklen Gedanken so hin und her. Und als er so ging, tat sich die kleine Luke hinter der Bettstatt auf, und das Weib des Hamburgers schlüpfte herein, und sah, in den Knien liegend, den fremden Mann; und verfolgte ihn mit ihren Augen. Er warf einen raschen Blick auf sie und kümmerte sich nicht weiter um sie. Doch fing er an mit seinem Bart zu spielen.

Nun war da aber noch, obgleich der Tag vorgeschritten war, ein langer, heller Faden Sonnengold, der ging in Manneshöhe der Länge nach durch das tiefe, dunkle Gemach. Wie er nun hin und wieder ging, traf das verspätete, ängstlich starre Licht zuweilen seinen Bart. Der Bart war aber von so glänzendem Gelb, daß er einen Widerschein erzeugte, der zuweilen über das Gesicht des knienden Weibes lief, als liefen gleißende Geisterlein darüber hin, denen von der Glut ihrer Wangen und Augen die Füße heiß wurden.

Da sagte das Weib zuletzt mit langsamer, bedrückter Stimme: »Wieviel Knoten kannst du in deinen Bart machen?«

Er lockerte das Messer im Gurt und trat ans Bett und sagte: »Wieviel kannst du machen?«

Sie zuckte ein wenig in den Knien auf und griff mit beiden Händen in den Bart und spielte damit, und lachte beklommen und sah zu ihm auf. Da sanken ihr die Hände, und sie sagte murmelnd: »Du ... du bist ein Mann.«

»Wo ist der Hamburger?« sagte er.

»Ach, der Schellfisch!« sagte sie, und ließ ihre Hände zu seinen Hüften gleiten, und ließ die Hände nicht ab von ihm. So lieb hatte sie ihn.

Da fuhr er wild auf und sagte mit schwerem Atem: »Komm heute nacht ans Ende der Brücke; ich warte.«

Da entlief sie dem Hamburger in derselben Nacht und sprang zu ihm ins Boot und fuhr mit ihm nach Helgoland.

Es wurde Winter. Wilde Weststürme tobten und stürzten sich auf die Insel. So machtvoll und wild warf sich die Liebe seines großen, heißen Herzens auf das Weib. Es kam der Sommer und milde Winde legten sich weich und rund um den roten Stein. So schmeichelte sein großes, starkes Herz um das schöne Weib. Vier Jahre lebte er so, Sommer und Winter. Dann und wann segelte er davon. Dann sahen die Zurückbleibenden in der Nacht nach Osten, nach Dithmarschen hin, hellen Feuerschein. Fürwahr seine Heimat mußte für ihre Sünden Buße tun! Wenn er wieder kam, trat er an ihr Bett und sah auf sie nieder und freute sich, machte Knoten in seinen langen Bart und löste sie wieder.

So gab er seinem großen Herzen heiße Weibesliebe zu essen; und tat, als wenn es satt und zufrieden wäre. Aber oft stand er und sah mit finstern Augen nach Dithmarschen hinüber und quälte sich sehr ...

Als er eines Tages mit seinen Gesellen von Dithmarschen zurück kam – sie hatten in Brunsbüttel eine Kuff erleichtert und zwei Bauerntruhen leer gemacht – da schlich zufällig der kleine Pfaff vorüber, der noch immer mit dem erbärmlichen Völklein unter dem Felsen hockte. Einige Gesellen huben an, dem kleinen dicken Mann, nach ihrer Gewohnheit, tote Fische an den Kopf zu werfen, denn sie hielten nichts von der Kirche und ihren Gaben. Aber Wieben Peters verbot es ihnen kurz und hart. Ein Priester wäre nicht zum Spott da, sagte er.

Da wunderten sie sich sehr und warfen sich erstaunte Augen zu.

Am nächsten Sonntag kletterte der kleine Priester atemlos aufs Oberland hinauf und hielt dem wilden Haufen einen Gottesdienst. Wieben Peters und das Weib von Bergen und die Kinder, die er von ihr hatte, und die Gesellen und etliche Weiber, die sie hatten, saßen unter der Leeseite des Turmes und achteten scheu auf das, was Wieben Peters tat, falteten wie er die harten Hände, murmelten wie er die unverständlichen Gebete. Als der Gottesdienst aus und vorbei war, traten die Gesellen zur Seite und sagten so zwischen den Zähnen, – so mit unbeweglichen Lippen und klangloser Stimme –: »Nun wird er heilig. Nun geht's bergab mit ihm ...« Sie machten aber einige Züge mit ihm nach Dithmarschen hinüber, in alter Weise, und kamen mit guter Beute heim.

