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Achtes Kapitel

Der Eschenwinkel hatte winterlichen Besuch bekommen: Die Not schlich von Schwelle zu Schwelle. Geräuschlos öffnete sie eine Thür nach der andern und setzte sich auf den Steinherd, auf dem ein kümmerliches Feuer unterm Grapen brannte.

Die Männer hatten seit acht Wochen keine Beschäftigung. Regen und Frost, Wasser und Schnee verhinderten das Arbeiten auf dem Felde. In andern Jahren war wohl gesorgt worden, daß das Korndreschen auf dem Hof wochenlangen Verdienst brachte; aber Franz Strandiger hatte von der hohen Geest Arbeiter bezogen, die ihm billiger wurden als die Marschleute.

»Er hat kein Herz für uns,« sagten die Frauen zu Maria. »Er weiß gar nicht, wie unser einer in Sorgen ist. Woher sollen wir Brot und Mehl nehmen? Von Speck gar nicht zu reden. Wir sind täglich neun Mann zu Tisch. Und die Kinder sind bei der Kälte hungrig wie Wölfe, wenn sie aus der Schule kommen.«

Mehr sagten sie nicht. Von dem täglichen Jammer sprachen sie nicht. Diese Armut hat niedergeschlagene Augen. Aber wenn sie über Franz Strandiger sprachen, dann sahen sie auf, und finstere Bitterkeit lag in ihren Mienen, und sie verbargen nichts: »Er wird uns im nächsten Jahr das Kartoffelland nehmen; er hat es schon zu Peter Schutt gesagt.«

»Das thut er nicht!« sagte Maria rasch.

»Der fragt nicht nach Gott noch Menschen; auch die Häuser wird er uns nehmen. Ehe zwei Jahre vorüber sind, wird hier, wo unsere Kinder spielen, Weide sein, und seine Kühe werden hier grasen. Kühe nähren, Kinder zehren.«

»Er wird es nicht thun,« sagte sie wieder, und das Herz schlug ihr bis an den Hals. ^

»Er wird es thun. Es wird alles so werden, wie wir sagen. Wir kennen ihn.«

»Ja,« sagte die alte Thiel, »sie haben recht. Es ist nichts Gutes in ihm. Das beste für uns wäre, wenn er eine Frau bekäme, die ein Herz für kleine Leute hat.« Und die alte Frau sah mit zwinkernden Augen in Marias Gesicht: »Das ist die einzige Rettung,« sagte sie, »das sage ich.«

Da ging Maria weiter.

Sie hatte zwei Thalerstücke zu sich gesteckt, die wollte sie in den beiden Häusern lassen, in denen die Not am größten war. Sie trat in das Dwengersche Haus. Es war das dritte Haus neben Witt.

Die Frau hatte einst auf dem Strandigerhof gedient, damals, als Maria Landt noch ein Kind war. Die kräftige, blühende Erscheinung des Mädchens war einer der tiefsten und ersten Eindrücke, welche das Stadtkind, das mit erstaunten Augen um sich sah, auf dem Strandigerhof empfing. Jetzt war sie Mutter von sieben Kindern, von denen drei schulpflichtig waren. Die Kinder hatten alle der Reihe nach die englische Krankheit gehabt, und es hatte lange gedauert, ehe sie fest auf den Füßen standen. Einmal konnten die drei Jüngsten nicht gehen. Jetzt waren da zwei, die auf dem sandbestreuten Fußboden hin und her rutschten, unfähig aufzustehen. Der Mann, Christoff Dwenger, war ein tüchtiger, fleißiger Arbeiter; aber ein Quartalstrinker. Wenn die wilde Gier über ihn kam, was alle fünf bis sechs Wochen geschah, vertrank er das Geld, das er gerade in der Tasche hatte, oft den Verdienst einer Woche, machte Streit, schrie, prahlte, schlug Frau und Kind, kurz, handelte wie ein unvernünftig Tier. Später, nach Jahren, ist er in den Orden der Guttempler eingetreten, der so segensreich in unserer Provinz gearbeitet, der manchen kalten Herd warm gemacht und viele traurige Frauen- und Kinderaugen leuchtend gemacht hat. Unter dem Schutz dieser Brüderschaft hat er den zweiten Teil seines Lebens still, nüchtern und glücklich verbracht, hat seine Frau wieder aufblühen und seine Kinder groß und brav gesehen.

