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Siebzehntes Kapitel

Mutter Boje hatte wirklich Freude an ihren Kindern. Es wurde in dem kleinen, spitzgiebligen Haus unter den Kastanien viel heller.

Anna Boje war ein glückseliges Weib; sie dachte an nichts weiter als an ihren Mann und ihre tägliche Hausarbeit. Im zweiten Jahr fing sie an, sich sehr zu grämen, daß sie kein Kind bekam.

Sie hatte viel im Hausstand zu tun. Aber zwei- oder dreimal in der Woche, so gegen Abend, ging sie nach der Kastanienallee, und saß auf ihrem alten Platz, ein wenig stattlicher nun, und mit einer schönen Ruhe in dem klaren, hellen Gesicht. Die Mutter saß ihr mit einer Handarbeit gegenüber; Heinke arbeitete in der Küche.

Da geschah es wohl, daß die Mutter mit kurzem, scheuem Wort nach diesem oder jenem fragte, und einen kurzen, fraulichen Rat gab. Dann antwortete das junge Weib nichts und wehrte nur unwillig mit dem blonden Kopf ab, als wollte sie sagen: Ich mag darüber nichts hören. Die Mutter aber wußte wohl, daß die Tochter genau zuhörte. Wenn sie dann nach Hause ging, reckte sie ihren hohen Körper und fühlte das Blut frisch und lebendig durch die Glieder strömen und schritt wie eine Löwin, wie Pe Ontjes sagte, und dachte: ›Wenn ich keine Kinder bekomme, wer bekommt sie dann?‹

Eines Abends – die Ehe dauerte bald zwei Jahre – fing die Mutter wieder davon an, indem sie fleißig weiter strickte: »Sag' mal, Kind ... ich mach' mir soviel Gedanken darüber ... Ich will nachher auch weiter nichts darüber sagen. Aber zu einer Ehe gehören Kinder ... Sag' mal: Ihr habt euch doch lieb?«

»Ach, Mutter!« sagte Anna Boje abweisend. »Wie kommst du darauf? Natürlich haben wir uns lieb!«

»Das ist ja schön,« sagte Helle Boje, »nun sieh ... man kann sich auch zu lieb haben ...« Sie beugte sich über die Arbeit in ihrem Schoß: »Dein Vater war ein rascher und lebendiger Mann, ganz wie Piet; aber wenn er mich in die Arme nahm, war er ruhig wie ein König.«

Anna sagte nichts, und tat, als wenn sie nichts hörte.

Als sie aber am Abend mit ihrem Mann allein war und anfing, ihr langes, schlichtes Haar in aller Gemächlichkeit vor ihm zu lösen und auszubreiten, und die Arme hob und senkte, und er richtig an sie herantrat, und anfing, mit ihrem Haar zu spielen, sagte sie und sah ihn mit verstelltem Ernst an: »Du, Wieben Peters ... Du meinst, wenn dein Bart gelb ist und dein Herz heiß, damit ist alles gut. Wenn du deine Frau lieb hast, mußt du ruhevoll und herrlich sein, wie ein König.«

»So!« sagte er. »Ach! Und wie mußt du sein?«

Sie sah nach ihrer Weise scharf und mißtrauisch in den Spiegel, schüttelte die lange, blonde Mähne und sagte auflachend: »Ich? Ich bin ja so ruhig!«

So lebte Anna Boje. Sie dachte an nichts als an ihren Liebsten und daß sie ein Kind von ihm haben möchte, und an ihren Hausstand. Um anderes kümmerte sie sich nicht. Nicht einmal um die Ihren. Ihre Schwester Heinke wurde ihr fast fremd.

Heinke wurde achtzehn Jahre alt und besorgte den Hausstand.

Da das Haus nun leerer war und um mehr Arbeit zu haben, nahmen sie nun zwei Schüler der Domschule in ihre Obhut, natürlich Freestedter Jungen. Die hausten nun da oben in der Giebelstube, wie im lieben Elternhaus. Mutter Boje achtete mit mütterlichen Augen auf lose Knöpfe und zerrissene Hosenböden; Heinke sorgte durch rasches Scheltwort und loses schwesterliches Handgelenk für Aufmunterung beim Lernen. Dazu für gutes Essen. Denn sie aß selbst gern und gut; sie war hungrig und stark, und hatte, obgleich sie nicht so schlimm war wie die andern Bojes, doch auch ein tüchtiges Stück Eigenliebe.

Ihre heimliche Freude aber in dieser Zeit war, daß Kai Jans nach wohlbestandenem Examen zur Vertretung des Pastors nach Hindorf kam, das nur zwei Stunden von Hilligenlei entfernt ist.

