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Vierzehntes Kapitel

Als der Herbst kam, merkte Pe Ontjes Lau, daß es mit seinem Geschäft keine Not haben würde. Er gab den Selbstbetrieb der Ewer auf und mußte seinen Schuppen vergrößern und mußte auf das Dach dieses Schuppens ein Windrad bauen, das trotz allen Schmierens den ganzen Tag leise und unangenehm schrie.

Gerade als sie im Domklub wußten: »Es geht schief! Natürlich geht es schief! So etwas kann in Hilligenlei nicht aufkommen,« da wußte Pe Ontjes Lau, daß er ein Geschäft hatte, das ihm Freude machte und das Frau und Kinder ernähren konnte. Und da hob er den Kopf und suchte Anna Boje.

Er hatte nämlich seine Augen gemeistert, daß sie nach nichts sahen, als in Mais- und Gerstensäcke und in kluge Bauernaugen. Aber er hob nun den Kopf und sah um sich. Und wenn der weiland große und herrliche Steuermann der Goodefroo und jetzige Kornhändler Peter Ontjes Lau den Kopf hebt, so gibt es immer eine ruhige, klare Sache. Er hob also den Kopf mit dem hellblonden kurzen Vollbart und sah sich um. Wo ist Anna Boje?

An einem nebligen Oktoberabend kam die Mutter nach der Küche und sagte: »Du, Steuermann Lau ging eben vorüber und klopfte ans Fenster und fragte, wo du wärst, er habe dich so lange nicht gesehen.«

Sie fuhr von ihrer Arbeit auf und sagte zornig: »Was geht Lau mich an?«

»Kind, was ist denn?« sagte die Mutter bekümmert. »Das ist doch nichts Unrechtes?«

»Er hat sich bisher nicht um mich gekümmert. Was will er von mir?«

Als sie aber nach dem Abendbrot aufgewaschen hatte, trieb eine Neugier, ein heißer, seliger Wunsch, ein unruhiger Zorn sie in den dunkelnden Abend hinaus. Sie ging aus der Küchentür nach dem Heckenweg und am langen Haus den Deich hinauf.

Da kam er hinter ihr her.

»Sieh da, Anna Boje!« sagte er in seiner alten, ruhigen, sichern Weise ... »Das trifft sich ja gut. Ich wollte bis nach der Bülk gehen, ob der Ewer noch einkommt.«

Sie ging mit ihm, und er fragte nach Piet und Hett, und sie sagte, wie seine Mutter sich wohl freue, daß er nun in Hilligenlei wäre, und wie ihre Mutter wünschte, daß Piet auch einmal auf dem Lande fest werde. Er fragte sie, was sie den Tag über triebe. Da die Mutter den ganzen Tag an der Maschine säße, hätte sie wohl Arbeit genug. Sie sagte, daß sie sich nach dem Fest nach einer Stellung umsehen wolle, am liebsten in Hamburg. Bei solch vorsichtiger Unterhaltung waren sie bis an die Bülk gekommen und wieder umgekehrt. Das Gespräch stockte.

»Wenn es dir recht ist,« sagte er – er versuchte, es leichthin zu sagen; es gelang ihm aber nicht ganz; seine Stimme hatte einen andern Ton ... »Wenn es dir recht ist, möchte ich einmal wieder so mit dir zusammen kommen. Willst du?«

Ihr schlug das Herz bis an den Hals ... dann sagte sie langsam und mit stockender Stimme: »Warum hast du dich in all der Zeit gar nicht um mich gekümmert? Auch damals in Hamburg kamst du nicht.«

»Damals in Hamburg konnte ich nicht kommen, und nachher habe ich immer an mein Geschäft gedacht. Ich bin ein Mensch, der guten Grund unter den Füßen haben muß,« sagte er stolz und ruhig, »ehe er andere Dinge betreibt.«

»Ja,« sagte sie zornig, »so bist du ... so bist du immer gewesen ... ein Aal oder ein Ankertau oder ein Maissack ist dir immer wichtiger gewesen als ein Menschenleben.«

»Das ist nicht so,« sagte er ein wenig zornig, »das kannst du nicht behaupten.«

»Sonst hättest du mir in all der Zeit ein freundliches Wort gegönnt.«

»Es ist schade,« sagte er, »daß du so empfindlich bist ... deine eigene Mutter klagt auch darüber.«