So ging es eine Weile.

Aber eines Tages nahm Wieben Peters den Pfaffen zur Seite, sah ihn an, als wenn er sehen wollte, was inwendig in seinem Kopf, hinter seinen Augen, wäre, und sagte: »Ich muß mehr tun, du mußt wissen, was.«

Da erschrak der Pfaff zuerst und besann sich, aber dann gab er den verfluchten Rat: »Gib die Hälfte von all dem Gold und Silber, das du geraubt hast, dem Dom in Hamburg. Dann wirst du Frieden haben.«

Da geschah das.

Sie machten auch wieder einen Zug nach Dithmarschen hinüber und kamen mit guter Beute wieder. Und so ging es eine Weile gut. Aber er war doch nicht fröhlich; er dachte nicht daran, mit seinem Bart zu knoten und zu spielen.

Und nach einigen Monden nahm er den Pfaffen wieder beiseite und sah ihn wieder so an und sagte wieder dasselbe.

Da ging der Pfaffe ins Unterland hinab und setzte sich unter das alte löcherige Boot, das seine Hausung war, und saß da einen halben Tag in Verwunderung. Er konnte sich in einen solchen Menschen nicht hineindenken. Dann ging er kopfschüttelnd und schrecklich stöhnend wieder hinauf und mußte ja nun die rechte Antwort geben. »Du mußt allen Besitz weggeben und bei fleißiger Arbeit ein sündenloses, reines Leben führen, und mußt für das, was du doch versiehst, Gott um Vergebung bitten.«

Das sollte nun losgehn. Alles Gut sollte heimlich nach Dithmarschen geschafft werden; die Weiber sollten geheiratet werden oder weg mit ihnen; keine harte Tat; kein böses Wort; kein Raubzug mehr übers Meer; sondern den ganzen Tag rund um den Stein gefischt, alle Mann. Und morgens und abends heißes Beten: Herr, erbarm dich, erbarm dich. So war der Beschluß.

Da stiegen in der folgenden Nacht die besten Gesellen mit den besten Schätzen in die beste Kuff und wollten davonfahren. Aber das Weib trat dazwischen und bat sie, treu zu ihm zu stehen. Sie wollte sorgen, daß die Güter nicht gleich weggeschafft würden. Da blieben sie.

Und einige, das muß man sagen, kamen wirklich an Gott heran. Sie wurden Menschen mit einem schönen, ernsten Schein in ruhigen Augen, und mit heißem Helfersinn vom Morgen bis in die Nacht, und mit einem Lachen wie reines Kinderlachen. Aber die meisten blieben finster und stumm, standen bald hier, bald da unter der Turmwand, und starrten dumpf übers Meer.

Und Wieben Peters? Nein ... Wieben Peters kam nicht an Gott heran. Nein ... er kam nicht an Gott heran. Er ging finster einher, und starrte nach Osten, nach Dithmarschen hin. In seine Augen kam kein tiefer, schöner Schein. Er quälte sich sehr.

Da wußte das Weib, wie ihm allein noch zu helfen wäre. Sie wußte es schon lange.

Das Weib liebte ihn noch ebenso heiß, wie an jenem Abend, da sie in der Bettstatt des Hamburgers kniete. Sie liebte ihn mit solcher wilden, natürlichen Gewalt, daß sie immer nur an sein Heil dachte und das ihre ganz vergaß.

Also schickte sie heimlich einen treuen Mann nach Dithmarschen hinüber mit der Botschaft: »Wieben Peters wird verrückt davon, daß ihr nicht kommt ... Kommt doch!«

Da taten sich dreißig Mann aus den besten Geschlechtern zusammen, taten Biertöpfe und Speckseiten genug in das Boot und segelten los, und kamen mit gutem Wind auf die Insel zu.

Wieben Peters stand, wie so oft, am Turm, und sah nach Ost; sein Weib neben ihm. Da sah er das Boot, und unter den beiden vollen Segeln die vielen Männer, und erkannte im Topp den Dithmarscher Reiter.

Da freute er sich.

Er freute sich so sehr, daß ihm die Freude aus den Augen sprang.