Kai Jans!

Vierzehn Tage lang half er dem kranken Pastor in seinem großen Amt: taufte und traute und besuchte Kranke, und sprach an Gräbern, und half hin und her in allerlei Lebensnöten. Aber danach, am Sonntagnachmittag, kam er nach Hilligenlei.

Dann ging er zuerst zu seinen Eltern. Die wohnten immer noch im langen Haus, und Thoms Jans ging bei seinen sechzig Jahren noch immer täglich und rüstig mit dem Spaten ins Watt, und Male Jans stand noch immer mit glattem Haar und sauberer Schürze in der Küche von Ringerang, wenn die großen Bauern ein Essen hatten, oder die Jungen tanzten. Aber am Sonntag saß er gemächlich am Fenster, die Brille auf der Adlernase, und forschte in der Bibel und in der Arbeiterzeitung, und sie saß ihm gegenüber mit ihrem klugen, zarten Gesicht und las mit gemächlicher Ruhe, was die Itzehoer Nachrichten von Lady Alice und Lord Pankook erzählten.

Die Partei der Arbeiter, deren erster Veteran er war, war nun groß geworden, hielt ihre Versammlung in einem Saal und ließ sich zuweilen einen Redner aus Hamburg kommen. Er ging immer hin und hörte zu; aber er glaubte nicht alles. Sie urteilten seiner schwerfällig nachdenklichen Natur nicht vorsichtig genug. Daß sie auf die Pastoren schalten, und von der Kirche, so wie sie war, nichts wissen wollten, war ihm zwar recht; denn die Kirche hatte, soviel er davon gesehn, immer auf Seite der Wohlhabenden gestanden. Aber daß sie mit der Kirche alle Religion verwarfen, das konnte er nicht vertragen. Er wußte aus seinem und vieler Menschen Leben, daß heilige, ewige Mächte in und um uns ihr heimlich Walten haben wollen.

Wenn Kai Jans nun kam, fragte die kleine Mutter nach Strümpfen und Hemden und nach der Mittagskost im Pastorat. Der Vater aber legte die Brille auf den Tisch, fing so leise an, mit den Fingern auf die Fensterbank zu trommeln und sagte: »Ich mag die Brille nicht aufhaben, wenn ich Menschen ansehe ...«, und fragte nach dem, was in Hindorf geschehen war. Und meist kannte er die Leute, die der Sohn nannte, und erzählte mit Bedacht und Vorsicht, immer nach dem Urgrund der Begebenheiten suchend, von dem Leben derer, die der Sohn jetzt zu Grabe brachte, und von den Vorfahren derer, die der Sohn taufte. Und da Vater und Sohn einander sehr ähnlich waren, gingen des Vaters Erfahrungen in den Sohn über, und er sah mit den Augen eines Sechzigjährigen in Welt und Leben hinein.

Manche Stunde saß er so, und hörte seinem Vater zu, die nachdenklichen Augen bald an der Erde, bald in des Vaters klugen Augen, bald nach dem Hafenstrom hinaus übers Meer. Er sagte wenig und urteilte selten. Er hörte nur zu und sah.

In der Zeit, da andere auf den Tisch schlagen und sagen: »Fertig sind wir! Hinter uns liegt Examen und Nachdenken!« da fing Kai Jans an, sich und die Welt und das Leben als schwere Rätsel zu fühlen. Zu der Zeit, da alle seine Freunde schon fertige Leute waren, da Pe Ontjes Lau – ach der große Pe Ontjes Lau! Der war schon damals ein fertiger Mann, als er zehnjährig des Jütländers Wollmütze trug – da Anna Boje mit ihren sechsundzwanzig Jahren ein ganz eigener, sicherer Mensch war, da Piet Boje genau wußte, was er wollte, da Tjark Dusenschön schon lange breit und ruhig durch die Straßen Hamburgs ging: zu der Zeit fing Kai Jans an, – so wie die Eiche im Wald am spätesten zu grünen anfängt, weil sie das härteste Holz hat – die geistvollen, unruhigen Sprünge des jugendlich spielenden Geistes aufzugeben, und sinnend und ruhevoll, doch mit schweren Furchen in der Stirn, auf das Rauschen im großen Walde zu lauschen, in seinen Gründen und in seinen Kronen ... Und sein bester Helfer in dieser Zeit, da er ein Mann wurde, war der alte Wattarbeiter Thoms Jans. Der gab ihm das größte Erbe, das vererbt werden kann: nämlich alle Erfahrungen eines langen, klugen und ernsten Lebens.

