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Sechstes Kapitel

Das Sterben, das Andrees sah, machte ihn stark. Des Wille überhaupt auf das Ernste gerichtet ist, der wird gefestigter, klarer, sicherer, wenn er ein Sterben sieht. Der Tod ist ein König mit hoher, natürlicher Majestät. Wer bei ihm Audienz hatte, vergißt das Gesicht nicht; er sei denn mit Willen leichtfertig.

Es war Andrees, als er dies Sterben gesehen, als wenn er hellere Augen bekommen. Schon da er, ein einsamer Mann, den weiten, stillen Weg durchs Watt machte, zu Fuß, den Kompaß in der Hand, der Baken achtend und der gestrigen Wagenspur, welche durch die Flut nicht ganz zerspült war, waren seine Gedanken bei den Plänen, die in den stillen Tagen auf Flackelholm entstanden, an dem Sterbebett seines alten Freundes gekräftigt und von der Mutter gesegnet waren.

Nachdem seine Seele das Gleichgewicht wieder erhalten und gewisserweise sich von den Knieen erhoben hatte, fing sie nun an, die Augen zu öffnen und um sich zu blicken. Die Erzählung aus seiner Väter Zeit, die er gestern gehört, die ihn den Ursprung seines Geschlechtes und seines Namens lehrte, hatte ihm das ernste Gesicht der Vergangenheit gezeigt, die Worte des Sterbenden das noch ernstere der Zukunft. Dazwischen stand er, ein Mann, der die erste Hälfte des Lebens bald hinter sich hatte, nach dieser Frist auch ein Sterbender. Da stand er an der Kreuzbake, als am höchsten Punkt des Weges und seine Mitte, und sah nach dem alten Land zurück und hinüber nach dem neuen und sah das neue Land wohl liegen, doch ging dahin weder Weg, noch Steg. Und es war ihm schier, als wäre es so auch mit dem Leben: man müßte nach der ersten Bake gehen, als nach der nächsten Aufgabe und also von einer Aufgabe zur andern, dann käme man wohl nach dem neuen Land, also daß die einzelnen Aufgaben des Lebens der richtige Wegweiser wären bis in den Tod.

Und wie er so stand, mitten im weglosen Watt, von seiner gewaltigen Einsamkeit und übermenschlichen Größe erfaßt, er, der kleine Wanderer neben dem dürren Birkenstamm, da sagte er sich: »Ich will es wagen. Er mag geben, was Er will; ich will Ihm vertrauen und nicht müde werden.« Er hob die Arme nach Flackelholm hinüber und, weil er allein war, – sonst hätte er es nimmer gethan, wann lag je ein Mann an unserer Küste in den Knieen? – legte er sich dort an der Bake im Sand aufs Knie, nicht wie ein Betender, sondern wie einer, der müde ist oder etwas am Boden sucht. Nahm auch eine Muschel auf, die da lag, und steckte sie in die Tasche.

Zur selben Zeit stand Ingeborg auf der Düne, das mächtige Fernrohr in der Hand, und lehnte sich ein wenig gegen das Dach der Hütte und sah übers Watt und dachte: »Ich bin in Sorge um ihn. Ich habe nirgends Ruh. Dreimal habe ich den Strumpf fortgeworfen, den ich ihm stricke – er meint aber, Antje thut es – und dreimal lief ich auf die Düne.«

Sie schüttelte traurig den Kopf: »Es ist nicht Sorge, es ist etwas anderes: es ist Sehnsucht. Ich wollte es bändigen; ich meinte, es wäre tot, als die Schwester tot war; aber es ist betäubt; es kommt wieder, das Schreckliche, das Süße: Da kommt Andrees Strandiger! Das ist sein Schritt! Das ist seine Gestalt! Und das ist sein Haar, das sich dunkel über die Stirn legt. Es schießt das Blut nach dem Herzen, daß es klopft, und nach den Augen, daß sie dunkel werden.

