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Erstes Kapitel

Sie gingen gen Westen über das milde Watt. Es singt in diesem Land kein Vogel; es schreitet kein Mensch; es sprießt kein Halm. Grau und ganz nackend liegt das Land.

Wie am Morgen des ersten Tags.

Aber am Morgen heißt es wieder: Es werde!

Das Watt ist nicht tot; es giebt nichts Lebendigeres als das Watt. Da ist noch Schöpfung bei Tag und Nacht. Da wird gebaut. Wenn man sich niederlegt, hört man das Atmen des Watts, rieselndes, ruhiges Atmen, Quellen und Heben und Dehnen.

Die Leute am Strand erzählen, daß sie zuweilen fern im Watt einen Mann erkennen. Das Buttnetz auf der Schulter, steht er am Priel mit aufgekrempelten Ärmeln und die Füße nackt bis zum Knie. Die Flut kommt und steigt, aber er flieht nicht. Er bleibt ruhig stehen und arbeitet, und man sieht deutlich, wie er die Fische hinter sich in die Kiepe wirft.

Das Strandvolk sieht keine Elfen und Wichte und derlei loses und zierliches Zeug. Das Strandvolk sieht unheimliche Gestalten von mehr als Menschengröße. Sie sagen: Der Mann im Watt ist ein Fischer, der sich einst in seinem Leben um Gott und Menschen nicht kümmerte und manches Mal im Watt stand, wenn die Glocken vom Deiche her zur Kirche riefen. Nun ist er dazu verdammt, daß er ewig im Watt arbeiten muß.

Antje ging voran und erzählte mit lauter Stimme diese Geschichte und lachte geheimnisvoll: »Die Leute wissen es nicht besser,« sagte sie. »Nicht ein Bösewicht ist es, der da am Priel steht: im Gegenteil! Gott ist es! Der arbeitet auf der Dieksander Plaat mit aufgekrempelten Ärmeln und geht mit nackten Füßen über das Watt. Es kann wohl wahr sein: ›Und ruhte am siebenten Tag.‹ Aber am achten fing er wieder an ... Darum bin ich auch nie bange, wenn ich allein übers Watt gehe oder auf Flackelholm wohne.«

»Aber wißt ihr, was Heim Heiderieter, der Klugschnacker, sagt. Der sagt so:

Der Wattgeist.

Es liegt das Watt so weit und grau,
Der Westwind weht so weich und lau.
Komm', Kind! Wir gehn zu Lande!
Das Watt lebt auf, das Wasser schwillt,
Gieb her das Netz! Wir haben's hild;
Es rieselt überm Sande.'

›Nein, Vater! Siehst dort vorn im Watt,
Dort, wo das Meer den Blitzschein hat,
Den Mann am Wasser stehen?
Mir ist um Heimkehr noch nicht bang,
Wir thun noch einen guten Fang,
Eh' wir zur Mutter gehen.‹

›Der dort? ... Mein Kind, dem armen Wicht
Steht Angst und Sünde im Gesicht,

Den straft der Herr gebührend;
Hat einst in mancher schwarzen Nacht
Die Fischer draußen irr' gemacht,
An falschem Licht sie führend.

Nachts aus dem Elbstrom taucht er auf
Zu kurzem, bangem Lebenslauf
Und irret auf dem Sande.
Laut ruft er durch die hohle Hand,
Das Wasser steigt, kein Licht am Land,
Nie kommt er bis zum Strande.

Tags aber, wenn die Flut verrinnt,
Und kurzes Leben er gewinnt,
Kehrt wieder List und Schande;
Er steht und fischt viel Stunden lang,
Wer Fischer sieht's, hat guten Fang
Und – kehrt nicht heim zum Strande!‹

Der Junge lächelt überklug:
›Ach Vater! Das ist dumm genug,
Solch' Dinge giebt's mit nichten.
Die ganze Welt ist klar erkannt.
Wir gehn noch lange nicht an Land,
Wer will auf Fang verzichten?‹

Sie warfen wieder Netze aus,
Vergaßen Deich, vergaßen Haus
Und kamen nicht zu Lande.
Das Wasser kam, der Westwind sang,
Das Meer that einen guten Fang,
Und Mutter weint am Strande.