»Ich bin nicht empfindlich,« sagte sie zornig. »Alle Menschen tun mir unrecht damit. Natürlich du auch! Du zu allererst! Schon als ich ein kleines Mädchen war, am Bollwerk ... warst du hart mit mir. Du bist hochmütig. Du – du bist es. Du willst mich immer unterdrücken. Du willst mir immer zeigen: du bist was und hast was, und ich bin nichts und habe nichts und muß mich freuen, wenn der Herr kommt und ein Wort mit mir redet.«

Er lachte ärgerlich auf und wußte nicht gleich, was er sagen sollte. Sie ging noch ein paar Schritte neben ihm; dann ging sie rascher und verschwand im Dunkeln.

Sie ging nach Haus und ging gleich in ihre Kammer und ging zu Bett und wühlte sich immer tiefer in Zorn und Verzweiflung hinein.

Der Westwind stieß leise gegen Tür und Fenster und sie lag und horchte. Dann erhob sie sich wieder halb und löste mit fliegenden Händen ihre hellen Flechten und warf sich mit wilder Bewegung wieder hin und drückte den Kopf hinten über in die Wellen ihres Haares ... »Käme er doch! ... daß er mich einmal so sähe ... und sich kränkte und quälte ... Ich weiß, daß ich schön bin und ... ich weiß, daß ich einen Mann selig machen kann.«

Der Westwind stieß leise gegen die Tür.

Nun nicht der Westwind. Der Riegel klirrte.

»Du ... Anna,« sagte er ruhig ... »ich wollte gern Freundschaft mit dir haben ... du, Anna ... sag ein gutes Wort.«

Sie lag unbeweglich und zog nur ein wenig die weißen Schultern ... »Was soll ich sagen? Ich bin hochmütig, ganz sinnlos empfindlich. Ich weiß nicht einmal, daß ich eine arme Lehrerstochter bin, was doch alle Leute wissen.«

»Du bist wirr,« sagte er und stand auf. »Ich kann ja nicht mit dir reden.«

Er ging.

Am andern Morgen kam die Mutter in die Küche und sah ihr verschlossenes und verstörtes Gesicht und sagte bekümmert: »Kannst du dich nicht mit Pe Ontjes vertragen? Er ist ein so braver, ernster Mensch ... Kind! Kind! Verhärte dein Herz nicht. Nachher zerbricht es dir wie Glas und du jammerst vergebens.«

Sie riß sich aus finstern Träumen in die Höhe und sagte: »Sei still! Ich kann es nicht ertragen.«

Am Nachmittag, da die Mutter ganz allein an der Maschine saß, kam Pe Ontjes, setzte sich neben sie und sagte: »Du, Tante Boje! Ich und Anna haben uns gern ... aber wir können uns durchaus nicht einig werden.«

»Pe Ontjes,« sagte sie, »du kannst mir glauben, wie gern ich wollte, daß ihr einig würdet. Sei ihr nicht böse ... du hättest in der ganzen Zeit, daß du hier bist, wohl einmal nach ihr fragen können. Sie hat dich immer lieb gehabt.«

»Ja ...« sagte er sinnend ... dann hob er den Kopf und sagte: »Ich habe gedacht – ich weiß keinen andern Rat – wir beide müssen wie zwei störrische Kälber zusammengejocht werden, damit wir gezwungen sind, uns ordentlich auszusprechen, weißt du ... so sechs bis zehn Stunden. Man kann sich doch nicht sechs bis zehn Stunden lang zanken? Da wird man doch ruhig und beredet die Sache in Ordentlichkeit.«

Helle Boje schüttelte den Kopf: »Ich weiß nicht,« sagte sie, »wie du das anfangen willst.«

»Ich habe mir gedacht, ich könnte heute abend den alten Ewer selbst nach Cuxhaven bringen, wohin ich ihn verkauft habe. Da sollte sie mitfahren.«

Helle Boje schüttelte wieder traurig den Kopf. »Ich glaube, sie tut es nicht,« sagte sie.

