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Siebentes Kapitel


Der Herbst kam. Um den Eschenwinkel war es still. Die Ausgewanderten schrieben spärliche Briefe; die in der Heimat gebliebenen Männer waren nach Flackelholm gezogen. Sonnabends, wenn die Flut es zuließ, kamen sie heim zu Frau und Kind.

Auf Flackelholm graste eine kleine Herde Schafe, die Gesundheit des Grases zu erproben; und eine Schar von Gänsen zog alle Morgen von der Düne herunter, Antjes Schützlinge und Stolz. Vier Pferde fanden reichlich Gras und behielten bei der Arbeit ihr gutes Aussehen.

Das Boot des rotköpfigen Schiffers lag im Dieksander Gatt. Er sorgte für Fische und andere Nahrung, die er von Büsen herüber holte. Er zeigte sich als tüchtiger Mann, der nüchtern war und Wort hielt; die Metzer Reisigbündel, so naß sie waren, hatten seinem Charakter nicht geschadet.

Fünfzehn Mann, die von Jugend auf die Spatenarbeit kannten, standen drei Monate lang im Maifeld und hoben die verschlammten Gräben aus, die Andrees' Vater vor zwanzig Jahren gezogen hatte, und machten neue. Sie machten die Gräben zwei Meter breit und ein Viertelmeter tief und warfen die Erde in der Mitte des Stücks zu einem breiten Wall auf; nun konnte die Flut den Schlick tief ins grüne Land hineintragen. Und wenn die Flut dreimal den Graben hin- und zurückgekrochen war, dann war vom Spatenstich wenig mehr zu sehen, so viel weiche, fruchtbare Erde hatte das Meerwasser zurückgelassen.

Ein königlicher Regierungsrat war auf Strandigers Bitte herübergekommen, hatte drei Tage lang auf Flut und Ebbe acht gegeben, hatte bis an die Kniee im Schlick gestanden und in der Hütte Linien, Gräben, Profile und Pläne niedergezeichnet. Er hatte sich den Schweiß von der Stirne gewischt und war wieder hinausgegangen, im Regenwetter, Reimer Witts alten »Wasserdichten« um die Schulter, war abends heimgekehrt und hatte Butt und Pellkartoffeln gegessen und eingehauen wie ein Drescher. Die Leute wunderten und freuten sich, daß der gelehrte und feine Mann so gemütlich und natürlich war; sie wurden zutraulich und wagten, ihn ungefragt auf dies und auf das aufmerksam zu machen; so erfuhr und bewirkte er mehr und war ein besserer Vertreter seines Königs als jener Assessor, der am Biertisch bedauerte, daß Geburt und Stellung ihn hinderten, sich dem Volk zu nähern. Er war am Strand aufgewachsen, gleich wie Andrees, und hatte über dem Schreibwerk das Spatenwerk nicht vergessen. Als er fortging, nickte er Andrees zu: »Machen Sie Ihrem Namen Ehre!« sagte er. »Wenn ich nicht über die Köge und Deiche und über die Gräben und Buhnen gesetzt wäre, würde ich Sie um ihren Besitz und Ihren Wohnort beneiden.«


Auf den weiten, fruchtbaren Feldern des Strandigerhofs wurden die Hackfrüchte geerntet. Es war eine gute Ernte; aber doch war Franz Strandiger nicht im stande, die ganze Pachtsumme aufzubringen; denn die Korn- und Viehpreise waren ungünstig geworden. Allerheiligen kam näher, und er hatte nicht das nötige Geld. Und wenn er den vollen Ertrag der ganzen Ernte verwendete, fehlte doch noch Geld; er durfte nicht mit leeren Händen in den Winter hineingehen.

Da gab es böse Tage für die Dienstleute und für den fremden Arbeitervogt; und manch derbes plattdeutsches Wort und fremder, polnischer Fluch schallte über den weiten Hofplatz, hinauf zu der Blinden und zu dem stillen Mädchen, das an ihrer Seite saß. Den Pächter aber trieb seine Unruhe aus der Schreibstube und von dem Getriebe auf dem Hofe weg auf einsame Wege; und bald ward es ihm eine Gewohnheit, daß er, wenn die Flut weglief, weite Wege ins Watt hineinmachte. Und wie es bei seiner Natur begreiflich ist, währte es nicht lange, da hatte sich diese weite, furchtbare Einsamkeit in sein Herz geschmeichelt; das wilde Watt hatte es seinem stolzen Herzen angethan. Stundenlang wanderte er, die Büchse im Arm, an den Wasserläufen entlang, durch glitzernde Wasserspiegel und weit sich dehnende Muschelbänke, brachte auch manche Beute heim, bald einen seltenen Seevogel für Lehrer Haller, bald eine Ente für die Küche, einigemal einen Seehund, den er watend und schwimmend, mit Gefahr des Lebens, ans Ufer geholt hatte, nachdem seine Kugel ihn getroffen. Und er ward ein genauer Kenner des Watts bis dahin, wo die Kreuzbake steht.

Wenn er so wanderte, verließen ihn allmählich die Sorgen um Geld und Vorwärtskommen, um Zinszahlen und Pachttermin. Seine Augen wurden ruhiger und bekamen etwas Stilles und Sinnendes, und bald waren seine Gedanken bei Ingeborg Landt, der er täglich eine Stunde lang gegenüber saß, wenn er der Blinden, wie er bei sich selbst sagte, »den Verwaltungsbericht ablegte«.