Dwengers Frau empfing Maria mit dem unsichern, suchenden Blick, der ihr von der Stunde an eigen war, da sie erkannt hatte, daß sie die Frau eines Trinkers war. Sie war einst sehr stolz gewesen, besonders stolz auf den großen, starken, frischen Mann, den sie bekam. Darum wurde sie so tief niedergedrückt und inwendig zerrissen, als er mehr und mehr ein Trinker wurde.

»Wo ist dein Mann, Liese?«

»Er ist nach der Stadt. Es ist ja Viehmarkt heute. Er hofft, daß er als Treiber einige Mark verdient.« In ihrem blassen Gesicht stand die Sorge: »Wie kommt er heim?«

»Er hatte lange keine Arbeit?« »Franz Strandiger läßt nichts machen, weder kleien noch dreschen. Die Deicharbeiten werden wohl auch wegfallen.«

Da war wieder der Name.

Maria griff hastig in die Tasche. Aber die Frau sah es und beugte »sich zu ihrem jüngsten Knaben nieder und sagte: »Wir sind ja, Gott sei Dank, alle gesund. Ja, wenn wir krank sind, dann müssen wir Hilfe haben! Krankheit frißt Geld und macht demütig. Aber solange wir gesund sind ... Ich denke, er kommt bald zurück und bringt zwei oder drei Mark mit. Manchmal hat er guten Verdienst.«

Da ließ Maria Landt den Thaler in der Tasche und ging traurig hinaus. In der Thür lehnte die Frau am Pfosten und sagte, die Augen niedergeschlagen: »Es wurde gestern gesagt, daß Franz Strandiger sich verheiraten würde. Kannst du etwas darüber sagen?«

Maria kehrte sich um: »Ich weiß nicht,« sagte sie und ging fort.

Und heimgehend, am Wehl entlang schleichend, dachte sie an die Nacht, die schon im Reth des Wehls lauerte und über dem Wasser ihren Atem legte, daß es schwarz aussah. Sie würde wieder nicht schlafen können. Sie würde auf dem Rücken liegen und mit offenen Augen nachdenken über das, was sie zu thun hätte. »Das wird dem Eschenwinkel helfen. Das wird Andrees aufschrecken. Das wird ihn aus Lenas Macht zu Ingeborg treiben. Dann wird auch die alte Frau Frieden haben.«

Aber es graut ihr, das zu thun, was nötig ist. Und zu ihrem Grauen sucht sie einen andern Weg zu gehen, den Weg zu Andrees; aber der ist ganz verschüttet.

Da irrt ihr Geist hin und her. Er tastet im Dunkeln, wie Frau Strandiger thut, wenn sie mit vorgestreckten Händen durch die Stube geht.

 

Dunkle, lichtlose Nebelstreifen lagen noch am andern Morgen auf der Marsch. Die Sonne stand in ihrem Rauch und Dunst rechts am Waldrand auf der Heide. Da ging Reimer Witt nach dem Strandigerhof.

Er war ein breitschultriger Mann mittlerer Größe, mit geraden, starken Gliedern. Sein Gang war etwas schwerfällig steif, und sein Rücken zeigte zwischen den Schultern die Last der schweren Arbeit. Er war in seinen Gedanken und Kenntnissen ein sehr einfacher Mann; aber seine gesunde, christliche Überzeugung, und ein gewisser angeborener Takt gab ihm etwas Starkes, Ritterliches, und seine gute Laune machte ihn überall beliebt.