»Ja, dann will ich dir was sagen,« sagte er ... »Dann schicke sie heut abend so um neun mit einem Wäschepaket für Hett oder irgend etwas für Piet – die Goodefroo kommt ja in diesen Tagen in Hamburg an – nach dem Bollwerk. Willst du das?«

»Ich will sehen, was ich tun kann,« sagte sie. »Geh man ... ich will sehen, was ich tu'.«

Anna war zu ihrem Glück an diesem Tag in Freestedt bei Anna Martens gewesen, die immer ihre einzige Freundin war, und hatte ihr gebeichtet, was sie mit Steuermann Lau erlebt hatte. Sie hatte wohl die heimliche Hoffnung, sich Schelte zu holen, und hatte sie auch bekommen. Anna Martens hatte gesagt: »Ich will dir dreierlei sagen, Anna. Erstens: Wenn er dich zu seiner Frau machen will, so kann er nicht schlecht von deinem Charakter denken. Zweitens: Du bist hochmütig und empfindlich, Anna Boje. Drittens: Wenn du dich nicht mit ihm verträgst, wirst du zu Eis; denn du hast ihn schrecklich lieb.« Mit diesen klaren Bekenntnissen von Anna Martens in der Seele kam Anna Boje nach Abendbrot, so um acht, nach Haus.

Da sagte ihr die Mutter: »Du, Pe Ontjes Lau war hier. Er fährt heut abend nach neun mit einem Ewer nach Cuxhaven; er sagte, er wolle gern etwas mitnehmen, wenn ich für die Jungen etwas hätte ... Da habe ich für Hett ein paar Kuchen eingepackt – er mag sie so gern – Pe Ontjes sagte: er möchte gern, daß du das Paket selbst an Bord brächtest ... Ich glaube, er nähme dich am liebsten mit nach Cuxhaven.« Weiter sagte sie nichts und machte die Tür leise zu und dachte: ›So, nun mag sie tun, was sie will; und Gott helfe ihr.‹

Anna ging in ihre Kammer und setzte sich auf den Bettrand und atmete hoch auf. »Ich will mit ihm fahren! ... Ich will mit ihm fahren! Wie freue ich mich, daß er mir nicht böse ist! Wie freue ich mich! Ist er lieb mit mir, will ich mich schrecklich freuen; ich will mich so freuen, daß er sich wundern soll. Wenn ich aber sehe, daß es nichts mit uns werden kann, dann habe ich in der Welt nichts mehr zu suchen.«

Sie stand auf und sah sich um und dachte: ›Ich will mich waschen.‹

Und sie holte die niedrige Holzbütte, die an der Hauswand lehnte, trug sie in ihre Kammer und goß drei Eimer Wasser hinein, schloß die Tür und verhängte die Fenster und legte alle Kleider ab und kniete vor der Bütte und fing mit ernstem, stillem Gesicht an, sich zu waschen.