Franz Strandiger hatte bisher nicht erfahren, was eine innige, herzliche Liebe bedeute. Als Andrees und Heim Heiderieter damals in jugendlicher, aber echter Schwärmerei auf die heranwachsenden Mädchen blickten, Heim mit lauter, Andrees mit wortkarger Verehrung, hatte er nur Lachen und Spott gehabt. Als seine späteren Bekannten, bald dieser, bald jener, sich zu Lebensgefährten Mädchen erwählten, die weder durch ihre Erscheinung, noch durch ihren Geist, noch durch ihr Vermögen hervorragten und diesen Schritt mit dem kurzen Satz: »ich liebe sie« erklärten, dann schüttelte er als über eine ihm unverständliche Sache den Kopf. So schien er nach seiner Charakteranlage unfähig, jemals jene aus sinnlicher und seelischer Zuneigung so eigentümlich und so innig zusammengesetzte Liebe zu fühlen, welche normalen, unverdorbenen Männern eigen ist.

Aber in diesem eben Gesagten liegt die Erklärung der auffallenden Thatsache, von der die Rede ist. Franz Strandiger war durch Erziehung und Umgang in seiner sittlichen Entwickelung aufgehalten, unterdrückt und verkümmert worden. In seinen Kindertagen war ihm immer wieder gesagt worden, daß die nüchterne Zweckmäßigkeit die einzige rechte Führerin durchs Leben sei. Er hatte dann von seinem sechzehnten Lebensjahr an in Kreisen verkehrt, zuerst in der Stadt, zuletzt auf einigen großen Gütern, die sittlich verderbt waren. So war es dahin gekommen, daß sein Blick abgestumpft wurde, daß er auch an der Frau nicht das Ideale und das Sittliche sah, sondern nur das Sinnliche und das mehr oder minder wertvolle goldene Behänge. Nicht die Anlage seines Charakters hinderte ihn, eine keusche Liebe zu hegen – das gute, treue Blut der Strandiger war auch in ihm –, sondern eine seelentötende Erziehung und eine auf diesem Boden gewachsene innere Unreinigkeit.

Da trat Maria Landt vor seine Augen; er beschäftigte sich mit ihr. Sie wurde von ihm bestimmt, die Helferin bei einer Rechnung zu sein. Sie trat mit der Angst und mit dem Vertrauen eines Kindes dicht an ihn heran. Er fühlte zum erstenmal die Bedeutung der sittlichen Persönlichkeit, die Stärke der christlichen Weltanschauung, die Kraft einer reinen Seele. Es stieg etwas Neues vor ihm auf: Barmherzigkeit und Reinheit traten in der freundlichsten Gestalt zu ihm, sahen ihn bittend mit zwei dunklen Augen an und sagten ihm, daß sie bereit wären, viel für die Brüder zu thun. Und sie that viel! Wie viel, das hat kein Mensch erfahren. Wie in eine andere Welt wurde sie von ihm gerissen. Es blieb als ihr Werk an seiner Seele eine Erschütterung alter, harter Lebensgrundsätze und eine gewisse Neigung, den Versuch zu machen, mit weichern, tiefern Augen auf die Umgebung und in das Leben und in die Welt zu sehen.

Nun war Ingeborg Landt nach Strandigerhof gekommen. Sie war nach jenem schrecklichen, trübseligen Märztag nach Flackelholm gegangen, ein unliebenswürdiges, unruhiges Mädchen, das dennoch immer sein Interesse erregt hatte; sie war im Spätsommer wieder gekommen, eine stille, weiche, frauenhafte Erscheinung, um die wie ein zartes Gewebe ein trauriges, sinniges Geheimnis lag, das aus ihren glänzenden Augen heraussah und den, der in diese Augen hineinsah, mit heißer Neugier erfüllte, zu erfahren, was so weich und schön verhüllt war. Franz Strandiger sah mit seinen neuen Augen auf diese neue Erscheinung. Was ihm, dem Blinden, damals an Maria Achtung abgezwungen hatte, was sein warmes Interesse erregt hatte: die sittliche, reine, warmherzige Persönlichkeit, das sah er jetzt in einem andern Bild, in einem viel schönern Bild und im schönsten Gewand, nämlich im Trauerkleid, mit stillen, einsamen Augen, schweigsam und dadurch doppelt schön. Und er sah das täglich, stundenlang, wenn er mit der alten Frau plauderte, wenn er ihr »den Verwaltungsbericht abstattete«. In diesen Stunden, während er mit ehrlichen, freundlichen Worten von der Arbeit des Hofes, von der Zukunft Flackelholms und von seinen Gängen ins Watt erzählte, sah er sie vor sich sitzen, den blonden Kopf über die Nadel beugend, nur zuweilen die strahlenden Augen hebend. In diesen Stunden wurde Franz Strandigers erste Liebe geboren.

Sie kam mit all ihrer Not und ihrer Freude. Und sie brachte mehr Not als Freude! Freilich, daran dachte er nicht, daß Ingeborg Landt Andrees nahe stand. Andrees hatte sich ja immer zu Maria gehalten; und wenn Ingeborg mit ihm nach Flackelholm gegangen war, so war sie als mit einem kranken Bruder gegangen. Auch das quälte ihn nicht, daß sie zurückhaltend und scheu war, daß nur dann ihre Augen ein wenig freundlich auf ihn sahen, wenn er von seinem waghalsigen Gang in den Priel hinter dem Seehund her erzählte. War es nicht von jeher Weise der Jungfrauen, daß sie dem zuneigen, dem sie Abneigung zeigen?