Und wie er dann allmählich die Leute erkannte und merkte, daß sie aus den besten Geschlechtern waren und manch alter Bekannter darunter, freute er sich immer mehr, und lachte, und fing an seinen Bart zu knoten. Drei Knoten, sagt die Chronik, machte er in jeden Zipfel.

Dann schickte er das Weib und die Kinder und die andern Weiber ans äußerste Ende des Felsens, wo er einen Versteck für sie gemacht hatte, und rüstete sich zur Verteidigung.

Er wollte den Dithmarschern den Aufstieg nach dem Oberland hindern. Aber das duckerige Volk in der Tiefe zeigte ihnen einen heimlichen Weg. Da zog er sich mit seinen Getreuen in den festen Turm zurück.

Drei oder vier von den anstürmenden Dithmarschern fielen; die andern schlugen die Tür ein und töteten einige und nahmen die andern gefangen. Wieben Peters selbst flüchtete allein die Treppe hinauf und schlug die Luke hinter sich zu. Da schossen sie von unten mit großen Büchsen durch die Diele, bis es oben still wurde und Blut herunter tropfte.

Da stiegen sie die Treppe hinauf. Es drängte aber keiner vor; denn sie dachten: der erste, der den Kopf durch die Luke steckt, bekommt die letzte Tatze, daß er für alle Zeit genug hat. Zuletzt wagte es der lange Watt vom Dreisprung – sein Geschlecht schreitet noch heute langbeinig durch die Landschaft – er öffnete die Luke.

Da lag Wieben Peters da in seiner ganzen Länge, auf dem Rücken, und atmete schwer und stoßweise, und sagte: »Kommt her, Leute!« Und er sah sie alle, so wie sie nun neugierig aus der Luke heraufstiegen, der Reihe nach mit sehnsüchtigen und bei aller Sterbensnot fröhlichen Augen an und flüsterte jedes Einzelnen Geschlecht und Namen.

Den ganzen Abend leisteten sie ihm Gesellschaft. Die meisten saßen freilich unten um den großen Biertopf; aber einige saßen immer oben bei ihm; und erzählten ihm, was sich so in seinem eignen Geschlecht und unter den andern großen Geschlechtern ereignet hätte: von Geburt und Tod, und Trinken und Zanken, und Hochzeit; und er hörte gierig zu, mit Augen, die nicht mehr plinkten. So gierig waren sie, in diese Gesichter zu sehn.

Sie fragten aber auch ihn aus und wollten wissen, wie er diesen und jenen Beutezug ausgeführt hätte, und freuten sich, daß ihm alles so gut gelungen war, und sagten: »Du hast uns mächtig geärgert. Du bist ein großartiger Kerl.«

Da lachte es in seinen Augen.

»Sagt mal,« sagte er leise ... »warum seid ihr nicht früher gekommen? Ich habe mich so danach gesehnt ... es war schändlich, daß ihr euch alles gefallen ließet. Ihr seid doch rechte Mehlbeutel.«

»Mensch!« sagten sie. »Wir hatten ja abgemacht, du solltest erst tüchtig was zusammengeräubert haben, daß es der Mühe wert war, zu kommen.«

Da lachte es wieder in seinen Augen.

»Es ist zu dumm von dir,« sagten sie, »daß du so viel schönes Gut an die dicken Hamburger gegeben hast. Du konntest doch denken, daß wir kommen würden und es wieder holen.«

Da lachte es wieder in seinen Augen.

Gegen Mitternacht schrien die von unten durch die Treppe herauf: »Du, Wieben, wir haben einen Pfaffen gegriffen. Willst du ihn?«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist ja alles in bester Ordnung,« sagte er.

»Das scheint uns auch,« sagten sie.

So erzählten sie sich dies und das, und unterhielten sich und tranken. Als er teilnahmlos wurde und das schwere, röchelnde Atmen anhob, gingen sie alle hinunter und tranken weiter. Aber dann und wann kam einer hinauf und sah nach ihm. Als nach Osten zu überm Meer, über seiner Heimat, der Morgen sich hob, erst grau und bläßlich wie ein neugeborenes greinendes Kind, dann aber allmählich heiter und lächelnd, da starb er.