Ich will es bändigen; er darf es nicht merken. Wenn es mir in die Augen fährt wie Feuer, will ich sie schließen. Ich will fort, bald. Wenn ich sehe, daß er helle Augen hat, daß er Mut hat, will ich wieder nach Strandigerhof und will nach Flackelholm hinübersehen und will hoffen und harren.

Mich wundert, daß es so still neben mir hergeht; so lange schon. Was hatte er damals auf der Heide für Augen! ... Jetzt sind sie ohne Glanz ... Ich sehne mich, die anderen zu sehen, die von der Heide.

Denn er ist mein und ich bin sein, und ich sehe ihm in die Augen und ... dann thue ich meinen Augen keinen Zwang an.

Still!« sagte sie leise und schüttelte den Kopf. »Nicht zuviel denken!«

Sie sah über das Watt. Dort der kleine schwarze Punkt, das könnte er sein. Sie hob das Rohr, sah hindurch und suchte, da zeigte ihr das starke Glas, wie er kniete und sich erhob und weiterging. Es wurde ganz still um ihr Herz. Sie ging langsam die Düne hinunter nach der Hütte und dachte: »Er braucht noch gegen zwei Stunden. Ich will aber doch schon ein anderes Kleid anziehen. Aber entgegen gehen will ich ihm nicht.«

Nach zwei Stunden war sie doch unfern des Dieksander Gatts; der grauschwarze Schäferhund stand neben ihr. Sie stand auf dem letzten Grasfleck und rührte sich nicht. Sie sah, wie er die hohen Stiefel auszog und in den Priel hineinging, dessen Wasser ihm bis übers Knie reichte. Dann kam er den nassen Sand hinauf, und als er noch fern von ihr war, grüßte er und sagte laut: »Guten Morgen, Ingeborg!« Sie rührte sich nicht und sah auf ihn und erkannte das Starke in seinem Gesicht und ein gewisses Selbstbewußtsein in dem, wie er den Kopf trug. Da ward sie sehr froh und kam eilend von ihrer grünen Insel herunter, gab ihm die Hand und nickte ihm zu und vergaß, die Feuer zu löschen, die in ihren Augen aufgeflammt waren.

Ihm aber ging es durchs Herz, wie er das liebliche Rot ihrer Wangen sah und das leise Lächeln und die gesenkten Lider und das helle Haar, um das sich die Flechten wandten.

Dann gingen sie nebeneinander her und berichteten, was sie erlebt hatten, und versuchten beide, wie zwei Kameraden zu sein, die gute Freundschaft halten und an gewissen Dingen das gleiche Interesse haben, und waren es von Stund an nicht mehr.


Von diesem Tage an war Andrees vom Morgen bis Abend in Thätigkeit. Reimer Witt und er gingen stundenweite Wege. Wie seine dunkle Striche standen sie am Horizont, und Ingeborgs Arme wurden müde vom Halten des Fernrohrs.

»Wie gehen sie dort hoch, Antje! Sieh mal! Als wenn dort auch eine Insel ist.«

Antje legte die Hand über die Augen: »Ist noch keine Insel,« sagte sie, »wird aber eine werden! Dort schlickt es mächtig an.«

»Sie stoßen eine Latte in den Schlick.«

»Reimer hat die Latte mit Lehm bestrichen; sie wollen sehen, wie hoch der Lehm verschwunden ist, wenn die Flut sich verlaufen hat. Ich glaube, der Lehm wird heute gar nicht naß. Ich sah da gestern mehr als hundert Vögel sitzen.«

»Das kannst du mit bloßen Augen sehen?«

»Ja ... Siehst du nicht die Seehunde liegen? Dort seitwärts von ihnen? Gerade ein Dutzend ist es; sie liegen in der Sonne auf dem festen Abhang.«

Ingeborg suchte sie mit dem Fernrohr und fand sie. Stumm beobachtete sie das drollige Gebaren der Tiere, wie sie sich rollten und sich auf den kurzen Schwimmfüßen aufrichteten und die weißen Brüste hoben, und wie sie sich vorwärts schleppten, liegenden Menschen nicht unähnlich, die sich auf den Ellenbogen aufstützten, Urheber der mannigfachen Geschichten von Meerweibern. Denn, um mit Heim zu reden: »Wer will behaupten, Eva, daß diese Geschichten Sagen sind? Oder was sagst du, Ingeborg?«

»Daß man wieder kein vernünftig Wort mit dir reden kann, Heim!« pflegte Ingeborg dann zu antworten.