Die alte Hobooken ging spähenden Auges durch Küche und Stall und Scheune. Die Leute wichen ihr aus und knurrten sie an. Im Frühling hatte sie die Aussetzigen vom Hof gejagt; aber da hatte Franz ein kurzes Verbot ergehen lassen, daß sie sich nicht in seine Sachen mischen sollte. Da widmete sie sich mit aller Schärfe und Energie den inneren Angelegenheiten.

Sie hatte die Kinder des Dorfes eines Nachmittags aufgefordert, die Johannis- und Stachelbeeren zu pflücken, die in der Stadt verkauft werden sollten; denn alles mußte zu Geld gemacht werden. Da verlangte sie von den Kindern, daß sie ein Lied sangen. Die sangen: »Ich habe mein Roß verloren, mein apfelgraues Roß« und: »Lieb' Vaterland, magst ruhig sein.« Das ging eine Weile gut, sie pflückten und sangen dazu. Da sagte der kleine Bernhard Engel, der mit dem krausen Kopf: »Wißt ihr, warum wir singen müssen?«

»Nee!«

»Weil, wenn wir singen, können wir nicht essen!«

Von diesen Worten an ward der Gesang bedenklich schwach, und es muß gesagt werden, daß einige nicht im stande waren, zu singen, und daß andere durch die Nase zu singen versuchten. Und es klang nicht schön. Das Ende war, daß sie alle plötzlich durch keifende, klirrende Worte aufgescheucht wurden, gleich Staren, zwischen welche die Hagelkörner sausen.

So endete die Sache betrüblich.

Gegen Herbst, als die Eier im Preise stiegen, ging die alte Frau selbst auf die Böden und kroch durch die finstern Winkel und suchte die Eier zusammen, die etwa von ausschweifenden, zweckvergessenen Hühnern verlegt waren. Da hatte der Knecht nach alter, guter Landesweise dem Raubzeug nachgestellt, das über den Kornboden schlich, hatte die eiserne Marderfalle mit den scharfen Zähnen in den Winkel gestellt und ein Ei zwischen die Klammern gelegt, dem wilden Tier zur Lockung. Die alte Frau aber, kurzsichtig und des Dunkels nicht gewohnt, griff hinein, das Ei zu retten, und schrie laut auf. Der Arzt mußte tiefe Wunden verbinden, und es war im ganzen Dorf viel Gerede, aber wenig Mitleid.

Als der Tag der Pachtzahlung nahe war, schrieb die alte Hobooken an ihren Bruder in Berlin. Sie stellte ihm die Lage dar und bat um Hilfe. Drei Tage vergingen. Sie empfing den Briefboten in der Hausthür und war voll Grimm gegen den Mann, der mit gleichmütigen, langsamen Schritten ankam und mit gemächlichem Gruß die Zeitungen auf den Tisch legte, der links von der Thür stand. Nichts als Zeitungen.

Ihr Sohn ging pfeifend durchs Haus und über den Hof. Unter den Enden seines Schnurrbarts saß ein spöttischer, höhnischer Zug, als wollte er dem Schicksal mit all der Bitterkeit, die seine Seele erfüllte, zurufen: »Kommst du wieder, Schicksal? Gerade habe ich Land und Weib in Händen!«

Am vierten Tage trat er in die Wohnstube und sagte zu seiner Mutter: »Ich habe dir etwas zu berichten. Ich komme eben von der Heide, um von ferne zu sehen, wie Heim Heiderieter eigenhändig seine Kartoffeln aufnimmt, da kommt ein Mann vom Dorf her den Sandweg herunter, in grüner Jägerjoppe, Hahnfeder auf dem Hut, Gewehr im gelben Futteral über der Schulter, Krimstecher am Riemen. Er will aussehen wie ein Dreißiger, hält sich steil und dreht in rascher Wendung den Kopf, ist aber mindestens sechzig Jahre alt. Die halbe Jugend läuft ihm vom Dorf her nach. Sage, wer ist das?«

»Mein Bruder! ... Nun wird alles gut!«

»In der That! Der Führer und der Freund meiner Jugend! Dem ich alles verdanke von meinem zehnten Jahre an, alles Brot und alles Böse. Er kommt, um mir wieder ein kleines Stück Brot zu geben und ein kleines, vielleicht ein großes Stück Böses. Alte Demütigungen fangen wieder an; und du sagst: Nun wird alles gut!«

Die Hausthür wurde geöffnet; sie gingen beide nach dem Flur.

»Mein lieber Bruder!«

»Guten Tag, Onkel Felix! Alter Freund und Gönner! Wie gefällt dir Hobookenhof?«

Felix Hobooken sah sich um. »Wo ist dein Vetter?« fragte er.