Das Weib von Bergen, von Geburt eine Friesin, blieb auf der Insel, warf das duckerige Volk samt seinem Pfaffen ins Wasser und zog ihre Kinder groß. Die wurden alle starke, tapfere und verschlagene Leute. So wurde sie die Stammutter eines neuen Geschlechts auf Helgoland. Alles, was an Hunken und Haien und andern unheimlichen Namen auf der Insel wohnt, ist von ihrem Blut. Sie haben Gesichter, wie von einem etwas ungeschickten und von allen Widerwärtigkeiten des Lebens wild gewordenen Holzschnitzer gemacht, und tragen drei Büxen übereinander.«

Der Wind war härter geworden und der Regen dichter. Das Feuer kam rechts hinterm Großsegel hervor, flog in die Höhe und warf sich weithin aufs dunkel rauschende Meer.

»Seht!« sagte Kai Jans. »Was der Pfaff da zuletzt riet: Das war richtig. Alles hingeben, alles dulden, ganz arm werden, dazu reines Leben. So, als ein reines Kind vor Gott stehen. So steht es klar und deutlich in der Bergpredigt. Aber er konnte es nicht. Und ich ... ich kann es auch nicht. Und ich glaube fast, er, der Heiland, konnte es auch nicht ... Warum nicht? Es ist etwas im Menschen, was dagegen streitet, und zwar etwas Gutes. So ein sanftes Heiligenleben: das ist nichts; es muß irgend etwas daran nicht in Ordnung sein.«

»Na,« sagte Anna ... »über diese Dinge grübelst du nun da in Berlin? Über Wieben Peters und so was?«

»Mensch!« sagte er. »Glaub' doch nicht, daß ich ein Grübler oder Kopfhänger bin! Ich sage euch: ich beseh' mir das Leben da!«

»Besonders die Mädchen,« sagte Anna.

»Ich leugne es nicht,« sagte er, »obgleich es fast gefährlich ist, es zu gestehen. Denn wenn ich sage: ich schätze einen guten Mehlbeutel über alles, oder es geht mir nichts über einen gut gesteiften Hemdkragen, dann sagen sie: ich bin ein verständiger Mann. Wenn ich aber sage: es geht mir nichts über ein schönes, frisches Mädchen, dann bin ich ein bedenklicher Mensch. Aber sind sie nicht von allem, was die Natur hervorgebracht hat, das Edelste und Schönste? Weißt du, Pe Ontjes, ich geh' ja zuweilen ins alte Museum und in die Nationalgalerie und ich habe nichts gegen diese Dinge: aber ich sage dir: wenn ich nun dort bin, und seh' da ein schlichtes, feines Mädchen vor irgendeinem Bilde stehen: dann ist mir der ganze Kram, der da herumsteht und an den Wänden hängt, gleichgültig. Siehst du: das sage ich.«

»Damit bin ich ganz einverstanden,« sagte Pe Ontjes, »und Anna wird auch nichts dagegen haben ... Was interessiert dich sonst noch in Berlin?«

»Nun: die Straßen, der Verkehr, die Bauten, das Militär, das Theater ... aber am meisten ... am meisten ... der einzelne Mensch.«

»Wie das?« sagte Pe Ontjes.

»Ja, siehst du ... ohne es zu wollen, beobachte ich sie: wie sie leben und was sie denken. Ich kann stundenlang die Straßen entlang gehen – nicht allein unter den Linden; sondern auch im Norden, wo ich wohne – und über die Menschen nachsinnen, die ich da sehe, und über ihre Vergangenheit, und ihr gegenwärtiges Leben, und wie ihnen wohl ums Herz ist. Ich habe da unter den Arbeiterfamilien, unter denen ich hause, eine ganze Menge Bekannte, besonders auch unter ihren Kindern und Frauen.«

»Na ... und damit beschäftigst du dich denn!« sagte Anna. »Mit dem Mädchen vor dem Bild, und mit den Leuten auf der Straße und den Arbeiterfamilien! Eigentlich muß man sagen, daß du zu einem andern Zweck nach Berlin gegangen bist. Das muß man wirklich sagen, wenn man ehrlich sein will.«