Und wusch ihren Hals und die schönen Schultern und dachte: ›Da lag am Dänensand der Schlick, mit dem ich vor seinen Augen geworfen wurde ... Damals war ich ein Kind. Was ist aus meinen Schultern geworden und aus meiner Seele? Wird Steuermann Lau seinen Arm um euch legen ... der große, schreckliche Junge? ... ‹ Und sie wusch ihre vollen weißen Arme und sagte: »Mit wem wollt ihr am liebsten spielen: mit Wasserwellen oder mit Pe Ontjes Lau? ... Mit Pe Ontjes Lau ... sicher.« Und als sie sich da hinein dachte, wie er wohl sein würde, ob er wohl so ruhig und kühl bleiben würde, so sicher, so von oben herab, zog ein leises, kluges Lächeln über ihr Gesicht. So fährt über den hohen, dunkeln Tannenwald eine lichte Wolke und wirft von oben her einen Schein in dunkeln Raum, daß er ein wenig heller wird ... Und sie wusch den starken, weichen Leib, der ohne Flecken und Zerrungen war; denn sie hatte ihn niemals eingeschnürt; und dachte trotzig: ›Den hat keiner gesehen, seit meine Mutter mich zum letztenmal gebadet hat. Nachher badete ich an der Biegung der Au, immer ganz allein. Keiner hat ihn seitdem gesehen ... nein, keiner ... ‹ Und fuhr in ihrer Seele auf im Zorn: ›Was geht es euch an? ... was geht es Pe Ontjes Lau an? ... wem bin ich Rechenschaft schuldig über das, was ich mit meinem Leib gemacht habe? ... Ich, ein freier, gesunder, erwachsener Mensch? ... Habe ich ihn erniedrigt? Habe ich ihn schmutzig gemacht? Habe ich etwas Unnatürliches oder Unreines getan? Die Menschen verlangten von mir Unnatürliches: daß ich einsam lebte und ohne Hoffnung. Ich dachte: mein Lebelang. Das wurde mir schwer ... Da kam er ... Ich bin darob guter Dinge ... ‹ Und sie wusch ihre starken, graden Beine bis zu den Knien und sah sinnend auf eine blanke, weiße Narbe, welche eben oberhalb des Knies auf der Wölbung der Innenseite war. Sie hatte einst, als sie so zwölf oder dreizehn Jahre war, eine kindliche Zuneigung zu einem schmucken, fröhlichen Knecht gehabt, der bei Nachbar Martens diente. Wenn er mit dem Gespann auf dem Felde arbeitete, hatte sie den Jungen vom Pferd gejagt und sich darauf gesetzt, rittlings, nach Jungenweise. Eines Tages, in der Weizenernte, hatte die vierjährige Stute, auf der sie saß, nicht anziehen wollen. Er, in Eile und Zorn – es stand ein Gewitter überm Meer – hatte sie mit der Forke schlagen wollen. In dem Augenblick sprang die Stute zur Seite und eine Zinke der Forke drang durch Kleid und Hose ins Bein des Kindes. Da erschrak er sehr und besah die Stelle und sog das Blut mit dem Munde aus und holte Wasser aus dem Graben und schüttelte den Kopf und sagte: »Mien lüttje Deern ... mien lüttje Deern.« Als die Mutter am Sonnabendabend an der Hose das Blut entdeckte und nachfragte, da sagte sie, sie wäre auf einen Nagel gefallen und verriet ihn nicht. Sie sah sinnend auf die Narbe und dachte mit alter Zuneigung an ihn und dachte: ›Keinem Menschen habe ich diese kleine köstliche Geschichte erzählt. Wie ist das schön, wenn man mit einem guten Menschen traute Freundschaft hat.‹ Ihr Gesicht wurde weicher und ihre Augen leuchteten von einem innern Schein: ›Wie wird das lieb, wenn ich so vertraut mit ihm bin, liege bei ihm und zeige ihm die Narbe und er streichelt sie und lacht und neckt mich. Wie wunderbar wird das ... ‹ Zuletzt wusch sie ihre Füße. Fest bogen sie sich an schlanken Knöcheln und waren weder zu klein noch zu groß. ›Als ich Kind war,‹ dachte sie, ›lieft ihr weit ins Watt hinaus; und zuweilen besahen wir den Abdruck, den ihr machtet: jede Biegung am Fuß und an jedem Zeh war im weichen Wattboden genau und zierlich abgedrückt. Damals lieft ihr zu allerlei törichter Kinderfreude; damals lieft ihr weg von Pe Ontjes. Jetzt lauft ihr wieder hin zu ihm. Ihr armen Läufer, müßt tun, was ich will.‹ Sie lachte leise und sagte zögernd und eine Welle von Blut schoß ihr ins Gesicht: »Ihr sollt es nicht weiter erzählen ... ich laufe gern zu Pe Ontjes ... ich ... ich glaube, ich bin ein überglücklicher Mensch.«