Ingeborg ließ das Glas sinken und sagte: »Sage mal, Antje, was treiben die beiden? Vorgestern haben sie in den Dünen ein tiefes Loch gegraben und das gefundene Wasser zum Kaffee gebraucht und haben behauptet, es ließe sich sehr wohl trinken, und stritten gegen uns an, wie Männer zu thun pflegen, ohne Grund, geradezu gegen die Wahrheit, und ich habe doch auch geschmeckt. Und gestern sagte er: ›Das Wasser ist viel besser, viel besser! Schmecke mal, Reimer?‹ Und es war kein bißchen besser.«

So sprach sie und war froh, von ihm reden zu können, und freute sich, daß er so eifrig bei der Arbeit war.

Antje sah in Gedanken übers Watt und begann plötzlich, wie es zuweilen über sie kam, von ihrem toten Helden zu sprechen: »Morgen ist wieder der Tag von Gravelotte,« sagte sie; »wann er wohl endlich wiederkommt! Ich werde ja alt und kalt dabei ... Oder meinst du auch, Ingeborg, daß er wirklich tot ist?...« Sie sah mit verlornem Blick über den Strand hin ... »Dann müßte ich ihn aber finden können? Beim letzten Sturm habe ich ihn vergebens gesucht.«

Aber Ingeborg plauderte von dem weiter, von dem ihr Herz voll war.

»Sie haben gestern auch das Wasser untersucht, das wir das tote nennen; dort in der Düne.«

»Den Namen habe ich ihm gegeben,« sagte Antje stolz. »Er stammt vom Sturm vor drei Jahren.«

»Und Reimer sagte, als wir beim Abendbrot zusammen saßen – du warst noch nicht vom Büttfang zurück –: ›Wir müssen dort eine Bestückung vornehmen. Da muß Bohnenstroh oder Weiden entlang gelegt werden.‹ Ich merkte wohl, daß Andrees ihm zuwinkte und nach mir hinsah; aber Reimer mußte seine Weisheit durchaus an den Mann bringen. ›Der Sand,‹ sagte er, ›der von der Brandung herfliegt, wird sich in dem Stroh ansammeln. So werden wir bald eine neue Düne haben, die uns nichts kostet, und einen Teich, der vom Salzwasser getrennt ist.‹ Da nickte Andrees und fing an, von anderen Dingen zu reden.«

So plauderte Ingeborg, auf der Bank sitzend und übers Watt schauend, während Antje seitwärts von der Hütte die Wäsche auf die Leine hängte.

Gegen Abend kamen die beiden müde heim, mit einem mächtigen Appetit. Reimer Witt verzehrte stillschweigend dreißig Möveneier, die Antje in der Morgenfrühe gesammelt hatte; Andrees und Ingeborg hatten sich leid daran gegessen.

Als Reimer die Gabel niederlegte, sagte er: »Ich habe einen Seehund erschlagen. Er war zu fett; ich will ihn morgen holen.«

Und er sah sorgenvoll ins Wetter, ob etwa die Flut ihn auch wegtreiben würde.

»Darum hast du den Pfahl eingetrieben!« sagte Ingeborg und lehnte sich über den Tisch.

Da sah Reimer auf Andrees und sagte: »Wir müssen das Glas morgen mitnehmen, damit uns niemand nachspürt.«

»Thut es doch!« Und Ingeborg lehnte sich zurück und ward rot vor Freude; denn sie hatte in Andrees' Gesicht eine leise spöttische Lustigkeit gesehen.

