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Erstes Kapitel

Telsche Spieker trat mit der Lampe, die sie in der Küche in Ordnung gebracht hatte, an den Schreibtisch: »Soll ich sie anzünden?«

Heim hob den Kopf und sah mit verständnislosen, großen Augen vom Buch auf: »Anzünden?«

»Sieh' mich nicht so dumm an, Heim! Ich will dich nicht anzünden, auch nicht dein stolzes Haus, nur diese Lampe.«

»Ja, Telsche, wenn du meinst?«

»Du kommst wohl weit her? Woher stammt das alte Schweinsleder, über dem du Sehen und Hören vergißt? Vier Wochen bist du jetzt zu Haus und sitzt und starrst in das dumme Buch.«

»Es ist ein altes Kirchenbuch, Telsche, Respekt davor! Glaubst du wohl, daß das Watt da draußen schon bebaut gewesen ist? Da haben Häuser und Kirchen gestanden, Telsche, da draußen im Watt unter den hohen Wellen. Ungefähr da, wo jetzt Flackelholm liegt, da muß die Kirche gestanden haben: St. Andreas-Kapelle.«

»Nun, und?« sagte Telsche. »Was geht dich die alte Kirche an, die unter den Wellen liegt? Kümmere du dich um die Kirche, die mitten im Dorf steht. Da gehst du nicht hin!«

»Ich geh' doch zuweilen in die Kirche, Telsche!«

»Ja, du gehst. Ich glaube aber, du gehst mehr, um zu sehen, als um zu hören. Um Ingeborg Landt zu sehen, darum gehst du in die Kirche.«

»Das ist eine schwere Anschuldigung!« sagte Heim und stand langsam auf und ging auf sie zu. Er sah sie finster und starr an; in den Winkeln der Augen zuckte Schelmerei.

Da verließ sie eilend die Stube.

Bald darauf trat Ingeborg Landt in den Saal. Hinter ihrer schlanken Erscheinung zeigte sich Telsche Spiekers kleinere, breitere Gestalt.

»Siehst du?« sagte Telsche. »Dabei versitzt er nun die Zeit. Tags stapft er durchs Watt, abends durch die alten dummen Bücher. Vier oder fünf Stunden hat er gepflügt. Heute nachmittag kam er aber schon um vier wieder. Da sagte er, er könnte es nicht mehr aushalten, seine Gedanken ständen vor langer Weile auf dem Kopf. Seine Gedanken! Was das wohl für Gedanken sind! Faulheit ist es! Und wir haben noch zwei Morgen Kartoffeln in der Erde.«

»Wo ist der Knecht?« sagte Ingeborg. »Das jährige Kalb hat sich losgerissen, und der naßkalte Wind weht in den Stall. Kannst du gar nicht ein wenig nach deinem Haushalt sehen, während Telsche mit dem Knecht auf dem Felde ist?... Du solltest wenigstens zuhören, wenn man mit dir redet.«

»Siehst du? Siehst du?« sagte Telsche. »Er liest schon wieder.«

»Ich lese nicht, Ingeborg; ich schlage nur die Augen nieder.«

Da nahm Telsche Spieker sich des Schelmen an, wie sie immer that, wenn er angegriffen wurde: »Laß ihn man, Ingeborg! Wir machen ihn doch nicht anders, als er ist. Er ist wie sein Vater. Der hatte auch mehr Interesse für Bücher als für den Kuhstall.«

Heim hob den Kopf: »Das war ein verständig Wort, Telsche.«

»Ja,« sagte Ingeborg, »wenn du nur was Ordentliches fertig bringst. Was treibst du da?«

»Liebes Kind!«

»Ich bin nicht dein ›liebes Kind‹! Mit welchem Gesicht er das sagt, Telsche!«

»Ich wollte sagen: Ich muß mich erst an die neue Lebensart gewöhnen. Wenn einer gestern auf der Universität war, kann er doch nicht heut' den ganzen Tag in den Kartoffeln liegen!«

»Wenn einer fünf Jahre lang faul gewesen, darf man annehmen, daß er vor Eifer brennt, zu arbeiten.«

»Liebe Ingeborg!«

»Still! Was arbeitest du?«

»Ich will die Geschichte dieser Gegend, unserer Heimat, kennen lernen und besonders die Geschichte ihrer ersten Besiedelung.«