Sie ging an die Kommode, kniete davor und fing an, ganz leise zu singen, falsch; denn die Bojes können alle nicht singen; aber es klang ihr selbst gut. Und nahm erst das Unterhemd von leichter, weißer Wolle und zog es an. Dann nahm sie das Leinenhemd heraus, das zu unterst lag. Ihre Mutter hatte es ihr vor drei Jahren, als sie einundzwanzig wurde, aus feinem Leinen mit der Hand genäht, hatte auch eine ganz schmale, feine Spitze für den Halsausschnitt aus Zwirn gemacht und hatte kein Wort gesagt. Als Anna Boje eines Tages ihre Kommode ordnete, fand sie das Hemd. Sie hatte gleich gewußt, wozu die Mutter es gemacht hatte, und hatte es still hingelegt, ganz zu unterst und hatte kein Wort darüber gesagt. Nun nahm sie es und zog es kniend an und knöpfte es über der linken Schulter zu und richtete sich auf und glättete es über der Brust ... Dann gefiel es ihr, erst das Haar zu machen. Sie löste es vom Kopf, öffnete die Flechten und ließ es fallen: es sah aus wie hellfarbenes Schilf; und fing an, es zu kämmen und zu flechten. Dabei sah sie immerfort scharf in den Spiegel, als freute sie sich des Spieles der Hände und beobachtete es, doch nicht ohne Mißtrauen. So freut sich die Füchsin und beobachtet und beurteilt mit scharfen, ruhigen Augen das Spiel ihrer Kinder in der Morgenfrühe. Nun wand sie die Flechten um den hinteren Kopf; nun schob sie das Haar zu beiden Seiten über den Schläfen ein wenig nach vorn; nun wiegte sie zweimal den Kopf: Fertig ... Nun zog sie das Leibchen an von weißem Leinen; es schmiegte sich genau um die Schultern und den Leib; dann zog sie die Beinkleider an, zwei Paar, das erste von dünnem, weißem Leinen, das andere, dunkelblau, von leichtem, warmem Tuch – denn es war kaltes Novemberwetter –; und knöpfte sie am Leibchen fest. Darüber zog sie gleich das Kleid. Es war das einzige, schöne Kleid, das sie besaß: blau war es, mit ein wenig Falten bis zur Höhe der Brust, sonst ganz schlicht, Ober- und Unterkleid am Gürtel vereinigt. Das Kleid war aber so lose, daß, wenn sie die Schultern hob, das ganze Kleid samt den Unterkleidern am Körper in die Höhe ging. Dann setzte sie den braunen Filzhut auf, von Mittelgröße, mit leicht gebogenem Rand, mit braunem Samtband schlicht geschmückt, und zog die graue, lose Jacke an ... Dann nahm sie noch den großen Mantel, den Anna Martens in ihrer Kammer hatte hängen lassen; ihr Mann trug ihn; Anna Martens zog ihn zuweilen an, wenn sie in Nässe oder Kälte zu Wagen nach Hilligenlei kam. Nun nahm Anna ihn, zog ihn an und sagte lächelnd: »So, Anna Martens, wenn ich wiederkomme, kannst du dich vor deinen Rock hinstellen und kannst ihn fragen: ›Erzähl' mir, was hast du erlebt?‹«

Nun stand sie, schön und stark anzusehen, an der Tür, sah noch einmal zurück, ging hinaus, nahm das Paket, das auf dem Tische lag, und rief laut auf der Diele: »Ich geh'!« und ging hinaus ...

Als sie am Bollwerk ankam, stand da im Dunkeln ein ziemlich langer Mensch in Seemannstracht, einen Ölrock im Arm und wartete. Sie meinte, es wäre Pe Ontjes, und sagte schon von fern: »Ich komme mit dem Paket!«

Da war es Kai Jans.

»Wo kommst du her?« fragte sie.

»Von Berlin,« sagte er. »Ich bin gestern angekommen ... Ich will mal mit Pe Ontjes, meinem alten Steuermann, nach Cuxhaven fahren. Wie soll ich mir sonst die Zeit vertreiben?«

»Komm,« sagte sie, »hier ist ein Paket für Hett, bring es hinüber. Der ist nun auch in Hamburg.«

Er hob und schob mit den Schultern und sagte wie ein verzogenes Kind: »Das mag ich nicht ... das tu' man selbst ... komm ... ich will dich an Bord bringen.«

»Du mußt mich gleich wieder zurückbringen.«

»Natürlich,« sagte er und griff nach den Riemen. »Was denkst du, Kind? Ich bin doch kein Strandräuber wie Wieben Peters ...«

Da freute sie sich, daß die beiden großen Menschen so viel aus ihr machten und ihretwegen so munter logen, und sie sagte: »Du hast Heinke geschrieben, daß du nicht fleißig bist ... da in Berlin. Auch seist du kein Student. Was bist du denn?«

»Ich? ... ich bin ein Lebenfresser,« sagte er.

»Was ist das?« fragte sie spöttisch.

»Ich habe seit drei Jahren alles Grübeln über die Schulter geschmissen,« sagte er, »und lebe und sehe ... Was denkst du: das ist doch eine große Sache: von dem engen Schiff und von den Büchern in Hilligenlei weg, hinaus in die große, bunte Welt? Ich mache Augen wie Teetassen.«

»Na?« sagte sie. »Und die Arbeit?«

»Du!« sagte er ... »ich habe noch nicht viel getan ... aber, wenn ich mich dransetze, dann schafft es auch. Ich will das Examen schon zur rechten Zeit machen; da sei nicht bange ... Das tu' ich allein schon wegen der Alten,« sagte er ernster.