Die lange Krankheit und der Tod seiner Frau hatten ihn freilich tief bekümmert; die trüben häuslichen Zustände, welche wie Trauergeleit dem Sarge folgten, hatten ihn eine Zeit lang verwirrt und ratlos gemacht. Aber seine christliche Lebensanschauung hatte ihn aufrecht gehalten. Er hatte sich mit seinem lecken Fahrzeug in diesen Hafen treiben lassen. Nun besserte er an seinem Fahrzeug, takelte neu auf und achtete schon wieder auf Wind und Wellen draußen. Seit Telsche Spieler seinem Hause vorstand, ging es gar sauber und fleißig her.

Auf dem Weg unter den Ulmen kam ihm Andrees entgegen. Sie blieben beide stehen.

»Ich wollte mir etwas Geld holen,« sagte Reimer Witt. »Ich habe im bunten Krug achthundert Meter Graben ausgeworfen; das macht dreißig Mark.«

Andrees starrte aus trüben Augen auf die Erde: »Das ist so, Witt... Sie wissen doch, daß ich verpachtet habe.«

»Muß ich zu Ihrem Vetter gehen?«

»Ja. Aber ich wollte sagen ...« Er suchte in der Westentasche nach einem Goldstück: »Sie haben in diesem Winter so viel Ausgaben gehabt...« Seine Augen liefen den Weg auf und nieder, wie ein Hund, der die Spur verlor.

»Ich wollte mir das Geld holen, das ich verdient habe, genau für achthundert Meter.«

Reimer sagte es rauh und kalt. War der Mann nicht mehr sein Arbeitgeber, was war er dann? Irgend ein Fremder.

»Ganz recht... aber ich kannte Ihre Frau gut und Sie auch...«

»Das ist ja nun vorbei. Sie gehen in die weite Welt, ich gehe meiner Arbeit nach, und Rieke liegt auf dem Kirchhof.«

Er wandte sich um und ging mit seinen steifen Schritten nach der Hausthür zu.

Franz Strandiger saß schon in dem kleinen Zimmer zur linken Hand am Schreibtisch und berechnete die Kosten der Drescharbeit, die beendet war. Er kannte den Mann wohl, der, die Mütze in der Hand, an der Thür stand. Er hatte, als er ein Knabe war, manchen schönen Augenblick mit ihm verplaudert, im Winter im Stall, im Sommer am Grabenrand. Sie waren damals besondere Freunde gewesen; sie trugen ja beide in Gestalt und Charakter das feste und stolze Wesen, das die Leute am Strand der Nordsee zeigen. Aber das waren vergangene Zeiten. Franz Strandiger war jetzt Herr hier, Herr! Also mußte der andere ein Knecht werden. Darum sprach er auch jetzt in dem nachlässigen, kalten Ton, der die Eschenwinkler so verletzte: »Ich wünsche, daß die Leute mich vor zehn Uhr nicht stören. Was haben Sie?«

Reimer Witt nannte kurz sein Anliegen.

Kommen Sie ein andermal wieder; ich muß mir das erst ansehen.« »Sie brauchen nur einen Blick in die Karte zu thun.«

»Ich will Ihnen was sagen, Witt. Sie sind zu lange auf diesem Hof gewesen. Ich kann Leute, wie Sie, die klüger sein wollen als ihr Herr, überhaupt nicht brauchen.«

»Wie meinen Sie das?«

»Sehen Sie – wenn Sie noch eine Erklärung wünschen –, ich war da früher Verwalter auf einem Gut... Rübenbau... da habe ich einen andern Schlag Arbeiter kennen gelernt.«

»Ah, Sie meinen die Sorte, die sich den Tag über wie Hunde behandeln lassen und abends vergnügt ihren Rosenkranz beten.«

Franz Strandiger stand auf. Nun waren sie beide die harten, jähzornigen Männer.