»Ich möchte wissen,« sagte Ingeborg rasch, »was das für einen praktischen Zweck hat. Es ist doch gleichgültig, ob zuerst dieser Koog eingedeicht würde oder jener. Und Liebhabereien, weißt du, die treibt man nach Abendbrot oder am Sonntagnachmittag.«

Heim wiegte den Kopf hin und her: »Ach, Ingeborg! Praktischer Zweck! Die Wissenschaft ist um ihrer selbst willen da.«

»Unsinn! Wenn sie mir oder meinem Nachbar nichts nützt, kann sie mir im Mondschein begegnen!« Sie trat an den Schreibtisch und blätterte achtlos in dem alten Protokoll. »Du mußt eine Geschichte der Landschaft schreiben, oder« ... sagte sie und sah ihn mit den großen, grauen Augen an, als säh' sie ihn zum erstenmal und wunderte sich über diese Erscheinung: »Mensch, du bist so kraus wie dein Haar. Ich glaube, du könntest so was wie einen Roman schreiben, einen historischen. Er würde freilich Auswüchse haben, aber die schneiden wir ab, Frisius, Telsche und ich.«

Er schlug mit der Hand schwer auf den Tisch: »Wer weiß, Ingeborg, was noch werden mag! Das Kartoffelaufkriegen, weißt du...«

Da ging die Thür, und Maria Landt trat herein und sagte: »Andrees kommt morgen!«

»Andrees?! Andrees?!« Die beiden am Schreibtisch waren aufgestanden und sahen auf die Erscheinung in der Thür.

Maria trat in ihrer ruhigen, weichen Weise näher, eine dunkle Schönheit mit kräftigen Formen, während Ingeborg größer und schlanker war. Hinter ihr her war der kleine, vierjährige Fritz Witt in den Saal getreten.

Ingeborg trat ihr rasch entgegen: »Hat er geschrieben? An dich?«

»Ja, er kommt morgen!« sagte sie in ihrer unsicheren Art. »Er bringt Franz Strandiger und dessen Schwester und Mutter mit.«

Heim wunderte sich und grübelte; Ingeborg aber sagte plötzlich aus tiefster Seele: »Nun bin ich neugierig!«

»Du, Heim!« sagte Maria, »ich habe den kleinen Fritz mitgebracht. Er ist sonst immer so gesund; nun hat er mit einem Male Ausschlag. Sieh' mal!« Sie kniete neben dem Kleinen nieder und zog ihm die vielgeflickte Jacke aus. Dann schob sie das Hemd von den Schultern. Das alles that sie mit einem stillen Ausdruck in dem blassen Gesicht und mit geschäftigen Händen.

»Da! Siehst du? Das geht fast den ganzen Rücken hinunter. Die Wirtschafterin meint, es ist eine Art Schorf oder Flechte.«

»Es ist entschieden Flechte, Maria.«

»Dann müssen wir Salbe haben, oder vielmehr, wir müssen eine machen.« Sie sah in Gedanken vor sich hin: »Das ist so traurig,« sagte sie. »Wir haben Ärzte und Apotheken genug, aber die große Zahl der kleinen Leute leben so hin in ihren Krankheiten und Gebrechen, weil Arzt und Arzeneien zu teuer sind. Wie viele könnten geheilt, fröhlich und stark werden. Nun müssen wir Quacksalber spielen, so ungern wir es thun. Was meinst du, Heim?«

»Wir müssen Holzkohlenteer nehmen.«

»Ja, das meine ich auch. Als Ingeborg klein war, hatte sie Flechten, da wurde ein Arzt gefragt, und es gab eine seine, bunte Schachtel, eine rechte Apothekerschachtel.« Sie schüttelte traurig den dunklen Kopf. »Es ist eine verkehrte Welt. Die Ärzte lernen mit Unterstützung des Staats, das Volk aufzuklären, Krankheiten zu heilen. Wenn sie es aber gelernt haben, dann liegen die Verhältnisse so, daß ihre Kenntnisse für einen großen Teil des Volks schwer zugänglich sind um des elenden Geldes willen.«

»Telsche, den Teereimer!«

Telsche schrie aus der Küche: »Den Teereimer?«

»Nun werd' ich schwarz,« sagte Fritz.