»Aber an einer Stelle fürchte ich mich, Andrees! Da drüben! Ich will es dir nachher erzählen.«

Sie faßte sein Pferd am Zügel und ging voran in das Wasser des Priels. Vor den Mond waren fliegende, dunkle Wolken getreten. Man sah nichts als Wasser. Reimers Pferd stutzte und wollte nicht hineingehen, hob den Kopf und schnob mit den Nüstern. Da kam Antje zurück und führte es hinein. Dabei sah sie mit pfiffigem Blick und irrem Lachen zu ihm auf und deutete mit der Hand auf den andern: »Paß auf, was er für ein Gesicht macht, wenn ich es ihm erzähle.«

Das Wasser ging den Pferden bis über die Kniee; langsam stiegen sie wieder hinan; langsam und still zogen sie über die weglose, graue Fläche.

Nach langer Wanderung kam die erste Bake in Sicht, ein schlanker Birkenstamm, mit weißgrauer Rinde. Sie haben ihn da oben aus der braunen Heide gerissen; nun muß er hier im grauen Watt für seltenen, wegeirren Wanderer Wegweiser sein. Sie ziehen müde vorüber, sehen ihn nicht an; keiner denkt daran, daß er einst in seiner Jugend, in silberweißem Rock, grüne, schwankende Zweige auf dem Hut, im Sonnenschein am Waldrand stand und über die Heide sah.

Der Westwind weht gegen die Wanderer an und rasselt in der kurzen, kahlen Krone der Birke. Es ist noch dunkler geworden. Andrees starrt still vor sich hin. Reimer versucht, irgend etwas zu erkennen, und war's das Allergeringste, einen Strauch oder einen Stein oder die Spur eines Menschen. Aber er sieht nichts. Graue Schatten stehen in der Ferne als schwerfällige Gestalten auf dem Watt.

Da fängt Antje Witt an zu erzählen.

»Hier war es, Andrees! Hier ist dein Vater in der Flut versunken, als er von Flackelholm kam. Erst wußten wir gar nicht, was da immer aus dem Watt nach dem Deich herüberrief. Nachher verstanden wir, was er rief: ›Holt den Schwarzen!‹ Das war das stärkste Pferd im Stall. Reimer war damals Jungknecht bei euch, der wagte es. Aber der Schwarze versank im Schlick und riß sich mit Mühe los und fuhr mit gesträubter Mähne über den Deich zurück. Sie haben auch anderes versucht. Das Boot konnten sie nicht weiterbringen; es lag wie Blei im Schlick. An dem Abend habe ich neben deiner Mutter zwei Stunden lang auf dem Deich gesessen, bis sein Rufen aufhörte. Weißt du, was er zuletzt rief? ›Laß unser Kind nie übers Watt gehen!‹ ... Haha.«

Andrees Strandiger drückte sich tiefer aufs Pferd. Antje sah mit funkelnden Augen auf ihren Bruder. »Wann kommt die Flut, Andrees?« sagte Reimer.

Der antwortete nicht. Er machte sein ganzes Leben wieder durch. Er stand neben seiner Mutter, ein kleiner Junge, auf dem Deich, und sie sagte zweimal rasch hintereinander: »Nie ins Watt! Andrees! Nie ins Watt! Ich habe nur das eine Kind!«

Antje griff nach dem Zügel seines Pferdes; ihre Schulter streifte zuweilen seine Füße.

»Warum gingst du mit, du Unglückskind? Du bist viel zu gut und fromm. Weißt du, wer mit mir müßte? Lena Strandiger, meine Herzallerliebste! ... Tritt dir die Füße wund, Lena! Zieh' das bunte Kleid aus und leg' dich auf die harten Muscheln, das soll deine Strafe sein .... Wir wollen auf Flackelholm wohnen, solange wir leben, aber kein Wort miteinander reden. Und kein Blick von einem zum andern. Und die beiden Hütten im Strandhafer weit voneinander! Was sagst du dazu, Lena?«

Er sah auf sie nieder und griff mit der ganzen Hand in ihr volles Haar und bog den Kopf nach hinten. Da sah er in Antjes lachendes Gesicht.