»Der sitzt auf einer Insel in der Nordsee und bellt die Brandung an. Hast du Angst vor ihm, Onkel?«

»Das nicht! Aber ich gehe gern allem Unangenehmen aus dem Wege; denn entweder fällt es auf die Nerven, oder es hindert mich an meinem Sport. Wo denn? Auf welcher Insel?«

»Wir fahren hinüber! Großartige Segelfahrt! Überhaupt, Onkel, das Segeln auf der Nordsee, das ist Höhepunkt alles Sports; da ist Ernst darin!«

Der Alte ließ sich müde auf einen Stuhl nieder, zupfte an Wollhemd und Kragen und machte dann eine große Handbewegung: »Ich war vor vierzehn Tagen in Kärnten. Zwei Höhen erstiegen! An Erzherzog telegraphiert! Gruß erhalten! Nun schon in die Nordsee?«

»Insel entdecken!« lachte Franz.

»Du hast keinen Sinn für Sport, mein Lieber! Dein Vater hatte ihn auch nicht, obgleich er Offizier war. Ich habe nicht übel Lust, dir diesen Sinn beizubringen.«

»Die Nordsee ist keine Wiege, Onkel!«

Der Alte stand auf, trat mit steifen Schritten ans Fenster und sagte mit abgewandtem Gesicht: »Wir können ja nächstens untersuchen, wer von uns den größeren Mut und die größere Gewandtheit hat. Ich lasse mir in der That ein Boot aus Hamburg kommen; ich hab's ja dazu.« Er machte eine abschließende Handbewegung, und immer nach dem Fenster zugewandt und über den Wirtschaftshof sehend, sagte er: »Nun eure Angelegenheit! Aber das sage ich euch, ich fühle mich nicht verpflichtet, euch aus dem Loch zu heben, in das ihr gestürzt seid. Warum habt ihr mich nicht um Rat gefragt?« Er schlug gegen seine Brust. » Mein Sport soll nicht unter euren sogenannten Unternehmungen leiden! Mein Sport ist mein Leben! Du wirst die Güte haben, Franz, und mir deine Bücher auf mein Zimmer bringen und mir morgen einen Vortrag darüber halten.«

Franz Strandiger hatte diese Worte mit großen Augen angehört. Wie sausende Peitschenhiebe flogen sie gegen ihn an. Er versuchte, etwas zu sagen, besann sich aber, kehrte sich um und ging in sein Zimmer.

Und dort setzte er sich vor den Schreibtisch und schlug in rasendem Zorn zwei-, dreimal mit der Faust auf den Tisch. Blutflecke erschienen auf der hellen Eichenplatte. Dann saß er eine Weile in sich zusammengedrückt, ehe er seiner Erregung Worte geben konnte. Wie Feuer sprangen sie von seinen Lippen: »In der Fremde war ich anderer Leute Knecht; nun kommt die Qual der Kindheit wieder! ... Niederzwingen will ich ihn! Es soll die Stunde kommen, daß er zu meinen Füßen jammert! Verderber meiner Kindheit!«

 

Jeden Abend, wenn die Dämmerung hereinbrach, sagte die alte Frau Strandiger zu ihrer Pflegerin: »Nun gehe zu Heiderieters, Ingeborg, und grüße sie! Du kannst gerne fortgehen. Ich langweile mich nicht; ich bin nicht einsam. Ich habe ja so viel erlebt; ein großes, starkes Buch, in dunklem Einband, ein Kreuz fast über jeder Seite und eine Krone, hoffe ich, auf der letzten. Geh! Ich will in dem Buch lesen.«

Dann gingen oben leise die Thüren, die Stubenthür, die Küchenthür, dann noch das Zimmer mit den Fenstern nach Flackelholm; dann kam es flüchtig, leicht und weich, die Treppe hinunter. Dann stand Kranz Strandiger im Flur, «der er trat aus dem Zimmer, oder er stand zum Ausgehen bereit an der Hausthür und sah auf das schöne Frauenbild und versuchte, Augen und Haltung zusammen zu nehmen, und vermochte es kaum. Er war klug; er wollte sie nicht erschrecken.

Aber er kann sich nicht satt an ihr sehen, nicht an ihrer hohen, starken Gestalt, nicht an ihren strahlenden Augen, an dem seinen Kopf, den sie ein wenig gebeugt hält, an der Wendung dieses Kopfes, wenn sie aufsieht. Darum muß er hier täglich stehen und sie an sich vorübergehen lassen, um den kurzen Gruß zu empfangen, um dann, wenn sie fort ist, an das Treppengeländer heranzutreten, das ihr Kleid berührte, da sie herunterstieg, und den Drücker anzufassen, den ihre Hand eben umspannte.

Wie ein Sturmstoß ist es gekommen. Sie sprang ihm an dem einen Tag ins Herz, diese thörichte, heiße Liebe; sie lohte am andern Tag aus seinen Augen, als er ihr nachsah, da sie die Treppe hinaufging; sie zwang ihn am dritten und vierten Tag, hinter ihr herzugehen, wenn sie nach dem Heidehof ging.

Ingeborg Landt fühlte, daß er etwas von ihr wollte, und ängstigte sich und versuchte, diese Angst zu verbergen. Sie sandte sein stolzes Grüßen ebenso stolz zurück; sie wollte mit Franz Strandiger nichts zu schaffen haben. Sie saß ihm im Wohnzimmer stumm gegenüber und sprach selten mit ihm und so, wie man mit einem Fremden spricht, und konnte es doch nicht hindern, daß seine stolze Gestalt und seine ruhigen, überlegenen Worte Eindruck auf sie machten.