Aber während der Vater, wenn auch mit eilig vorüber huschenden Worten, die tiefsten Heimlichkeiten der Seele doch berührte, schwieg Kai Jans darüber, scheu, und auch unsicher in seiner Jugend, noch ohne Selbstvertrauen, immer noch in Sorge, daß er vor dem Alter nicht bestehen könnte.

Wenn er aber dann das lange Haus verließ, kam er stracks, noch ganz in Gedanken, in das kleine, spitzgiebelige Haus unter den Kastanien.

Und da wurde Kai Jans munter. Da saß er so recht bequem in dem Stuhl, der am Fenster stand, und redete mit Mutter Boje und mit Heinke, und sah auf die Straße, und machte sich über die Vorübergehenden lustig, und spottete über dies und das in Hilligenlei, und erzählte von Hindorf und von dem guten Pastor, und fragte nach den alten Freunden.

»Piet war vorige Woche hier,« sagte Heinke. »Vormittags kam er und setzte sich in den Stuhl, in dem du sitzest, und sagte, es wäre hier großartig still und gemütlich, und er wolle drei Tage bleiben. Er wollte dich auch in Hindorf besuchen; und ich sollte mit. Aber als er sah, daß hier alles gut stand, und nachdem er mit Pe Ontjes über die Kornpreise geredet hatte, sagte er so um drei Uhr nachmittags: ›Es wäre doch besser, Mutter, wenn ich morgen früh wieder zur Stelle wäre. Wir haben da gerade eine wichtige Arbeit an einem neuen Gaffelschoner‹ ... Na, da hab' ich ihn um fünf Uhr zur Bahn gebracht ... Und weißt du, wer es am weitesten bringt von euch allen? Tjark Dusenschön! Piet sagt: er hat schon ein Vermögen. Und ihr habt nichts.« Und sie lachte ihn mit fröhlichem Spott an.

Da kamen Kai Jans und Mutter Boje auf die Kindertage zu sprechen, und sie wollte mitreden.

»Ach!« sagte er, »sei du doch still! Du warst so ein kleines Kind damals. Du warst nicht größer als ein Stuhlbein.«

»Du lügst.«

»Ich lüge? Ich habe dich gesehn, wie du zwölf Tage alt warst.«

»Das ist nicht wahr. Das prahlst du alles. Du willst immer mit mir reden, als wenn ich dein Enkelkind bin. Wir sind acht Jahr auseinander, mehr nicht.«

Er freute sich über ihren Zorn und lachte. Sie aber versuchte, ernstlich böse zu sein. Aber wenn sie dann einen raschen Blick in sein Gesicht warf, und sah, daß es voll Freude und Schelmerei war, lachte sie leicht auf und sagte glücklich: »Du kannst mich gar nicht böse machen.«

»Du mich auch nicht!« sagte er dann ernst und sah sie mit guten, tiefen Augen herzlich an.

Dann nickte sie ihm zu, mit verwirrten Augen, und beugte sich über ihre Arbeit.

Wenn er dann gehen wollte, sagte er: »Gehst du mit zu Anna?«

Und weil Sonntag war, hatte sie Zeit und ging mit, und freute sich über jeden, der des Wegs kam und sie neben ihm gehen sah; denn sie meinte, alle Leute müßten ihn so hoch stellen, wie sie von ihren Kindertagen an getan hatte.

Wenn sie dann ein Stündchen oder mehr bei Anna oder Pe Ontjes gesessen hatten, begleitete sie ihn aus der Stadt über die drei Stege bis auf die Höhe.

Und hier, in der weichen, breiten Ruhe, die der Abend bringt, unterwegs nach seinem stillen Dorf, die junge, reine Seele an seiner Seite: traten die heimlichen Gedanken und Nöte frei und mit Macht aus der Tür seiner Seele.

»Du, ... ich habe sonst keinen, mit dem ich davon sprechen kann ... und du bist zu jung dazu ... aber wenn du auch nicht alles verstehst, du hörst doch immer so treulich zu und bist ein liebes, lebenskluges Menschenkind, viel lebensklüger als ich jemals werde; ... ich weiß nicht, Heinke, wo ich noch bleibe ... ich fürchte, ihr behaltet noch recht mit dem, was ihr immer gesagt habt, daß ich zum Pastor nicht tauge. Ich glaube, ich verlasse noch das Amt und die ganze Laufbahn.«

Sie schwieg eine Weile. »So!« sagte sie dann ... » Glaubst du denn nicht, was du predigen mußt?«