»Reimer hat einen erschlagen,« sagte er, »ich habe einen erschossen. Antje muß morgen, sobald wir die Tiere haben, Thran auskochen.«

»Ein feines Geschäft!« sagte Ingeborg.

»Du sollst umrühren!« sagte Andrees.

Sie sah ihn an, und die überlaufende Freude funkelte in ihren Augen wie Flut im Sonnenschein.

Er aber sah ernst drein und sah sie nicht an.

Am andern Morgen in aller Frühe zogen die beiden wieder aus und kamen, mit den Seehunden schwer beladen, zurück.

»Wir haben also dort ein neues Land entdeckt,« sagte Andrees, »und haben es Hundsknüll genannt, nach Reimer Witts Vorschlag.«

»So heißt es schon lange,« sagte Antje und lachte.

»Wer ist denn vor uns dagewesen?«

»Die Störfischer von der anderen Seite haben da auch schon stundenlang auf der Lauer gelegen. Als sie zurückkamen, brachten sie einen kleinen Hund mit, der reiner war als sie; denn sie waren im Schlick an den Strand herangerutscht. Und in jedem Jahr kommt ein unkluger Hamburger die Elbe herunter, landet mit seiner Jacht im Dieksander Gatt und geht nach dem Hundsknüll, liegt da auf dem Bauch im Schlick und bellt die Hunde an, die ihre Köpfe aus dem Wasser strecken. Ihr seid nicht die Ersten.«

»In zehn Jahren,« sagte Andrees, »ist dort grünes Land! Und wie lange dauert's, dann sind die beiden Inseln verbunden, und es findet sich ein kürzerer Weg nach dem Festland. Antje, hast du jemals versucht, auf einem kürzeren Weg nach dem Koog zu kommen?«

»Nein!« sagte sie. »Es ist alles unergründlich. Der beste Weg nach Flackelholm ist zu Boot von Büsen her durch den Flackstrom ins Dieksander Gatt.«

Andrees nickte. »Hörst du?« sagte er zu Reimer.

Reimer nagelte das fetttriefende Fell des Hundes an die Balkenwand der Hütte, damit es trocknete, und wandte sich nicht um und sagte: »Wir kriegen das alles in Ordnung. Nur Zeit lassen!«

Also benahmen sie sich wie solche, die wichtige Pläne haben, die aber noch nicht gestaltet genug sind, um anderen Menschen gezeigt zu werden, oder wie Leute, die etwas erfanden, aber noch kein Patent haben.

Ingeborg hörte still zu.

In den nächsten Tagen besuchten die beiden Männer die Störfischer, die weit draußen am Dieksander Gatt lagen, und unterhielten sich mit diesen über den Ertrag ihrer Arbeit; und die einsamen, wortkargen Männer, die in hohen Thranstiefeln am Priel standen, zeigten ihnen die gefangenen Fische, die im Wasser trieben, durch Stricke, welche durch die Kiemen gezogen waren, ans Boot gebunden. Es waren stattliche Gesellen.

Und am Nachmittag erhielt Ingeborg Auftrag, einen starken Kaffee zu machen, es würden sechs oder sieben Gäste kommen. Dann kamen von Süden her, wo sie gelandet waren, Krabbenfischer, barfuß und zuweilen ausspuckend, und saßen und lobten den Kaffee. Einige waren gelernte Schiffer, wetterharte, verständige Leute, die in des Kaisers Marine gedient und große Fahrten gemacht hatten. Einige hatten in ihrem Landberuf Bankerott gemacht; nun war das Wattenmeer ihr Arbeitsfeld. Auf den schmalen Wegen des festen Landes war es ihnen nicht gelungen, Brot und bürgerliches Ansehen sich zu erhalten oder zu erjagen; im wegelosen, unendlichen Watt fanden sie beides. Nicht immer hatten sie Glück; der Schiffsleitung nicht kundig, erlitten sie leicht Not und Havarie.