Die andern lachten. Maria aber behielt ihr stilles Gesicht. Keiner erinnerte sich, Maria Landt fröhlich gesehen zu haben. Sie war immer schön, still, freundlich, aber nie fröhlich.

Als sie den Kleinen ausgezogen hatten, teerten sie ihn. Heim wollte es besorgen: »Du kriegst schwarze Finger, Maria.« Aber Fritz hatte kein Zutrauen: »Du kannst es nicht.« Und Maria sagte: »Ich will es selbst.« Dann brachten sie ihn nach der Küche, damit er neben dem Herde trocknete. Ingeborg war fortgegangen. Nun machte sich auch Maria auf.

»Gehst du mit. Heim? Frau Witt ist wieder recht schwach.«

»Die Witts haben immer Unglück,« sagte Telsche kurz. Telsche mochte die Witts nicht leiden, besonders die Frau nicht.

Maria hörte nicht auf sie: »Sie hustet stark, und mit Antje ist nichts anzufangen. Sie wird immer wunderlicher.«

»Es liegt an den Jahren,« sagte Telsche, »sie hat die Vierzig erreicht.«

»Sie redet immerfort von Andrees, der soll ihr helfen. Es ist ein Elend!«

»Ich geh' mit dir, Maria.«

Sie traten zusammen in Reimer Witts Haus. Es war das erste im Eschenwinkel; gleich am Fuß der Düne stand es, unterhalb des Heidehofs. Als sie wieder heraustraten, wollte Maria ihrem Begleiter die Hand zum Abschied geben.

»Ich geh' mit dir bis zum Strandigerhof.«

Mit gesenktem Haupt ging sie neben ihm her. Es war ein nasser, nebliger Septemberabend. Er sah in der Dämmerung auf ihrem unbedeckten dunklen Haar die hellen Wassertropfen. Sie war, so lange er sie kannte, der Gegenstand seiner brüderlichen, ehrerbietigen Liebe gewesen, und sein weiches Herz hätte ihr gern geholfen; er wußte aber nicht – niemand wußte es –, was auf ihr lastete. Es war wohl kein bestimmtes Ereignis, was sie so still machte; es war von Kind an in ihr. Der beständige Umgang mit Frau Strandiger mochte das seine dazu gethan haben. Ingeborg war zu Pastor Frisius und Lehrer Haller gesprungen und über die Heide gelaufen, daß ihr langes Haar hinter ihr drein flog; Maria aber hatte bei der stillen Frau gesessen, deren Augen erblindet und deren Lebensmut in jenen Stunden gebrochen war, da sie den Tod ihres Mannes ertragen mußte. Maria war so still und so tief wie das Wasser des Wehls und so schwach und weich wie die Weiden am Wehl. Sie hatte sich nach der Richtung hin weiter entwickelt, die Andrees nicht leiden mochte, damals, als sie Kinder waren.

Der Westwind, der müde Wattläufer, stieg mit schweren Wasserstiefeln ans Land und ging, leise vor sich hinsingend, an ihnen vorüber. Es war ein traurig Lied, das er sang. Andrees wird Maria Landt erst recht nicht leiden mögen, wenn er nun wiederkommt.

Da war eine Lücke in den Weiden und ein Steg zum Wasserholen.

Damals, beim Deichbruch, sind auch weiße Meerfrauen ins Land getrieben, vom Sturm erschreckt, kraftlos gemacht und wider Willen nach vorn geworfen. Sie haben sich hoch aufgebäumt – man hat sie deutlich gesehen –, aber sie haben doch mit über den Deich gemußt. Als dann über Nacht der Wind umsprang und das Wasser aus dem Lande jagte, da konnten sie nicht wieder zurückkommen. Zu eng war die Öffnung, und nur auf hoher, schäumender Welle gleitet die Meerfrau. Also blieben sie in dem Wehl. Manches Mädchen haben sie erschreckt, die, Wasser holend, in der Dämmerung aus den Weiden trat. Laut schreiend warf sie die Eimer hin und kam erst wieder in Begleitung dessen, dem sie vertraute, daß er sie genügend schützen würde. Eine aber, da sie sich bückte, um das Wasser zu schöpfen, sah das todtraurige Gesicht der Frau. Ein Schwindel erfaßte sie, eine Begier, sagt man, sie zu umarmen, mit ihr zu weinen. Sie stürzte vornüber und ertrank.