»Ich weiß nicht,« sagte sie, »mir scheint, du bist zum Pastor nicht geeignet, du bist viel zu hellköpfig und zu munter dazu.«

»Das verstehst du nicht, Kind ...« sagte er. »Es werden jetzt muntere Leute verlangt.«

»Von wem?«

»Von Gott.«

»Ach ... was du redest.«

»So ... nun gib mir die Hand! Der große, wilde Steuermann ist noch nicht da.«

Aber da kam er von der Back.

Da zog sie die Hand zurück, die sie Kai Jans gereicht hatte, und sagte mit ihrer klaren Stimme: »Wollt ihr beide mir versprechen, daß ihr freundlich und höflich mit mir sein wollt ... so will ich mit euch nach Cuxhaven fahren.«

»Deern!« sagte Pe Ontjes Lau ... »komm rasch her! ... Bestmann: das Großsegel hoch ...«

Kai Jans ging rasch nach vorn.

»Anna!« sagte Pe Ontjes leise ... »das ist lieb von dir! ... Nun zieh den Mantel gleich an; es ist kühl genug und gibt noch Regen dazu. Bist du warm angezogen? Ich habe Mutters Umschlagetücher mitgenommen ...« Er schloß ihr den Mantel vorn und faßte sie an beiden Armen und drückte sie auf den Sitz neben dem Ruder. »So ... da bleibst du sitzen und hältst einen Augenblick das Ruder.«

Er ging zu Kai Jans und dem Jungen und sie brachten die Segel glücklich hoch. Das Boot ging langsam in den Strom.

Da kam er wieder zu ihr. Kai Jans und der Junge blieben vorn.

»Die Goodefroo ist angemeldet,« sagte er und faßte die Pinne ... »Sie kommt heute oder morgen in die Elbe.«

»O, wie schön,« sagte sie. »Vielleicht kann ich ihn treffen und mit ihm nach Hause zurückfahren ...«

»Und mit mir,« sagte er.

»Ja,« sagte sie nicht unfreundlich, aber ihr Mund zitterte ... »wenn du mit so einem Menschen, wie ich bin, fahren magst?«

Er legte seine Hand rasch auf ihre Hände, die im Schoß lagen und drückte sie und ließ sie wieder ... »Ich habe Vater gesagt, daß er deiner Mutter heute abend noch Nachricht wegen der Goodefroo schickt.«

»Das ist freundlich von dir ... nein ... wirklich.«

»Sag mal ... ist Heinke dir auch innerlich ähnlich? Äußerlich wird sie ja wie du; bloß daß Haar und Augen ein klein wenig dunkler sind ... Eine schmucke, schlanke Deern! Sie schreibt sich mit Kai Jans. Das fängt früh an ...«

»Es ist Spielerei,« sagte sie ... »Kai Jans hat immer soviel Interesse an dem einzelnen Menschen. Das ist es. Sie ist eine kluge Deern. Darum verkehrt er mit ihr ... Ich glaube übrigens: dein Bestmann ist nicht recht fleißig ...«

»Ach, das hat keine Not ... Ihr habt ein wenig Sorge um Hett, nicht?«

»Nein,« sagte sie kühl, »der macht sich gut.«

Sie hatten alle Sorge um Hett, die Mutter, Anna, Piet, Heinke auch; aber sie waren viel zu stolz, es andern Leuten zu gestehen und nun gar dem großen Pe Ontjes.

»So!« sagte er rasch. »Man kann es sich ja denken! Wie sollte der Junge nicht ordentlich sein? Einer, der solche Eltern und Geschwister hat? Ihr seid alle großartige Kerle. Aber die Schönste und Beste von den Bojekindern ist die Älteste.«

Sie schwieg.

»Wenn wir nun auf Pe Ontjes Lau kommen,« sagte er zögernd, »so hält er sich durchaus für einen ordentlichen und tüchtigen Menschen; er ist aber der Meinung, daß er noch ordentlicher, tüchtiger und klüger würde, wenn du als seine Frau neben ihm lebtest. So ist es.«

»Pe Ontjes ...« sagte sie mit fliegender Hast, »ich wollte nichts lieber auf der ganzen Welt, als daß du gut mit mir wärst.«

»Dann gib doch dein Herz her,« sagte er laut ... und griff nach ihren Händen, die seine Hand suchten.