Der eine der Gäste war im vorigen Frühjahr von einem harten Nordweststurm gegen den brandenden Strand getrieben. Die andern waren entronnen; aber dieser eine hatte es nicht vermocht. Als der Anker riß, nahm es ihn mit fort. Mit Mühe und Not, seinen Knaben im Arm, sprang er vom Klüverbaum aus dem Boot, das hart auf den Sand stieß. So rettete er sich und sein Kind. Nun stand er auf der Düne und sah hinüber. Da lag es noch. Es streckte wie ein verunglückter Walfisch seine dürren Rippen gegen den Himmel. »Es war eine tolle Fahrt,« murmelte er. »Ich hatte drei Tage Kopfweh und fürchtete, irrsinnig zu werden, so furchtbar stieß das schwere Boot auf den steinharten Grund. Wenn ich ohne den Jungen heimgekehrt wäre, was hätte Mutter gesagt!« Er stand eine Weile, nickte ernst mit dem Kopf und sah hinüber. Dann wandte er sich nach der Hütte, in der er in jener Nacht mit seinem Jungen, beide frierend und hungernd, gesessen hatte.

In der Hütte wurde langsam, breit und behaglich gesprochen, wie die Weise der Schiffer ist, die an unserer See wohnen. Ungern verändern sie den Gegenstand der Rede; er muß erst breit ausliegen, wie der Butt, der in der Priele schwimmt.

Alle redeten sie zuerst von früheren Besuchen, die sie auf der stillen Insel gemacht hatten. Fast jeder von ihnen war ein- oder zweimal auf Flackelholm und in der Blockhütte gewesen. Den einen hatte die Neugier, den andern die Langeweile vom Bord an den Strand gebracht; einige waren an der Brandung entlang gelaufen, ein Brett, das brauchbar wäre, oder wertvolles Strandgut zu finden. Denn der Strand von Flackelholm hat den Ruf, noch Besseres zu bergen als Rundholz und tote Seehunde.

Dann kamen sie auf besondere Erscheinungen, die ihnen auf Flackelholm begegnet waren. Der eine war im Dämmern des Abends von der Hütte fort nach seinem Boot gegangen; da war unterwegs, in kurzer Entfernung, eine mächtige Gestalt an ihm vorübergegangen, ob Frau oder Mann, das konnte er nicht sagen ... Aber es war wohl überhaupt kein Mensch gewesen, sondern ein Geist. Und zwar ein lustiger, denn er hatte getanzt und gesprungen. Ein anderer erzählte, daß er eines Abends, vor etwa sechs Jahren, nach der Hütte gegangen wäre, weil er den dummen Einfall gehabt hatte, dort zu schlafen. Er hätte aber die Thür nicht öffnen können, und als er mit dem Fuß dagegen geschlagen, sei ein gellender Schrei aus der Hütte gekommen, wie wenn ein Mensch, von einem Traum gequält, jäh aufwacht.

So erzählte er und that einen tüchtigen Schluck Kaffee und sagte: »Ihr wißt, daß ich nicht lüge.«

Antje füllte die Tasse von neuem und sah dabei mit schlauem, irren Lächeln auf ihren Bruder. Reimer Witt blickte ernst und mitleidig in das Gesicht seiner Schwester.