Maria schaute zwischen den Weiden durch in das Wasser. Ihr Schritt ging wie tastend hin und her, und es war, als wollte sie stehen bleiben. Da berührte Heim ihren Arm: »Du mußt dich aus den Träumen reißen, Maria.«

Sie hob den Kopf nicht und ging weiter und that, als hätte sie sich aufgerafft, aber sie hielt den Kopf seitwärts und hörte auf das Flüstern und Reden im Schilf. »Andrees kommt heut' abend,« sagte Heim leise.

Sie neigte wieder den Kopf: »Ich denke daran. Aber ich wollte dich fragen: Was meinst du, muß Reimer Witts Frau sterben?«

»Ja, Maria! Das weißt du. Du hast schon manchen Kranken und Sterbenden gesehen, so jung du bist. Du weißt, daß sie sterben muß.«

Sie holte schwer Atem, und ihr Gang wurde langsam: »Sie hat nichts vom Leben gehabt, gar nichts.«

»Doch, Maria! Ihre Jugend, ihre Liebe, ihre Kinder. Wir müssen mit wenigem zufrieden sein.«

»Aber die einen haben nichts als Lachen, Glück und Fülle, und die andern ...«

»Der Schein trügt oft, Maria ... Im übrigen ist es wohl Gottes Wille.«

Sie schrak zusammen: »Das kann nicht sein, Heim. Es ist sicher gegen Gottes Willen. Als Gott die Welt schuf, sagte er: ›Es ist sehr gut.‹ Jetzt ist es nicht sehr gut. Man kann es nicht verstehen, und es ist schwer zu tragen.«

Er faßte nach ihrer Hand; »Du mußt dir solche Gedanken nicht machen, Maria, du bist zu jung, nicht viel über zwanzig, und gesund, und wir haben dich alle lieb. Sieh' mal, Ingeborg hat sich viel unter Menschen bewegt, hat manche Stunde bei Haller und Frisius verkehrt, ist auch dann und wann in die Stadt gefahren – wir haben ja nun den Bahnhof in der Nähe –, nun hat sie helle Augen und ist fröhlich und kann lachen, wie es für ihre achtzehn oder neunzehn Jahre paßt. Du aber sitzt immer bei Tante Strandiger, die schwach und mutlos und voll trauriger Erinnerungen ist. Komm recht häufig zu uns, Maria, zu Haller und Frisius und mir!«

Sie schüttelte den Kopf: »Ich kann nicht fröhlich sein. Ich muß immer an alle und an alles denken, an die Kranken und die Traurigen und die Toten. Ich sehe alles im Leid, und mir ist, als wenn ich nicht in mir wäre, sondern draußen auf der Wanderung, die Traurigen zu besuchen. Bei Reimers Frau bin ich; die ganze Nacht höre ich ihre Stimme. Ich denke, was sie denkt. Jedes der Kinder liegt mir am Herzen. Ich wundere mich, daß ich nicht auch huste wie sie, so mühselig, so krampfhaft. Auch an Andrees denk' ich.«

»Was denn, Maria?«

»Das geht nicht gut, Heim. Ich weiß es. Seine Briefe an seine Mutter sind so leer. Und er bringt die anderen mit. Erinnerst du noch das Bild von Lena Strandiger, auf dem sie mit den weißen Zähnen lacht? Hinnerk Elsen ist nach der Stadt gefahren, sie zu holen. Sie können bald hier sein. Was wird das werden?«

»Es ist dieses trostlos trübe Wetter, kalt und naß, das macht dich mutlos.«

Zwischen den beiden ersten Ulmen, mächtigen alten Bäumen, blieb sie stehen: »Vielen Dank, Heim! Ich freue mich, daß du wiedergekommen bist. So wie du weggingst, bist du wiedergekommen. Geh morgen wieder zu Reimers Frau! Hörst du, Heim? Vergiß es nicht. Es thut ihr gut. Du bist so fröhlich.«

Da ging er langsam, in trüben Gedanken, den Weg zurück. Die naßkalte Dämmerung hatte auch nach seinem Herzen gegriffen.