»Das ist allerdings meine Auffassung vom Christentum: ein stilles, ruhiges Leben führen, ohne Murren dastehen, wo man vom Schicksal hingestellt ist.«

»Ich weiß nicht, Herr Strandiger, ob das Schicksal Sie hierher gestellt hat. Auch weiß ich nicht, woher Sie diese Ansicht vom Christentum haben. Es ist in einer feinen, warmen Stube zurecht gemacht wie diese hier, und von einem Mann, den das sogenannte Schicksal gut hingestellt hatte. Mein Christentum hat einen Drescherkittel an und hat schwielige Hände wie ich, von Helfersarbeit.«

»Dumme, verdrehte Ansichten!«

»Sie meinen, weil ich nicht viel gelernt habe. Nun, ich bin am Ende auch auf Hochschulen gewesen. Zuerst Anno siebenzig in Frankreich. Einige hat der Krieg roh gemacht; mich hat er ernst gemacht. Dann zum zweiten bin ich in die Kirche gegangen. Nicht häusig. Wir haben ja nur den Sonntag für Familie und Haus. Aber wenn ich kam, habe ich die Worte genau so aufgefaßt, wie sie dastanden, das Wort ,Bruder' und ,Barmherzigkeit' und ,reines Herz' und das Gleichnis vom reichen Mann. ,Herbergt gern!' steht da. Da habe ich meine Schwester zu mir genommen. Alle diese Worte habe ich so verstanden, wie sie bei uns gebraucht werden. Zuletzt habe ich noch das Sorgenland kreuz und quer durchwandern müssen. Das war sehr lehrreich!... Ach, was wissen Sie davon.«

Er wandte sich ab, den Thürgriff schon in der Hand.

»Der Strandigerhof hat in Zukunft keine Arbeit mehr für Sie; und mit dem Eschenwinkel mache ich ein Ende.«

Da lachte Reimer Witt auf: »Sehen Sie? Das ist Ihre Religion! Das Christentum sagt: ,Hilf deinem Bruder und sei freundlich mit ihm!' Ihre Religion sagt: ,Hilf deinem Geldsack und deinem Zorn!'«

Sie standen sich nahe gegenüber.

»Hinaus! sag' ich.«

Er ging langsam hinaus.

Im Gang, dicht neben der alten Stehuhr, stand Maria Landt: »Was hattet ihr, Reimer? Wie siehst du aus!«

Sie sahen beide nicht, daß Franz Strandiger in der offnen Thür stand.

»Ich wollte mir mein Geld holen; statt dessen haben wir uns erzählt, was wir von unserm Herrgott halten.«

»Reimer! Reimer, ich bitte dich. Sprich mit Andrees!«

»Mit dem? Ebensogut kann ich mit dieser Uhr sprechen. Was ist der? Ist er irgend etwas? Der gehört jetzt zu den Eckenstehern des lieben Gottes.«

»Reimer!« sagte sie, und die helle Angst stand wie flackerndes, vom Wind erschrecktes Feuer in ihren Augen: »Du weißt, es giebt einen, der harte Herzen weich machen kann.«

»Nein, Maria! Sie bleiben, wie sie sind. Sie essen zeitlebens sehr gut. Und weil sie gut gegessen haben, hoffen sie gut zu schlafen. Die werden bis in den Tod nicht anders.«

»Ich will mit ihm reden. Ich glaube, Reimer, ich kann helfen.«

»Na,« sagte er und schüttelte gedankenvoll den Kopf: »Für uns ist das Wort geschrieben: ,Sorget nicht!' Wenn wir sorgen wollten, so wäre es besser, wir machten dem Jammer ein kurzes Ende. Wir müssen so sorglos sein wie die Bälle, mit denen die Kinder spielen. Wir stiegen, von Kinderhänden geworfen, hin und her, zuletzt, wenn's gut geht, in Gottes Hand! ... Der ganze Eschenwinkel soll verschwinden! Der ganze Eschenwinkel!«

Er ging kopfschüttelnd davon, mit seinen Gedanken in seinem Hause und bei dem, was er in demselben in achtzehn Jahren erlebt hatte.

Franz Strandiger zog die Thür leise an sich und murmelte: »Sie will helfen.« Seine Augen sahen mit einem finstern Ausdruck nach der Thür. Es ward ihm nicht leicht. Das Ritterliche, das Ehrenwerte in ihm bäumte sich auf, dann biß er die Zähne zusammen und öffnete wieder die Thür.