»Du meinst, um Theologie zu studieren,« sagte Kai Jans und sah nachdenklich übers Meer. »Ja ... ich studiere auch Theologie, und ich werde mein Examen rechtzeitig, also bald, und nicht schlecht bestehen. Damit bist du nun schon befriedigt und beruhigt. Ich will dir aber noch etwas besonderes sagen. Hör' genau zu, Anna. Du weißt, daß unser Volk immer mehr von dem alten Kirchenglauben abfällt. Die wissenschaftliche Forschung ist dabei, sowohl den katholischen wie den protestantischen Kirchenglauben auseinander zu brechen. Es muß und wird etwas Neues kommen. Ob ich nun nicht recht und klug tue, wenn ich mich so darauf vorbereite, daß ich das gegenwärtige Geschlecht der Menschen kennen lerne? Sieh, der Geheimrat hat keine Religion oder eine, die nichts wert ist; der Bäckerjunge in ledernen Pantoffeln hat auch keine; und die Arbeiterfrau erst recht keine. Wenn ich mich in müßiger Langerweile und Trägheit in Berlin umtriebe, so könntest du mich wohl tadeln. Aber ich stehe da am Menschenstrom und hör' auf sein Rauschen und hör' im Rauschen die alte Frage: Woher und wohin, Menschenkinder? Diese Frage höre ich deutlicher und höre sie mehr aus der Tiefe, als andre Leute. Und sie macht mir mehr Not als andern Menschen.«

»So!« sagte Anna. »Darauf läuft das Ganze hinaus. Vor dreieinhalb Jahren, im Kaiserhof, hast du es abgeschworen ... aber nun bist du doch wieder dabei, Hilligenlei zu suchen.«

»Und bin ich dabei,« sagte er, »was habt ihr dagegen?«

»Nichts!« sagten sie beide ernst, »gar nichts! Such' es!«

»Und nun,« sagte Pe Ontjes, »sollst du in die Koje gehn, Anna. Komm, ich will dir deine Schlafgelegenheit zeigen ... Nachher müssen wir auch über Stag gehn, Kai.«

»Bleib' nicht so lange,« sagte Kai Jans; »der Wind geht mehr nach West und die Dünung wird größer; es kann uns noch schlecht genug gehen.«

Als sie in den engen, kleinen Raum eintraten, machte er Licht und setzte sich auf die Kiste und sagte: »Nun. Ist nun vollständiger Friede zwischen uns? ... Komm her! ...« und er zog sie zu sich auf seine Knie.

Sie spielte verlegen mit den Umschlägen seiner Jacke und sah ihn klar und gütig an und sagte mit einem rührenden Ton in der Stimme: »Wie lieb ist das, wenn einem ein Mensch gehört ...«

Er wunderte sich, und freute sich über ihre Schönheit und Güte, und betrachtete sie stumm mit glücklichen Augen und hob die freie Hand und strich ihr langsam und zärtlich immer wieder über das blonde Haar. Dabei zog er sie allmählich näher an sich heran: »Wie fein dein Atem ist,« sagte er, »wie Morgenwind.«

»Du bist dumm,« sagte sie. »Wenn man jung und reinlich ist? ...«

»Deine Lippen schmecken nach Salz.«

»Deine auch ... Das kommt vom Seewind,« sagte sie.

»Was haben deine Augen für einen schönen Glanz und was atmest du lieb ... Liebe, kleine Deern ...«

»Du bist so lieb mit mir ...« sagte sie mit schwerer Stimme.

»Daß du so heiß bist ... du ... das habe ich nicht gedacht, du ...«

»Es ist dir nicht recht,« sagte sie schwer und weh ... »ich kann nicht dafür ... ich bin nun einmal so ...«

»Du liebes, großes Menschenkind! ... weißt du was? Ich würde dich über Bord werfen, wenn du es nicht wärst.« Er zog sie fester an sich und küßte sie.

»Nein, Pe Ontjes!« sagte sie leise und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter, »daß du einen so gelben Bart hast. Wie lieb mir das ist! ... Wenn du ein Schellfisch wärst, du, das wäre schlimm für mich ... O, du lieber Mensch ...«

Er lachte kurz auf und zog sie wieder an sich. »Rede noch einmal vom Schellfisch!« sagte er ... »So ... nun muß ich hinauf und du mußt schlafen.«

»Ach, bleib' noch. Du mußt mir zeigen, wie ich mich hier einrichten soll ... Ich zieh' bloß das Kleid ab und dann hinein in die Koje ...«

Sie zog das Kleid ab und legte sich hin und lachte.