Maria stand noch eine Weile. Die Hand gegen den Baum gelehnt, sah sie nach dem Wehl zurück. Sie sah nur den hellen Rand und glaubte zu hören, wie die kleinen Wellen und das Reth rauschten. Da löste sie ihre Hand langsam, widerwillig vom Stamm und ging den Weg zurück. Sie bog die nassen Weidenzweige sorgsam beiseite und ging hinunter und stand auf dem Steg. Zu beiden Seiten standen wie Menschen an einer Pforte die vielen geraden Rethhalme und steckten die Köpfe zusammen: »Ja,« sagte sie, »gut geht das nicht. Er ist hochmütig und hart geworden. Es saß schon damals in ihm, als er noch bei mir war.« Sie ließ sich auf ein Knie nieder und saß so, sich seitwärts an den Holzpfahl lehnend, auf dem der Steg ruhte. Und wie sie so saß, vergaß sie die Kälte und die Dämmerung und ging träumend, grübelnd den Weg ihrer Kindheit.

Drinnen saßen in weichen Wagenkissen Andrees, Lena und Franz. Frau Strandiger, ihre Mutter, wollte in wenigen Tagen nachkommen. Die Scheiben klirrten leise; ein feiner Wohlgeruch war durch den ganzen Raum gedrungen. Lena Strandiger drückte ihre feinen Glieder und ihren schwarzen Kopf in die Polsterung und sah aus halbgeschlossenen Augen auf Andrees. Der grübelte still vor sich hin.

Draußen auf dem Kutschersitz, in Nebel und Nässe, saß Hinnerk Elsen und sann, so weit es sich mit seiner Gewissenhaftigkeit als Mensch und Kutscher vertrug, über die Zeit nach, da er mit Andrees in den Sandlöchern am Heiderand oder im Schlick des Vorlands gespielt hatte. Es waren aber alles ruhige, ebene Gedanken. Hinnerk Elsen ist nur zweimal in seinem Leben aus der Fassung gekommen.

Im Wagen erzählte Franz von den letzten Jahren, die er als zweiter Verwalter auf einem posenschen Gut zugebracht hatte. Sein kurzgeschorener, bedeutender Kopf begleitete seine Auseinandersetzungen mit gemessenen Bewegungen. Zuletzt sagte er: »Du, mein Freund, hast kein Interesse für dein Land! Du solltest den ganzen Besitz verpachten. Dein Verwalter wird auch alt.«

»Ich habe es auch gedacht, Franz. Aber so lange Mutter lebt, wird es schwer gehen. Sie kann es sich gar nicht anders denken, als daß ich den Hof übernehme.«

»Dann wolltest du hier leben?« fragte Lena. »In dieser Einsamkeit? Du? Wie lange denkst du das auszuhalten?«

Er sah mit unsicherm Blick auf die Sprechende, die sich so nachlässig in die Polster zurücklegte: »Nun, ich brauchte ja nicht immer hier zu sein. Ich könnte wochenlang verreisen.«

Die beiden Geschwister sahen sich an: »Er ist ein Starrkopf!« sagte der Blick des Bruders. Aber die weichen, dunklen Augen der Schwester spotteten: »Es ist eine Kleinigkeit für mich!«

»Draußen erscheinen Lichter,« sagte Lena und hob ein wenig den Kopf.

»Das Dorf!« Nach einer Weile sagte er: »Hier rechts kommt die Schule.« Dann beugte er sich plötzlich gegen die Scheibe: »Da, wahrhaftig! Da sitzt Heim Heiderieter bei der Lampe am Schreibtisch! Das sieht gemütlich aus!«

Jetzt fuhren sie die Düne hinunter.

»Was sind das für Häuser zur Rechten?«

Andrees mußte sich aus sonderbaren Träumen reißen: »Ach, du weißt doch! Der Eschenwinkel. Es war eine endlose Schreiberei wegen der Häuser.«

»Ich sage dir: Verpachte das Ganze!«

»Sieh da! Der Wehl! Die Weiden stehen hoch.«

Maria Landt schrak vom Steg auf: »Da ist er!«

Sie dachte nur an Andrees.