»Ach ... du?« murmelte er. »Was willst du auf Flackelholm?«

Antje kehrte sich um: »Wir müssen ein wenig nach rechts vorwärtsgehen; dann sind mir bald bei der Kreuzbake.«

Sie zogen weiter.

»Ich sehe noch nichts, Antje. Wann kommt die Bake?«

Antje hob die Hand: »Siehst du? da ist sie! Nicht um einen Schritt habe ich mich geirrt. Da geht der Weg!«

»Weg?« sagte Strandiger und hob den Kopf: »Was redest du von Weg? Ich sehe nicht Weg, noch Steg.«

»Überall ist Weg, Andrees; aber nur einer ist richtig.«

»Manchmal zwei, Frau Weisheit.«

»Nein!« sagte Antje. »Die andern gehen alle in den Schlick.«

»Ruhig, ich kann's nicht hören!« Er schlug mit der Hand auf den Sattel: »Wo liegt das neue Land?«

»Wir haben noch zwei Stunden Weg.«

Sie versanken in Schweigen. Nach einer Weile hob er wieder den Kopf; ein unruhiges Licht war in seinen Augen aufgeflackert: »Mir graut vor dieser Nacht,« sagte er zusammenfahrend.

So zogen sie Schritt für Schritt weiter, bald über weite, sandige, feuchte Flächen, in welche die Hufe der Pferde nur wenig einsanken, bald über lang sich dehnende weiße Muschelbänke. Dann kamen sie über Flächen, über denen in kleinen eilenden Wellen flaches Wasser rann: ein weites, fruchtbares Feld, auf dem einst Häuser und Bäume stehen werden, »und der Pflug Furchen ziehen und die Kinder ihren Reigen tanzen werden! Einst! Nach hundert Jahren!

Jetzt schläft es noch.

Von Westen her, aus weiter Ferne, kam dumpfes Rauschen, immerzu, wie rollender ferner Donner, der sich lang hinzieht. Antje horchte darauf und richtete den Weg ein wenig mehr nach Norden und deutete dahin, woher das Getöse kam; und erst verstanden sie nicht, was sie sagte, bis sie hörten, es wäre die Norderelbe, deren Wogen gegen das Ufer des Watts brandeten. Da sahen sie auch in der dämmernden Ferne drei oder vier Lichtmassen, mächtige Schiffe, die Kurs auf Helgoland hatten.

Das Wandern schien kein Ende zu nehmen, und es war, als wenn es überhaupt kein Land gäbe, kein grünes Gras, keine Menschenwohnung. So fern erschien die bewohnte Erde, so öde und ohne Grenzen das graue, stille Watt. So wanderten sie noch zwei Stunden, nachdem sie die Kreuzbake hinter sich hatten.

Antje ging sicher und ruhig vorwärts; vor ihrem innern Auge stand der ganze Weg, den sie zurückgelegt hatten. Sie wußte genau – mit dem Finger hätte sie dahin zeigen können, wo Flackelholm lag. Das Rauschen der Brandung hatte ihr nur bestätigt, daß sie richtig führte.

Da erkannten sie vor sich an den größeren Wellen den letzten Wasserlauf.

»Seht ihr?« sagte Antje. »Ganz richtig gehen wir! Da ist der Flackstrom, nach dem Flackelholm seinen Namen hat. Seht ihr dort die Boote? Das sind die Störfischer. Sie kommen von Hannover herüber in unsere Priele. Die sind nun deine nächsten Nachbarn, Andrees. Nun sind wir bald auf Flackelholm!«

»Ich seh' nichts!« sagte er. »Wann kommt die Sonne?«

Und wie er noch angestrengt vor sich hin sah, kam von rückwärts, vom alten Land her, ein heller Schein. Morgenrot flog mit leichten Füßen über die Erde. Von seinen roten Locken leuchteten die Wolken und das Watt. Er streckte seine Hand aus, und mit einem Aufschluchzen sagte er:

»Ich seh' Flackelholm. Es schwimmt auf dem Wasser!«

Da lag jenseits des Wasserlaufs, in der Ferne, ein schmaler, dunkler Streifen wie eine gerade Linie; dahinter ragte eine unregelmäßige Reihe von niedrigen Hügeln, die weißlich schimmerten. Weitum aber am Horizont, zwischen den Hügeln und in den Niederungen, in denen die Dämmerung noch ihre Nebel braute, standen dunkle, große Massen, als mären es Wälder oder altes Mauerwerk oder schwarzer Erdwall. Über dem ganzen Bild lag die ernste, erwartungsvolle Stimmung des zweiten Schöpfungsmorgens.