Der eine der Gäste war ein Bekannter von Reimer Witt. Sie hatten vor Metz nebeneinander auf dem Reisig geschlafen, und wenn der Regen gar zu dicht niederfiel, waren sie zu einander gekrochen und hatten also alles gemeinsam gehabt: Nässe, Wärme und Ungeziefer, das nicht zu vermeiden. So waren sie gute Freunde geworden. Diesen nun bearbeitete Reimer, daß er von Flackelholm und von Anschlick, Grasung und Priellauf, Landung und Brandung sprach und, nachdem der nicht geringe Kenntnis entwickelt, sagte der Schlaue: »Mensch!« – denn solch vorsichtige allgemeingültige Anrede ist in dieser Gegend unter guten Freunden ständiger Brauch – »Mensch!« sagte Reimer. »Ich hätte fast Lust, hier auf Flackelholm zu bleiben! Ich würde Schafe und Gänse halten, eine ganze Menge. Es ist nur eine Schwierigkeit: der Winter!«

Der Schlafkamerad von Metz hob seinen rothaarigen Kopf: »Ja, der Winter!«

»Wie lange ist das Wasser fest?«

»Je nachdem: zwei Monate!« sagte der Rotbart.

»Dann kann niemand hier landen?«

»Manchmal doch! Das Wasser ist bald hier frei, bald da. Man muß eben das Wasser kennen, das rund um die Insel läuft. Das ist bunt, sage ich dir. Da lernt man sein Leben lang daran.«

»Du hast keine Familie?«

»Nee! Bin zu lange draußen gewesen!« und er zwinkerte mit den Augen nach dem Neuwerker Leuchtturm hinüber: »Auf großer Fahrt!«

»Komm mal mit!« sagte Reimer. »Ich will dir was zeigen.«

Er trat mit ihm vor die Hütte und redete lange mit ihm. Und der Schlafkamerad nickte bedächtig, zog die Augenbrauen hoch und sagte zuletzt: »Ich habe nur ein Bedenken: wenn er hier mit uns bleiben will ... ist er fein? Ich will mit allen Leuten zu thun haben, bloß nicht mit den Feinen!«

Da gab Reimer über Andrees Strandiger das ehrenvolle Zeugnis ab: »Er ist ein ganz gewöhnlicher Mensch.«

»Na ... denn kann's meinetwegen losgehen!«

Die andern traten aus der Hütte. Andrees, den sie wohl leiden mochten, denn er war ruhig, kurz von Worten und langsam überlegend wie sie, ging mit ihnen. Reimer und sein Schlafkamerad gingen allein hinterher.

Reimer kehrte als Erster in die Hütte zurück; er fand Ingeborg, wie sie den Tisch abräumte.

»Wie es hier riecht!« sagte sie und sah ihn scharf an.

»Sie haben etwas Kümmel in den Kaffee gegossen,« sagte Reimer.


Die folgenden Tage untersuchten die beiden den Wuchs und die Art des Grases und Krautes, das weit und breit in einer Ausdehnung von über hundert Hektar das ebene Land bedeckte. Es war mancherlei Art. Alles, was am Strand der Nordsee auf neuem Land gedeiht, fand sich vor. Es lag wirr und dicht auf der Erde: jenes feine, kurze Gras, das sie Drückdahl nennen, weil es sich wie eine feste, dichte Haut auf den Boden legt; Strandnelken standen dazwischen. Da war eine hellgrüne, fette Pflanze, der Zwiebel nicht unähnlich, wenn sie eben aus der Erde kommt. Da waren graue, harte Pflanzen, vom Bau des Heidekrauts, die weite Strecken bedeckten; unter ihnen zeigte sich der graue, nackte Schlickboden. Und Reimer nahm von allem, was da wuchs, ein Stenglein und biß hinein und schmeckte und sagte: »Es ist Kraut und Unkraut; aber ich glaube nicht, daß auf der Insel ein Halm wächst, der den Tieren schadet.« Auch den Wasserlauf untersuchten sie, der, unweit der Hütte anfangend, ins Watt hineinlief und im Dieksander Gatt mündete. Sie maßen seine Tiefe und untersuchten seinen Grund und brachten Krabben und Fische mit, die sie in Handnetzen gefangen hatten. Als sie zurückkamen, hörte Ingeborg, wie Andrees sagte: »Du hast recht; wir müssen ständige Verbindung mit Büsen haben. Wir müssen ein Boot haben und einen Mann, der das Wasser kennt. Ich will darüber an den Rotkopf schreiben.«