»Ja, Kind ... so einfach liegt es nicht. Sieh mal: den Kirchenglauben, den wir in der Schule und in der Kirche gelernt haben, an den glaube ich nicht. Soviel ich mich erinnere, habe ich niemals an ihn geglaubt. Man kann auch als wissenschaftlicher Mensch nicht an ihn glauben.«

»Ja, was predigst du denn?«

»Ja, Kind ... Ich habe anfangs eine schwere Not gehabt. Ich meinte eine Zeitlang, daß ich, weil ich den Kirchenglauben nicht hatte, das ganze Christentum wegwerfen müßte. Ich war ganz verzweifelt und dachte, es wäre alles nichts als Unsinn. Aber da sollte ich, vor ungefähr einem Jahr, ein ganz kleines Kind beerdigen. Kurz vorher hatte mir eine alte Frau im Dorf erzählt: sie hätte einst ihre Eltern verloren, und dann ihren Mann, und hätte dann auch große Kinder zu Grabe gebracht; aber das härteste wär' ihr gewesen, ein Kind zu verlieren, das noch an der Brust gelegen hätte. Da sprach ich an dem offenen, kleinen Grabe zu der jungen Mutter, ohne Text und ohne an den alten, kalten Glauben, an Erbsünde, und Stellvertretung durch sein Blut, und dergleichen zu denken, und suchte einen Trost für sie, und ja ... und da fand ich ihn auch, in dem: erlöse uns von dem Übel und dein Reich komme ... Und sieh: nun predige ich über das Kindliche, Freundliche, menschlich Verständliche im Christentum, meist nach Heilandsworten; über Gottvertrauen und Mut und Nächstenliebe und ewige Hoffnung. Darüber predige ich ... Aber es ist nichts fest Gegründetes und auch nichts Einheitliches, und ich bin unsicher und unglücklich darin, und es ist mir der Gedanke schrecklich, daß ich da keine Klarheit habe.«

»So predigst du doch Reines und Hohes,« sagte sie. »So sei doch zufrieden!«

Da fing er an zu klagen. »Ich bin's aber nicht!« sagte er. »Wenn ich doch wie die andern Menschen wäre! Die stehen ihrem Beruf und Amt vor, und haben irgendeine Liebhaberei, und spielen mit ihren Frauen und Kindern; ich aber quäle mich um Dinge, die kein Mensch raten kann.«

Sie sah ihn mit ihren klaren, reinen Augen an: »Du wirst doch noch etwas Sicheres und Gutes finden,« sagte sie. »Du bist noch jung.«

Aber er war ganz mutlos: »Ich und finden! Nicht einmal zu einem Dorfpastor habe ich das Zeug. Ich stehe wie der Ochs vorm Scheunentor; ja, so steh' ich vor der Welt und wundere mich, und weiß nicht ein und aus. Ich kann aus dem Leben und aus der Welt kein Lied heraushören, und wenn ich noch so sehr die Ohren spitze.«

»Soll ich dir sagen, was du tun müßtest?« sagte sie. »Du müßtest noch mal wieder hinaus! Du müßtest noch mehr sehen und lernen; das, glaube ich, wäre gut für dich. Wenn auch nur, damit die unruhigen Jahre besser vergingen.«

»So!« sagte er. »Ich habe einen Freund in Berlin, einen Staatswissenschaftler, reicher Leute Kind. Dem und dir erzähl' ich von meinen Sorgen, sonst keinem. Der schreibt alle vierzehn Tage: ›Komm noch auf einige Jahre wieder hierher! Damals vor drei Jahren waren wir noch zu jung und zu dumm, besonders Du! Jetzt komm wieder und lerne!‹ ... Ich glaube zuweilen, es wäre das richtige. Aber dann scheu' ich mich wieder; ich habe für die Wissenschaften einen zu einfachen Geist ... Kind,« sagte er, »ich mache dich traurig mit meinen traurigen Sachen; wir wollen von anderen Dingen reden.«

Sie schüttelte den blonden Kopf und sagte mit ihrer weichen, klingenden Stimme: »Erzähl' immer weiter, immer weiter! Du glaubst nicht, wie gerne ich dir zuhöre. Wenn ich dir bloß helfen könnte!«

Oben auf der Höhe bei Volkmersdorf nahm sie Abschied von ihm und ging nach Haus. Und ging wie durch lichten, glänzenden Nebel, selig darüber, daß der liebste und klügste Mensch mit ihr gegangen war, und ihr die Heimlichkeiten seiner Seele in die Hände gelegt hatte ... Ihre Seele lag noch tief in Jugendträumen.


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