»Ich habe dich so lieb,« sagte sie, »das kannst du glauben.«

»Gott sei Dank,« sagte er und hielt ihre Hand fest.

»Pe Ontjes ... wir sind aber so arm.«

»Ach,« sagte er ... »ja! ... ich heirate deine Tische und Stühle, was? Menschenkind ... deine Kraft will ich und deine hellen Augen ... Ich habe heute das Haus von Nachbar Reimer gekauft. Groß ist es nicht, aber es ist fest und gemütlich: da hausen wir zusammen. Meine Mutter stiftet einen Tisch, und deine Mutter ein Bett. Fertig. Wird das ein Leben mit dir zusammen!«

»Wenn ich jemanden lieb habe,« sagte sie leise, »habe ich ihn ganz schrecklich heiß lieb, und denke nur an ihn und seine Sachen, und kümmere mich um die ganze Welt nicht.« Sie hob ihr Gesicht und sah ihn an ... »Ich habe dich schon lange lieb,« sagte sie leise.

»Ich dich auch, Anna,« sagte er und legte den freien Arm um ihren Nacken.

»Du ... Kai Jans sieht es.«

»Nein, der hat gesagt, daß er hinterm Großsegel sitzen will, bis ich ihn rufe ... Kai, komm mal her!«

Kai Jans stapfte von der Back herunter.

»Du ... wir sind Brautleute, und die Hochzeit ist in spätestens sechs Wochen.«

»Na!« sagte Kai Jans ... »das freut mich. Nun gibt es eine gemütliche Fahrt.« Er gab Anna die Hand: »Wirklich, es freut mich sehr, das mußt du glauben ...« Er dachte an den Maiabend vor drei Jahren.

»Vielen Dank, Kai.«

»Wir haben den Dänensand hinter uns ...,« er deutete mit dem Arm nach dem dunklen Streifen im Norden. »Sieh da, Anna ... da nanntest du ihn den Aalfreter ... und nun? ... So ändert sich der Geschmack.«

»O Gott!« sagte sie, »daran habe ich nicht gedacht! ... Nein!« sagte sie leise und lachte: »Ich kann dich niemals küssen;« und griff übermütig nach seiner Hand und preßte sie.

Sie glitten am Feuerschiff vorüber ... Ein kurzes Wort klang hin und her durch die Nacht.

Als der Schein seines Feuers hinter ihnen verschwunden war, sahen sie das Feuer von Helgoland vor sich. In stolzen Bogen flog es über das weite Meer. In schwerem Auf- und Niederwogen trieb Wind und Flut sie in die offene See.

»Nun fahren wir von heilig Land zu heilig Land,« sagte Kai Jans. »Helgoland und Hilligenlei, das ist dasselbe Wort.«

Er wollte wieder nach vorne gehen.

»Bleib bei uns, Kai!« sagte sie.

»Kind,« sagte er bedenklich ... »ich störe ja nur.«

»Gar nicht! ... komm, setz dich hierher zu uns. Bis Helgoland habt ihr gar keine Arbeit ... Komm, wenn du nicht schlafen willst, setz dich zu uns und schnack ein wenig.«

»Eine Weile,« sagte er und setzte sich neben Anna, zog den Ölrock hoch, breitete ihn aus, daß der Wind zwischen ihm und ihr nicht durchfahren konnte und schwieg.

»Nun?« sagte Pe Ontjes.

»Ja ...« sagte Kai Jans, »ich weiß nicht ... ich kann immer nur über Dinge reden, die mir sehr wichtig sind.«

»Also redest du davon!« sagte Anna. »Von deinem Examen, wahrscheinlich.«

Er lachte. »Nein,« sagte er, »von Wieben Peters.«

»Ist das eine wichtige Sache?« sagte Pe Ontjes, »die Geschichte von Wieben Peters?«

»Die Geschichte von Wieben Peters,« sagte Anna, »kennen wir alle. Jedes Hilligenleier Kind kennt sie.«

»Nein,« sagte er nachdenklich, »keiner kennt sie. Ihr glaubt nicht, wie ich darüber nachgedacht habe, bis ich die Wahrheit herausbekommen habe.«

»Nun,« sagte Pe Ontjes, »erzähl also die Geschichte von Wieben Peters.«


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