»So,« sagte sie. »Es schaukelt stark; aber ich glaube, ich werde doch schlafen ... Komm, bleib' noch ein wenig bei mir! ... Ach, was wird das morgen für ein schöner Tag! ... Du, Steuermann, ich bin dir nicht dankbar; das mußt du dir nicht einbilden. Denn ich bin ebensoviel wert wie du. Aber ich bin glücklich durch dich, und ich denke, daß du glücklich durch mich bist ... Wenn wir Piet morgen träfen? Und wie wird Mutter sich freuen! Sie hat in den letzten Jahren nicht viel Freude gehabt. Und deine Eltern! Die freu'n sich auch, das weiß ich ... obgleich ich kein Geld habe ... Also im Reimerschen Haus werden wir wohnen.«

Nun fingen sie an, über das Haus zu sprechen und wurden nicht müde, alles zu bereden: wie sie es einrichten und wie sie da hausen wollten. Dabei hielten sie sich an den Händen und sahen sich beim trüben Schein der Lampe unverwandt an.

»Aber nun muß ich hinauf, und du mußt schlafen,« sagte er. Er nahm sie in den Arm und küßte sie.

Sie war selig in seinen Armen. »Ich wundre mich so,« sagte sie leise, »daß du so lieb bist. Ich habe immer darüber nachgedacht, ob du wohl lieb sein könntest. Ich fürchtete, du könntest nur einen Maissack lieb haben oder die Goodefroo.«

»Ach du! Ich bin nicht anders als andere Männer. Wenn man die im Arm hat, welche man liebt, und sie kommt einem mit solch schöner Liebe entgegen, dann gerät man in Feuer.« Und er küßte sie heiß. »Ich möchte nicht wieder von dir gehn.«

Da umarmte sie ihn und sagte: »Du, Pe Ontjes, ich habe dich schrecklich lieb, und wenn ich einen Menschen lieb habe, dann gehe ich für ihn durchs Feuer ... Aber ... Pe Ontjes ... ich muß immer, immer stolz auf dich sein können.«

Sie hätten das Feuer, das vorhin brannte, wohl noch wieder angefacht, aber das Boot wurde plötzlich schwer und unruhig hin- und hergeworfen, daß er sie rasch ließ und hinaufging.

Als er sich oben umsah, arbeiteten Kai Jans und der Junge an den Segeln. Das Feuer flog auf Steuerbordseite hoch vor ihnen in den Nachthimmel hinauf. Der Wind war stärker und westlicher geworden. Eine hohe Dünung warf das leichte Schiff eine Weile hin und her.

Dann bekamen sie es mit Pe Ontjes Hilfe glücklich vor den Wind.

»So,« sagte Kai Jans und setzte sich zu Pe Ontjes ans Steuer ... »nun treiben wir in fünf Stunden nach Cuxhaven ... was meinst du?«

»Wir können von Glück reden,« sagte Pe Ontjes und sah nach Südwest. »Das Wetter wird ruhig.«

Sie saßen nebeneinander und redeten wenig. Der Wind fuhr hinter ihnen drein. Es kamen Böen auf mit sprühendem Regen, die, je weiter es gegen Morgen ging, schwerer wurden. Das Fall in der Hand, blieben sie wach, bis der Morgen graute.

Als sie wieder eine schwere Böe überstanden hatten – der Morgen graute eben – erschien Anna Boje in der Luke, rot und verschlafen, und sah sich ziemlich ängstlich um: »Nein!« sagte sie, »ich habe so fest geschlafen! Wie ist es möglich! Aber nun erwachte ich von dem schweren Lärmen.«

Sie hatten nicht verstanden, was sie sagte, aber Kai Jans sprang auf und half ihr heraus, schloß die Luke und führte sie nach dem Steuer.

»Sie wird durchnaß,« sagte Pe Ontjes.

»Wenn ich bloß bei euch bin.«

Sie zogen ihr einen alten, nassen Ölrock an, und dann saß sie still und ein wenig zusammengeduckt da; und sah mit klaren, ernsten Augen über den dämmernden Himmel und über das Wasser, das weithin in weißgrauen, schweren Hügelreihen dahinrauschte.

»Siehst du?« sagte Pe Ontjes ... »dort das Feuer? Das ist Neuwerk ... und dort ist Cuxhaven.«

Als sie zwei Stunden später an der alten Liebe vorüberfuhren, stand am Lotsenhaus das Zeichen: Südweststurm, rechts drehend.

Das war um neun Uhr.

Drei Stunden später, gegen zwölf Uhr, donnerten die Kanonen von Grimmershörn über das wilde, tobende Wasser. Der Sturm war nach Nordwest übergegangen. Es war ein dunkler, wilder Novembertag.


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