Nebeneinander ritten sie durch den Flackstrom. Andrees sah stumm vor sich hin auf das neue Land; Reimer, von dem rasch fließenden Wasser wirr gemacht, sah nach dem Himmel empor; Antje ging gleichmütig, langsam und sicher durch das kalte Wasser, das ihr bis an den Leib reichte.

Jenseits des Stromes hob sich das Watt. Die Erde wurde fester; doch war es noch immer grauer Schlick. Dann kam die erste kleine, grüne Insel, zwei oder drei Meter groß, einen Fuß hoch überm Watt, von allen Seiten von der Flut umspült, wie angebissen. Dann kam das zusammenhängende Land, schon freundlich mit den ersten schüchternen Blumen, mit buntem Kraut bekleidet.

Andrees sah blaß vor sich hin; seine Hände lagen fest ineinander auf dem Sattelknopf.

Sie ritten gegen die Sandhügel an. Dann traten die Hügel ein wenig zurück; die Sonne schlug leise die Augen auf: Da lag im Schutz der Düne die Hütte, von Strandholz erbaut, daneben die andere, kleinere, eine Blockhütte aus aufeinandergelegten Bohlen. Ein mächtiges Bambusrohr, das einst angetrieben war, ragte als feuergefährliche

Schornsteinspitze über das Dach. Auf der andern Seite erhob sich ein starker Mastbaum als Flaggenstock.

Andrees Strandiger stieg vom Pferde und wanderte diesen Tag über die Düne und den endlosen Strand, ein Ruheloser. Gegen Abend erhob sich mit der kommenden Flut ein Wind, der gegen zehn Uhr zum Sturm wurde. Es war jene Nacht, in der die dickbäuchige, schwarzgeteerte Holländer Kuff gegen den Büsener Deich jagte; der Kapitän machte große Augen, meinte, er wäre irgendwo bei Kuxhafen aufgelaufen. Der ganze Strand lachte.

Von fern her über die Düne kam das furchtbare Brausen und Donnern der Brandung, kam der Sturm gleich vielen tosenden, schreienden Menschen. Sie sprangen mit schweren Füßen durch den Sand und schlugen, wildlachend, mit harten Fäusten.gegen die Balken. Sie sprangen mit mildem Sprung von der Düne auf das Dach und faßten den Stock und schüttelten den starken Baum, daß die Hütte bebte. Sie wollten alle hinein zu Andrees Strandiger und ihm erzählen, wie sein Vater in den Tod gegangen, wie seine Mutter daheim saß und meinte, und was Maria Landt ihm zu sagen hatte, die auf der Bahre lag.

So wehrten sich die milden Geister des einsamen Landes gegen die Ankunft der Menschen und suchten sie durch ihre wilden Lieder zu erschrecken.

In dieser Nacht, in welcher der Sturm bis zur Morgenröte anhielt, sah Ingeborg zusammengekauert am Bett der Blinden und redete mit sich selbst. Sie versuchte zu erkennen, was an Leben, Fehlern und Erfahrungen hinter ihr lag, und sie war nicht weich gegen sich. Sie erkannte, daß sie vom Sonnenschein gelebt und an Unwetter nicht gedacht hatte. Sie erkannte, daß jegliche Grundsätze ihr gefehlt, und daß sie es versäumt hatte, Ereignisse in Erfahrungen zu verwandeln. Sie erkannte, daß sie ihre religiöse Überzeugung, auf die sie so stolz gewesen, als ein Feierkleid getragen hatte, als Josephs bunten Rock, der in. Regen und Kälte nichts wert war. Aber sie war noch jung; sie war stark und frisch. Sie war weit entfernt zu verzweifeln; sie machte sich in dieser Nacht daran, das Werktagskleid, stark und fest, ihres Lebens zu weben.

 


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