An diesem Abend, der sehr mild und sonnig war, als Reimer und Antje noch einmal auf Fischfang ausgezogen waren, – denn Antje hatte behauptet: »Das versteht ihr nicht!« – da kam Andrees vom Strand zurück und stellte sich vor Ingeborg hin, die in der Sonne saß und nähte und sagte zögernd: »Du, Ingeborg, ich habe ein sonderbar Anliegen. Mein Haar und Bart wird allzu wild, und ich wage nicht, es selbst zu schneiden, und Reimer hat kein Zutrauen, so groß auch sein Ruf als Haarschneider seiner Kinder ist, und mit Antje ist das bedenklich.«

Sie sprang auf und trat mit der blitzenden Schere aus der Hütte; eine feine Röte war über ihr frisches, weiches Gesicht geflogen.

»Stehe still!« sagte sie; das Herz klopfte ihr.

Und sie sing an zu schneiden. »Ich habe dem Fritz auch das Haar geschnitten,« sagte sie.

»Ich habe es gesehen. Darum komm' ich zu dir.«

Sie schnitt mit zaghafter Hand, bog den Oberkörper zurück, wandte den Kopf hin und her, konstatierte ein schiefes Verhältnis und dachte: »Wenn er doch wegsähe!« Ihre Wangen brannten.

Da erkannte er ihre Not und sah steif gegen die Wand der Hütte nach dem aufgehängten Fell des Seehundes.

»Ich weiß nicht,« sagte sie zögernd, »hier am Ohr ist es eine schwierige Sache.«

»Wage es nur!«

Da versuchte sie es. Aber die Hand zitterte, und am Läppchen des Ohres zeigte sich ein roter Tropfen Blut.

Da warf sie die Schere in den Sand, stampfte mit dem Fuß auf die Erde und weinte.

»Na ... Ingeborg!... Nun weine doch nicht!« Und er nahm gutmütig und voll Mitleid die Schere auf und gab sie ihr wieder: »So kann es doch nicht bleiben. Du mußt näher herankommen.«

»Ich kann es nicht! Ich kann es nicht!« Sie hatte sich auf die Bank gesetzt und sah sehr unglücklich aus; ihre Augen waren voll Thränen, und sie knipste kopfschüttelnd mit der Schere. »Du mußt Mut haben. Nur zu!«

»Du bist mir zu groß!«

Da ließ er sich auf ein Knie vor ihr nieder und sah zu ihr auf, und langsam ging das Werk von statten, in der Weise, daß sie das Ohr in der Hand hielt, es säuberlich vor der wilden Schere schützend. Er aber, ihr Gesicht dicht vor sich, wunderte sich über die mancherlei Geister, die da ihr Werk trieben, und waren da traurige und halblustige, und war kein einziger böser darunter.


Am anderen Morgen ward es ein heißer Tag. Die beiden Männer waren mit den Pferden an den Strand gegangen, um mehrere wertvolle Ballen, Fässer und Ketten zu bergen, welche die letzte Flut angetrieben hatte. Da ging Ingeborg nach dem sogenannten toten Wasser. Reimer hatte es erprobt, daß es guten, festen Grund und nirgend abschüssige Tiefen hatte. Darum war Ingeborg empfohlen worden, dort zu baden.

So badete sie dort in der Morgensonne.

Frisch geworden und doch ein wenig müde, ging sie, das Haar noch gelöst, rasch über den heißen Sand und legte sich im Maifeld, mitten unter die Kräuter und Blumen, dicht neben die Wagenspur, die innerhalb der Dünenkette entlang ging, und fing an müde zu werden und dachte: »Wenn der Wagen kommt; wache ich auf.« Und dachte noch einmal: »Er darf mich hier nicht finden.« Und als sie einschlief, suchte sie ihn im Traumland und fand ihn bald, und er war freundlich zu ihr, und ein Zug von lächelndem Glück legte sich über ihr Gesicht. Sie wußte aber nicht, daß sie sich ihm absichtlich in den Weg gelegt hatte.