Der Wagen kam zwischen den Ulmen hervor. Der Kies knirschte. Ingeborg stand in dem Zimmer, das rechts von der Hausthür liegt, in welchem der junge Hausherr wohnen sollte. Sie lehnte die Schulter fest gegen das Fensterkreuz und hatte das Bild von Lena Strandiger, das mit den weißen Zähnen, dicht vor den Augen und beobachtete es mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen. Sie dachte nur an Lena Strandiger.

»Da ist sie.«

Sie saßen in dem gemütlichen, großen Wohnzimmer, das gegenüber der Thür liegt, Andrees und seine Mutter und Franz und Lena. Ingeborg war einen Augenblick im Flur aufgetaucht und hatte die Gäste mit einem kurzen, hochmütigen Nicken ihres blonden Kopfes begrüßt. Als sie aber sah, wie Mutter Strandiger weinend in den Armen ihres Sohnes lag, war sie die Treppe hinaufgeeilt und war noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Maria war nach dem Eschenwinkel gerufen worden.

Die Einrichtung war einfach, altmodisch; aber es war gemütlich in dem großen, behaglichen Raum mit den mächtigen Deckbalken, dem großen, weißen Kachelofen und den drei hohen Fenstern. Und Frau Strandiger mit den unsicheren Bewegungen – sie war damals schon fast blind –, in dem schwarzen Wollkleid, paßte da gut hinein.

»Ich habe alles gelassen, Andrees, wie es war, draußen und drinnen. Du bist nun Herr. Ich bin mit Maria und Ingeborg in den Stock gezogen. Hier unten sollst du walten.«

Sie schwiegen alle.

Dann sagte Andrees beiläufig: »Lena hat ja einen guten Geschmack, Mutter. Die kann ja etwas ändern, wie es ihr scheint.«

»Es kommt ja auf ein paar tausend Mark nicht an,« sagte Franz mit kurzem Lachen.

»Nein,« sagte Andrees, »die wären wohl über.«

»Maria meint,« sagte Mutter Strandiger mit ihrer ausdruckslosen Stimme, »du müßtest zuerst etwas für den Eschenwinkel thun.«

Franz warf Andrees einen kurzen, spöttischen Blick zu und trat ans Fenster. Gleich darauf kam seine Schwester zu ihm.

»Es ist langweilig,« sagte sie, »langweiliger als ich mir dachte. Man kann kein verständig Wort mit dieser guten Frau wechseln. Wenn man keine Augen mehr hat?! Und die Mädchen scheinen keine Idee von Lebensart zu haben. Ich habe keine Lust, mich wegen deines Planes in diesem öden Haus zu langweilen, und habe Neigung, bald wieder abzufahren.«

»Und was willst du dann? Wovon willst du leben? Weiter von der Abhängigkeit des Onkels, unter der wir stehen, so lange wir denken können? Warte noch vierzehn Tage oder vier Wochen, dann quält ihn diese Öde und Eintönigkeit. Dann reist du mit ihm in die weite Welt, und ich pachte den Strandigerhof. So ist uns beiden geholfen.«

»Aber dein Plan hat Gegner.«

»Gegner?« Er warf einen Blick durchs Zimmer. Frau Strandiger war hinausgegangen. Aber im Thürrahmen standen plötzlich zwei Gestalten, die sahen aus wie Gegner.

Es war ein hohes, blondes Mädchen und eine starke, kräftige Arbeiterfrau von etwa vierzig Jahren, mit dunklem, sonnverbranntem Gesicht und blanken, hilflos flackernden Augen.

»Guten Abend, Andrees!« rief Ingeborg mit ihrer klingenden Stimme. »Hier bring' ich dir Antje Witt. Sie kann es nicht aushalten, dich zu sehen.«

Antje Witt blieb ängstlich an der Thür stehen und wendete Kopf und Augen hin und her.

»Nun sag' deinen Spruch, Antje!« mahnte Ingeborg.