Er aber beobachtete sie. Keine ihrer Mienen oder ihrer Bewegungen entging ihm. Er wartete. Er wartete, bis der günstige Augenblick da wäre; im Sturm, mit raschem, starkem Griff wollte er sie gewinnen. Darum, wenn er vorüberging, und sie sich ansahen, sagten seine Augen nicht: »Ich liebe dich,« sondern: »Ich bin stark, bist du stärker?« Sie merkte das und ging still, mit gesenkten Augen, an ihm vorüber und ging nach dem Heidehof.

Zuweilen, wenn seine Stimmung eine gehobene war – er war ein Augenblicksmensch und konnte seine Lage rasch mit andern Augen ansehen –, dann konnte sein alter Übermut über ihn kommen. So kam er eines Tags aus der Stadt, wo er hundert Tonnen Weizen leidlich gut verkauft und Aussicht auf Kredit erhalten hatte, und ging durch den Stall und fand die Knechte und die beiden Arbeiter von der Geest, wie sie die volksbeliebten Kraftstücke machten. Sie hatten die Trage geholt und leinene Pferdegeschirre um zwei volle, zweihundert Pfund schwere Weizensäcke gebunden und versuchten, sie über die Diele zu tragen, und von vier Mann, die es versuchten, konnten zwei es vollbringen. Da trat Strandiger heran und ließ noch zwei Geschirre bringen und um zwei halbe Weizensäcke legen und machte sie fest und wuchtete, gegen die Wand sich haltend, und trug die sechshundert Pfund langsam und vorsichtig, unter der Bewunderung der Leute, die sich in starken Ausdrücken äußerte, mit schweren Schritten die Diele entlang und kehrte sich um. Da brach die Trage.

Und Ingeborg stand am anderen Ende der Diele und sah mit großen Augen auf ihn, Furcht in ihrer ganzen Haltung; er hatte die Augen, die er damals hatte, als er sie aufforderte, sich nicht in die Geschäfte der Männer zu mischen, Männersache Männern zu überlassen.

Als er sie da stehen sah, ward er noch froher. Und abends, als er so recht gemütlich, voller Hoffnungen, das Land und die Braut zu gewinnen, in seinem Zimmer saß, eine Flasche Wein vor sich, und alter Zeiten gedachte, kam ihm der Übermut, und er schrieb auf eine Karte, die er an »Herrn Heiderieter auf Heidehof« adressierte, diese Worte:

»Ich freue mich, daß Heim Heiderieters Felder gut bewirtschaftet werden; aber ich thue folgende drei Fragen, dieweil wir um die dreißig sind: »1. Wo ist Franz Strandigers Geldsack? 2. Wo ist Andrees Strandigers Lorbeer? 3. Wo ist Heim Heiderieters Orden?««

Der Knecht ging gleich nach dem Heidehof und traf Heim unter der Lampe am Schreibtisch; Eva war nicht anwesend. Und erst verstand Heim nicht; dann aber besann er sich und wurde rot, setzte sich aber flugs hin und schrieb auf die andere Seite der Karte: »Wo sind die drei Getreuen?« Und sandte den Knecht zurück.

Als Franz diese Worte las, wurde er sehr ernst.


Im Heidehof herrschte das Glück. Freilich, das Glück mußte noch kämpfen. Es hat noch jahrelang kämpfen müssen; es gab Feinde ringsum. Sie drangen bis in die Küche, wo Frau Eva waltete, und traten an den Schreibtisch des Hausherrn. Die Sorge kam immer wieder zu Heim und sagte: »Es hilft nichts, Heim, ihr Heiderieter seid unpraktische, schläfrige Leute; du bringst den Heidehof nicht in die Höhe. In diesem Jahre warst du fleißig; aber allmählich wirst du träge werden und ein Träumer wie deine Väter, und die Heide wird in deinem Alter über die Furchen laufen, die du in deiner Jugend gepflügt hast.«

Dann schüttelte sich Heim, stand auf und ging stracks in die Küche oder in den Stall oder wo sonst die schöne, starke Frau mit den dunklen Flechten arbeitete, die Ärmel zurückgeschlagen, mit blanken Augen. Nur ein Kopfnicken hatte sie für ihn, nur einen raschen, freundlichen Blick. Zuweilen strich sie lachend mit der nassen Hand über seine krause Stirn; dann griff sie wieder zur Arbeit. Er aber sah sie noch einmal an; seine Augen glitten an ihrer Gestalt herunter; er atmete auf und ging mit sinnenden Augen wieder an den Schreibtisch und schrieb an seinem ersten Buch.

Das erste Buch!

Er hatte einen Bekannten in Kiel, einen Lehrer, der hatte ihm die Bücher von der Bibliothek der Universität besorgt, große, schwere Bücher, gelb eingebunden; und der obere Rand war dunkel, als hätten sie vom Alter Moos auf den Häuptern. Sie waren in lateinischer Sprache geschrieben, einige in plattdeutscher, einer groben, harten Sprache, strunkig wie Bohnenstroh. Sie erzählten von alten Zeiten, von alter Not: von jenem Kampf, den Schleswig- Holstein vor über siebenhundert Jahren anfing, dem Anfang eines Freiheitskampfes, der siebenhundert Jahre gedauert hat.

Heim Heiderieter saß und arbeitete, übersetzte und deutete, griff von einem Buch zum andern, stützte den Kopf in die Hand und ging wieder mit stillen Augen durch den Saal und merkte nicht, daß die junge Frau hindurch ging und ihn ansah.