Als sie lag und schlief, kam er ganz allein durch das Kraut und die Blumen und dachte an sie, sah sie und stand, festgehalten zuerst von der Überraschung, dann von ihrem Liebreiz; denn ihre ganze Gestalt und die Züge ihres Gesichts waren rein, weich und voll wie eine frische Rosenknospe im Morgentau. Das lose Haar war wie mit feinem Gras und schüchternen, kleinen Blumen besteckt, und sie bot mit zurückgezogenem Kopf und ausgestreckten Armen den Anblick einer Bittenden. Das Gras wehte ein wenig, Lerchen sangen in der Nähe, in der Ferne schrieen Möven, die Luft war voll Kraft und Frische, und die Liegende gehörte zu dem allen und war das Schönste von dem allen. Da ließ er sich auf ein Knie nieder und sah auf sie, und zum erstenmal trat in seine Augen jener stille, reine Glanz, der die Liebe als ein Feuer von einem Herzen ins andere wirft.

Als er sie so ansah, wohl so lange, als eine Biene vorübersummt oder eine Möve schreit, erwachte sie unter seinem Blick, und auf der Schwelle des Traumlandes schlug sie weit und fröhlich die Augen auf und sagte langsam: »Hast du mich so lieb?« Dann aber lag sie schon auf den Knieen, und die Hände ausstreckend, bat sie ihn mit scheuen Augen: »Geh' weg! Andrees, geh' weg!« Und das Haar fiel über ihre Hände, mit denen sie das Gesicht bedeckte.

Er war schon fortgegangen, über die Düne nach dem Strand zurück, und kam erst gegen Abend heim.

Bleich kam Ingeborg zur Hütte.

Gegen Abend, als die Flut sich verlief, kam er heim und sah, daß Reimer die Pferde anschirrte, zögerte einen Augenblick und ging dann nach der Hütte. Da trat Ingeborg aus der niedern Thür, reisefertig.

»Ich gehe fort, Andrees!« sagte sie und sah nicht auf. Langsam gingen sie nebeneinander auf die Höhe der Düne. »Ich will nach Marias Grab sehen,« sagte sie.

Er nickte. »Du hast recht.«

Als sie oben nebeneinander standen, faßte er ihre Hand: »Du bist rein und stark; ich muß dich für mein Leben haben.«

Sie senkte den Kopf: »Es muß Zeit darüber hingehen, Anbrees!«

»Ich will auf Flackelholm bleiben,« sagte er, »so lange der Strandigerhof in fremden Händen ist. Ich will aber nicht unthätig sein, sondern ich will hier einen Deich und ein Haus bauen, Gräben und Dämme ziehen, das Watt untersuchen und Land gewinnen. Meine Väter haben mit dem Meer gekämpft, ich will es auch.« Er ballte die Hände, und seine Augen flammten düster. »Es ist viel versäumt und gesündigt; aus der Sünde soll Gutes kommen. Aber ich kann nicht verlangen, daß du dies Leben mit mir teilst.«

»Wo dein Leben ist, ist meins, Andrees. Das habe ich mit Maria gemeinsam, daß ich treu bin. Wenn du glaubst, daß es geschehen kann, dann rufe mich.«

»Ingeborg!«

»Wir müssen still und stark sein, Andrees.«

»Grüße meine alte Mutter! Um ihretwillen wollte ich, daß ich, bevor die Pachtzeit zu Ende ist, wieder auf Strandigerhof säße ... Aber Flackelholm soll nicht wieder vergessen werden.«

Sie standen noch eine Weile nebeneinander und sahen über das Land, das sich meilenweit aus dem Wasser hob.

»Das Grübeln ist vorbei; das Arbeiten hat angefangen.«

Dann gaben sie sich zum Abschied die Hände.


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