»Guten Abend, Andrees, guten Abend! Du weißt, was für ein Unglück ich habe ... seit über zwanzig Jahren.«

»Ich weiß!« sagte Andrees, »seit dem Tage von Gravelotte. Kannst du dir das nicht aus dem Kopf reden?«

»Ja, Andrees, siehst du ... du siehst so fein aus, und ich habe dich doch auf dem Arm gehabt, damals vor dem Krieg, als ich hier diente ... So hab' ich immer gethan!« Und sie hob beide Arme und wiegte sie hin und her. »Aber sie sagen, ich bin nicht ganz bei Sinnen.«

»Ach, Antje!« rief Ingeborg dazwischen. »Mach' nicht lange Reden! Daß Andrees sich freut, dich zu sehen, ist selbstverständlich. Man heraus mit deiner Bitte!«

»Ja, Andrees! ... Der Pastor meint das auch und auch Heim. Nämlich! ... Ich weiß doch nicht, ob Heinrich Thiel wirklich bei Gravelotte geblieben ist. Und ich glaub' es nicht. Er war ja so stark. Er trug die Zweihundertpfundstonne Bohnen so leicht über die Diele, und er sagte auch ganz bestimmt, er wolle sofort wiederkommen, wenn der Krieg aus wäre. Und weil es nun doch gar nicht so weit ist, dahin zu reisen, nur ein Katzensprung, sagt Heim, so solltest du mir Geld geben, du und das Kirchspiel, vielleicht würde ich ihn finden oder sein Grab. Oder ich würde all die Gräber sehen, die vielen tausend Gräber, die da sein sollen, und dann, meint Heim, würde ich nicht mehr sagen, daß er noch lebt und würde nicht mehr mit ihm reden und würde schlafen können. Gestern, im Watt, Andrees, bin ich ihm begegnet. Es ist gewiß wahr.«

Andrees wollte ruhig und freundlich antworten. Da fing er den Blick auf, mit dem Lena ihn ansah. Er kannte die Augen und was sie sagten: »Du bist und bleibst ein Dorfjunge, Andrees.«

Ingeborg rief dazwischen: »Man los, Antje. Wir sind alle Christenmenschen.«

»Es ist keine passende Zeit, Ingeborg, wie du siehst. Ich will deine Bitte beim Kirchspiel vorbringen, Antje. Aber ich glaube kaum, daß die Reise Zweck hat. Heiderieter hat wunderliche Einfälle.«

Ingeborg sah mit großen Augen auf ihn. »Heim!?« sagte sie. »Aber Maria sagt es auch. Sie sagt, Antje muß das Schlachtfeld sehen; die vielen Gräber.«

»Ja,« murmelte Antje, »das muß ich.«

»Du sagtest vorhin, du wolltest diese Stube neu einrichten,« rief Ingeborg. »Auf tausend Mark käm's dir nicht an. Ich hörte es, als ich in der offnen Thür stand. Du kannst diese Seele für hundert Mark neu einrichten. Aber wie du willst! Du bist ja der Herr. Komm', Antje! Wein' nicht! Wir sammeln unsere Groschen zusammen. Auch bei den Leuten im Eschenwinkel sammeln wir, und Heim Heiderieter giebt uns auch was, wenn er was hat.«

»Der hat nichts,« schluchzte Antje.

»Du mußt nicht weinen. Nun geh' in die Küche.«

Als sie sich wieder nach dem Zimmer zuwandte, stand Andrees vor ihr: »Ich will dich doch vorstellen, Ingeborg Landt.«

»Ich weiß ja, Andrees,« sagte sie und versuchte ruhig und freundlich zu sein. Sie standen sich gegenüber: Ingeborg hoch, blond und blaß, Lena Strandiger dunkel, zierlich, weich, viel kleiner. Franz Strandiger hatte sich aus seiner lässigen Haltung aufgerichtet und sah voll Interesse in das schmale Gesicht, in dem klare und bedeutende Augen leuchteten. »Wir sind alte Bekannte!« sagte er, »warum sehen wir Ihre Schwester nicht?«

»Sie ist bei einer kranken Frau im Eschenwinkel und bittet, den Besuch morgen begrüßen zu dürfen.«

»Ist Ihre Schwester ebenso groß wie Sie?«

»Sie ist nicht so groß,« sagte sie lächelnd. »Sie ist mir überhaupt nicht ähnlich. Sie ist dunkel, ich bin blond; sie ist weich, ich bin hart; sie ist still, ich bin laut; sie ist traurig, ich bin froh. Ich weiß nicht, was Gott von mir denken soll.«

Lena Strandiger lachte: »Eine ehrliche Selbstbespiegelung, Fräulein Landt. Und zuletzt noch der alte Gott als Kritiker?«

»Als Kritiker? Natürlich! Darauf kommt's an! Was der denkt und sagt!«

»Was meinst du, Bruder Franz? Läßt du ihn als Kritiker zu? Oder du, Andrees?«

Da klang wieder die Stimme, auf die alle hören mußten, so hell und klar war sie: »Gute Nacht, Andrees! Gute Nacht!«

Die Thür hatte sich leise hinter ihr geschlossen.