Zuweilen setzte sich die Mutlosigkeit an den Schreibtisch, sah ihn an und lächelte spöttisch: »Es geht über deine Kraft und Kunst, Heim! Ihr Heiderieters könnt alles, aber alles nur halb!« Dann sprang er auf und ging durchs Haus, sah nicht rechts, nicht links, und ging über die Heide. Und über der Heide stand der klare Herbsthimmel.

Wenn er wiederkam, war er stiller geworden. Er sah aus wie ein Kind, das gebetet hat, und schrieb einige Verse nieder; und als die junge Frau wieder durch den Saal kam, umfaßte er sie, indem er sagte: »Sieh, das fand ich nicht weit vom Bach auf der Heide.« Und sie las es langsam vor; denn er selbst war ein schlechter Vorleser:

Herbst

Die Luft so still, so wunderklar,
So hell wie sie noch niemals war.
Das Herz so froh, die Wange rot,
Was kümmert mich denn Grab und Tod?...
Bald, über alle Herrlichkeit
Liegt des Winters Totenkleid.

Auf Goldgrund ist gemalt die Welt,
Ist Kirche, Haus und Baum gestellt.
Goldigrot! die Sonne blinkt...
Sieh, ein Blatt vom Baume sinkt.
Bald über alle Herrlichkeit
Liegt des Winters Totenkleid.

Ich bin noch jung und habe Kraft
Und weiß, daß Arbeit Freude schafft...
Horch, hörst den Vogel in dem Ried,
Der singt sein letztes Sommerlied.
Bald, über alle Herrlichkeit.
Liegt des Winters Totenkleid.

Und sind denn alle Blätter tot,
Und ist die Wange nicht mehr rot,
Mein Herz, sei stark, mein Aug', sei blank
Und sag' für deinen Glauben Dank.
Bald, aus des Winters Totenkleid,
Springt des Frühlings Herrlichkeit.

»Ich hätte gescholten, wenn der letzte Vers nicht wäre,« sagte sie.

Abends lag er lange wach im Bett, mit leisem, langsamem Atem, als lauschte er. Dann erhob wohl die junge Frau die Schulter und stützte sich auf den Arm und sah zu ihm hinüber und erkannte im Mondlicht, daß er ganz offene, klare Augen hatte. Da legte sie sich wieder hin und schlief gleich wieder ein; denn sie konnte den Schlaf wohl brauchen.

Er aber schaute und horchte. Und die Menschen, von denen er am Tage in den alten Chroniken gelesen, die sich im hellen Tageslicht scheu zurückgehalten hatten, wagten sich im Dunkel der Nacht hervor. Sie kamen ihm so nahe, daß er mit ihnen reden konnte. Und er horchte und hörte auf ihre schlichten Worte, bald harte, bald klagende; denn es war eine Zeit voll Härte und Klagens. Wenn dann endlich der Schlaf über ihn kam und der Marder den ersten Sprung zu der Speckseite hinauf wagte, die neben dem Schornstein hing, und mit dumpfem Gepolter zurückfiel, dann wurde er unruhig im Schlaf und stöhnte und fing endlich an zu rufen. Und wieder beugte sich die Frau an seiner Seite über ihn: »Was hast du, Heim?«

»Die Dithmarscher lagen bei Bornhöved auf der Heide, standen auf, drehten die Schilde und wandten sich gegen die Dänen; dabei fielen die Bierkessel um.«

Sie lachte und legte sich wieder hin und schlief ein, das Lächeln noch um den Mund.

Und der Mond stieg höher und versuchte, durch die Zweige des Birnbaums in den Saal hinein zu sehen, konnte aber nichts erkennen. Da wischte er sich die Wolken von der Stirn und sah den Schreibtisch und darauf die alten, großen, gelben Bücher und ärgerte sich; denn er ist allem scharfen Denken, ja jeglicher Wissenschaft abhold und ein Träumer. Dennoch, weil das Fenster am Schreibtisch weit offen stand, trat er auf die Fensterbank und glitt mit seinen Händen über die Bücher. Da wurden sie noch gelber und erwachten, blätterten und knisterten und stöhnten. Und eine alte, dicke, dreibändige dänische Geschichte sagte zu ihrer Drillingsschwester: »Ich fühle mich hier nicht behaglich; der Mensch, der mit uns umgeht, ist unser nicht würdig; er ist kein Gelehrter.«

»Er ist ein Schwärmer und Träumer.«

Gelblich gleißte das Licht des erbosten Mondes.

»Er liest zwischen unsern Zeilen.«

»Und oft starrt er über uns weg.«

»Ja,« sagte die Schwester, »es ist traurig. Wir haben zwanzig Jahre unbenutzt auf dem Bord der großen Staatsbibliothek gestanden; und nun, da wir endlich einmal ins Leben hinauskommen, schickt man uns zu diesem ungelehrten Mann.«

»Erinnerst du dich noch des Professors, bei dem wir vor zwanzig Jahren waren?«

»Ja, der war ein anderer Mann!«

»Er schrieb ein sehr gelehrtes Werk, weißt du noch? Und er war besonders bei mir sehr eifrig, eifriger als bei euch; er pustete und stöhnte und war sehr gelehrt und aufgeregt. Er war so aufgeregt, daß er mehreremal Worte an meinen Rand schrieb; ich habe es ihm nicht übel genommen.«

»Was hat er geschrieben?«

Die Blätter rauschten leise. »Was wird es sein? Ich verstehe nur dänisch. Etwas Ehrenvolles für mich wird es sein. Siehst du, da steht es!«

Da stand mit harter Bleifeder hingekritzelt: » ignorantia pyramiidalis

»Und hier?«

Da stand das kurze Wort: »Blech!«

»Was soll das bedeuten?«

»Es ist eine Anerkennung meiner Gelehrsamkeit. Ich bin stolz darauf, daß ich ein gelehrtes Buch bin, namentlich ich, die Erstgeborene von uns dreien. Wer kennt die alten Zeiten wie ich?«

Der Mond wollte leise die Fensterbank hinuntergleiten; er gähnte gelangweilt, klagte über das ganze Bücherschreiben und wollte nach der nächsten Wolke rufen, ihn zuzudecken. Da sing ein anderes Buch an zu reden; das lag umgedreht auf seinen Blättern, und dumpf klang seine Stimme: »Es ist zwar nicht sein von ihm, so ein altes, schwerfälliges Buch, wie ich bin, auf den Bauch zu legen; aber das will ich euch sagen, ich, die Chronik des Priesters Helmold von Bosau: ›Ich bin froh, daß ich aus Professorenhänden und Bibliothekswänden endlich in die rechten Hände und das rechte Haus gekommen bin. Ich bin ein feines Buch. Ich bin so sein, daß ich zwischen den Zeilen gelesen werden muß; denn meine Wahrheit, meine Wirklichkeit liegt weit hinter meinen Buchstaben. Der euch liest, muß Verstand haben, der mich liest, muß Herz und Glauben haben; ein Dichter muß er sein‹«

Und das alte Buch, obgleich es auf dem Bauch lag, fing an, eine lateinische Mönchsweise schwerfällig zu singen.

Der Mond glitt still von der Fensterbank herunter und dachte: »Das war gut gesagt, noch dazu auf dem Bauch.« Und als alter Mann, der alles mit erlebt hat und sich gern in der Erinnerung bewegt, und in dem Wunsch, alte Geschichten vor seine Seele zu stellen, riß er alle Wolkendecken, die auf ihm und um ihn lagen, von sich, stand leuchtend am Himmel und sah mit silbernen, klaren Augen über die Gegend, wo das geschehen ist, was das alte Buch erzählt. Und die Gegend um Segeberg und Lübeck, Bornhöved und Plön war in dieser Nacht voll von strahlendem Mondlicht. Die Menschen, die diesen Mondschein sahen, freuten sich seiner, wußten aber nicht, daß Heim Heiderieter die Ursache war.

An jedem Abend, in der Dämmerung, kam Ingeborg Landt. Dann saßen die drei im Saal vor dem grünen Kachelofen. Von außen sah mit verschlafenen Augen der Wintertag hinein. Der brennende schwarze Torf, aus eigenem Moor gegraben, Holzscheite dazwischen, knisterte Hinter den Eisenstäben und warf seinen Glanz in den gemütlichen, großen Raum und füllte die untere Hälfte mit rotem Schein. Zuweilen sprang ein fürwitzig Feuerlein im Spiel der Flammen aus den Eisenstäben. Dann sah man die Gesichter der Sitzenden und die Bilder rings an der Wand.

So hielten die drei Plauderstündchen.

Zuerst zogen sie unter Heims Führung in die alte Vergangenheit des Landes; lobten eine Ansicht, die er äußerte, verwarfen eine andere, immer nach Frauenweise die harte Wahrheit von sich weisend und das, was ihrem Herzen angenehm war, hervorziehend, aber immer voll Trost für den oft mutlosen Schreiber: »Heim! Arbeite nur ruhig weiter. Wir wollen dir nachher ehrlich sagen, ob es was geworden ist.«

»Sieh!« sagte Ingeborg, »ich sah einmal in Hamburg ein altes, seines Silbergerät; aus Nürnberg stammte es. Es war ein Kelch in edlen Formen, der Fuß war stark und wie kraftvolle Wurzeln gebildet, die aus der Erde sich vereinigen; der Griff war fest und stattlich wie ein Baumstamm und brauchte die Hand des Trinkenden nicht zu scheuen; der Kelch war von losem Blattwerk, das kraftvoll und doch luftig sich dehnte. Es war ein starkes, feines Gebilde, und es kamen einem reine Gedanken, wenn man es ansah, und man wurde fröhlich und mutig. Inwendig funkelte es von Gold.«

»Ja,« sagte Heim und sah bedenklich drein.