Sie wandte sich der Treppe zu, um gleich nach oben zu gehen. Da besann sie sich, daß Antje Witt wohl noch in der Küche wäre und ein Wort der Ermunterung brauchen könnte. Das war Ingeborgs Stärke: das Mutmachen. Sie war den Menschen immer gleich so nahe.

Und richtig! Da saßen ihre getreuen Freunde nicht weit vom warmen Herd, Hinnerk Elsen, Antje Witt, ihr Bruder Reimer Witt, der 1870 mitgewesen ist, der mit dem hellen Haar, und seine Tochter Anna, das Stubenmädchen. Hinnerk Elsen nahm gerade die kurze Pfeife aus dem Mund und zog die Uhr aus der Tasche und sagte würdevoll: »Die Kirchenuhr schlägt gleich neun.«

»Ach, du mit deiner Uhr! Sagt mir lieber, was ihr von denen da oben denkt.«

Die anderen schwiegen, ein wenig verlegen, obgleich sie Ingeborgs Art kannten; aber Hinnerk Elsen sagte bedächtig: »Was ich von Andrees denken soll, weiß ich nicht. Seine Pferde sah er nicht an, mich ... sah er nicht an, obgleich ich ihn manchmal in den Schlick geschmissen habe, und obgleich ich meinen Teil auf der Sparkasse habe, es sind jetzt 1835 Mark. Weiter sag' ich nichts; denn es geht mich nichts an. Aber daß der andere, der Franz Strandiger, Anna Witt so anlachte, da auf der Diele, das paßt mir nicht. Das geht mich was an; denn Reimer Witt hat gesagt, ich soll auf seine Tochter passen. Hast du nicht, Reimer? ... Na! Und nun müssen wir zu Bett, die Uhr ist neun.«

Und das war Hinnerk Elsens Urteil, und mehr sagte er nicht darüber. Er steckte seine Pfeife in die innere Seite seiner Jacke und ging den Gang entlang in seine Kammer. Auch die anderen brachen auf. Im Gang fragte Ingeborg: »Was macht deine Frau, Reimer?«

»Es ist wieder schlimmer.«

»Und der Arzt?«

»Ich weiß, daß er nicht helfen kann; und ich weiß, daß ich ihn nicht bezahlen kann.«

Es klang so hoffnungslos, so gleichgültig.

»Ich will morgen zu ihr kommen. Heim soll auch hingehen. Wir wollen Essen für sie und die Kinder schicken.«

»Maria kam schon um sieben Uhr,« sagte er »gleich nachdem die Kutsche an unserm Haus vorbei gekommen war. Sie will diese Nacht wachen, obgleich sie sehr müde aussieht.«

In dieser Nacht, in der die drei Getreuen zum erstenmal wieder miteinander in der Heimat waren, erhob sich gegen zwölf Uhr, mit der Flut kommend der erste Herbststurm. Er warf von den Ulmen des Strandigerhofs viel altes Holz zur Erde und schlug mit harten Fingern gegen das Fenster im Dach, hinter dem in jener Nacht das Licht gebrannt hatte, das dem im Watt verirrten Herrn des Hofes den Weg zeigen sollte. Er lärmte zwischen den Häusern des Eschenwinkels, daß er den Husten der Kranken übertönte. Er sprang die Düne hinauf und umbrauste schreiend und flatternd den Heidehof, daß Telsche, die wachend lag, glaubte, die große Thür sei aufgesprungen, und Heim, in Träumen, wähnte, er fahre als alter Wikinger auf wogendem Meer, das Land »Ruhm« zu erobern, das lag hundert Meilen hinter Island. Und alles war großartig; nur Sehnsucht nach Ingeborg Landt quälte ihn.

 


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