»Und dahinein gehört Wein.«

»Ein kräftiger Wein!«

»Ja... Wein! ... Wein! Und nicht Essig oder Schlimmeres!«

»Du hast recht,« sagte er. »Viele Bücher haben eine lottrige oder häßliche Form, und der Inhalt ist sauer. Sie geben dem Menschen nicht mehr sittliche Fähigkeiten als einer Krähe, und die Welt ist ihnen ein Rattenkeller. Dein Wort in Ehren! Du bist als Christin Optimist, und das kleidet dich gut.«

»Diese Leute,« sagte Ingeborg, »sind nicht mehr stolz auf ihre Heimat und auf ihre Geschichte, und sie thun, als ob Gottes Stelle vakant wäre.«

»Na ja... so ist es! Und sie selbst schreiben die Vakanz aus.«

»Wer was Ordentliches schreiben will,« sagte sie, »muß erstmal ein wirklicher Mann sein, demütig vor Gott und stolz gegenüber der Welt. Ich will mich an dem, was ich lese, aufrichten. Es soll mich heben. Es soll mich ernster machen gegenüber jeder Sünde und mutiger gegenüber jedem Schicksal.«

»Recht hast du, Schön Ingeborg! Predigerin des Schönen!«

War dies Gespräch beendet, dann übernahm Eva die Führung und ging mit beiden nach Flackelholm; ach, und Ingeborg ging so gerne mit. Es wurde viel und eifrig gesprochen; und der Inhalt des letzten Briefes, den der Rotbart nach Büsen gebracht hatte, wurde genau durchgesprochen, und zum Schluß stand Ingeborg doch noch auf, trat ans Fenster und las im Dämmerlicht die Worte: »Grüßt auch Ingeborg! Ingeborg!« Zweimal stand das Wort da.

Als dritte übernahm Ingeborg die Führung, beugte sich zu dem Stuhl hin, in dem die junge Frau saß, und legte auch wohl den Arm um ihre Schulter und redete von allerlei und versicherte wieder und wieder: »Ich werde dir helfen können, Eva! Anna Haller kann wieder bei Tante Strandiger wirtschaften; sie versteht es so gut. Wenn du mich jetzt schon brauchen kannst, weil es dir zu schwer wird, so bin ich zur Stelle!« Aber Frau Eva erhob sich in ihrer ganzen Größe und lachte: »Noch nicht, Ingeborg! Aber wenn's so weit ist, dann sollst du und Telsche kommen. Du sollst für Heim sorgen und Telsche Spieker für mich.«

Also rückte allmählich das Weihnachtsfest heran. Es verlief diesmal ganz still. Fritz Witt saß im warmen Zimmer auf Flackelholm auf Antjes Schoß; brennende Lichter standen vor ihnen auf dem Tisch, und Antje erzählte, treu nach dem Wortlaut, die heilige Geschichte; Strandiger und Witt hörten zu. Die Wattarbeiter waren nach dem Festland zurückgegangen, um mit den Ihren Weihnacht zu feiern; erst im Februar, wenn der Frühling heranzog, wollten sie wiederkommen.

Im Saal des Heidehofs standen die drei, Heim, Eva und Ingeborg, unter dem Tannenbaum, Telsche Spieker kam mit den Wittschen Kindern, Äpfel, Nüsse und Kuchen zu holen. Telsche sah ernst aus. Als die Kinder das Haus verlassen hatten, ging sie noch mit Eva in die Küche. »Ich habe zu dir mehr Vertrauen, als zu Heim,« sagte sie. »Ich habe einen Brief von Witt bekommen, den der Stülper Büttfänger wohl in seinen Büttkorb geworfen hat, so grau ist der Umschlag. Witt wird in seinen alten Tagen noch wunderlich. Lies mal!«

Ein Blatt, aus Berthas Schreibbuch gerissen, war Reimer Witts Liebesbrief; er war mit Bleistift, genau nach den Doppellinien des Papiers und fast ohne Fehler geschrieben.

 

»Liebe Telsche! Ich habe den letzten Brief siebenzig von Paris an Mutter geschrieben; nun schreibe ich diesen Brief an Dich. Du bist auch Mutter, ich meine von meinen Kindern; wenn Du aber Mutter von meinen Kindern bist, mußt Du wohl meine Frau sein. Liebe Telsche, ich stehe allein draußen auf Flackelholm. ›Alle Mann,‹ sagte unser Hauptmann, als er bei Verneville hochkommen wollte, und lag in den Knieen und konnte nichts mehr sagen; denn er hatte eine Kugel in der Kehle. Schreibe mir bald, ob wir alle Mann zusammen sein wollen. Hier auf Flackelholm ist Platz.

Reimer Witt.

»Was soll ich thun?« sagte Telsche, setzte sich auf den Herdrand und sah ernst darein.

Da kam Heim.

»Nun kommt der auch noch,« sagte Telsche.

Er hatte Reimers Brief schon in der Hand: »Das ist gar keine Frage!« sagte er. »Natürlich nimmst du ihn.«

»So? Und alle die Kinder?«

»Sage mal, Telsche, die hast du jetzt auch! Oder willst du die Kinder etwa wieder verlassen?«

»Warum nicht?«

Er lachte ihr ins Gesicht. »Das thust du nicht, Telsche, sintemal du Reimer Witt immer gern gehabt hast.«

Eva faßte die Sache auch so auf.

»Er ist noch immer ein ansehnlicher, schmucker Mann.«

Da kamen sie aber schlecht weg.

»Nun bin ich vierzig Jahre alt geworden,« sagte Telsche, »und soll mich damit plagen!«

»Na... denn muß alles wieder wie vor Weihnachten werden,« sagte Heim. »Die Kinder bekommen wieder zerrissene Kleider, und Fritz kann wieder nach dem Himmel gehen und in unserer Krippe landen, obgleich wir Aussicht haben, sie selbst zu besetzen.«

»Mit dir ist nicht zu reden,« sagte Telsche. »Ich will es mir selbst überlegen.«

 


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