Maria Landt ging gerade vorüber und stand still. Sie sagte nichts. Aber sie sahen sich an. Da merkte er, daß sie um ihn warb. Und der Gedanke erschütterte ihn so, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Er hatte auf diesen Augenblick gehofft; aber er hatte bei seiner starken, leichtlebigen Natur nicht daran gedacht, daß der Augenblick so ernst sein würde. Nun stand sie mit großen, angstvollen Augen vor ihm.

»Was wollen Sie mit Witt und dem Eschenwinkel thun?« »Liegt Ihnen noch immer der Eschenwinkel am Herzen, wie damals, als Sie vierzehn Jahre waren?«

»Es ist nicht anders geworden.«

»Es ist wirtschaftlich richtig, daß die Häuser niedergerissen werden. Also wird es geschehen.«

»Es giebt doch andere Gesichtspunkte. Wenn Sie nur Wirtschafter sein wollen, dann müssen Sie auch keinen Sonntag feiern, keine Weihnachten; dann werden die Tage addiert, bis der letzte kommt.«

Ihre mutlose Stimme machte ihn weich; aber dann kam gleich die Bitterkeit über ihn, so heftig, daß sein Körper bebte und seine Stimme rauh war: »Von Weihnachten sprechen Sie! Ich weiß gar nicht, was das ist. Alle diese Dinge gab es bei uns nicht. Mutter liebte das nicht. Ich wollte einmal mit einem andern Knaben gehen, seinen Weihnachtsbaum zu sehen; da wurde ich geschlagen. Wenn wir das Wort ›Weihnachtsbaum‹ sagten, lachte Mutter. ›Firlefanz!‹ sagte sie.«

Der Jammer seiner öden Kinderjahre stand höhnend vor ihm.

»Sie sind eine Heilige, wie sie im Buche steht! Ich war diese Weihnacht Ihr Hausgenoß. Haben Sie mich eingeladen? ›Komm' mit, du sollst unsern Weihnachtsbaum sehen?‹ Ich habe da am Fenster gestanden und das Licht von Ihrem Weihnachtsbaum auf dem Schnee gesehen. Um mich hat sich noch nie einer gekümmert; nach meiner Seele hat noch nie einer gefragt; da haben sie schließlich gemeint, ich hätte keine. Darum gehe ich meinen eigenen Gang, und zwar diesen: Ich will Herr sein. Das ist meine ganze Weltanschauung: es ist kein Wunder!« Sie war ans Fenster getreten. Von ihm abgewendet stand sie, schwer atmend. In ihrer bangen Seele wogte es auf und nieder: »Ich muh es thun; es giebt keinen andern Weg. Ich helfe Andrees und Ingeborg und dem Eschenwinkel. Auch ihm helfe ich.«

Nun fing er wieder an, ruhiger geworden, tief Atem holend, und er log nicht, was er sagte:

»Ich habe einen alten Wunsch von Kindertagen her. Seit fast zwanzig Jahren steht er auf meinem Wunschzettel: Ich wollte auf eigenem Boden Herr sein. Wenn ich das bekäme, dann könnte ich wohl auch weiche Gedanken haben. Hilf mir dazu! Du weißt, Maria Landt, was ich meine! Gieb mir Weihnachten, sei freundlich mit mir! Vielleicht habe ich ja auch eine Seele!«

»Und anders ... anders nicht?«

»Nein, anders nicht! Geht die Liebe der Heiligen nicht so weit, so bleib' ich ein Stein, an dem noch mancher sich stoßen soll. Es liegt in deiner Hand!«

Da ging sie an ihm vorüber aus der Stube. Und als sie draußen war und die Treppe suchte, taumelte sie gegen die Standuhr. Ihre Hand gegen die Schläfen gedrückt, hörte sie auf das Schlagen ihres Herzens. Und das Schlagen der Uhr ging rascher, immer rascher, und das Herz wollte mit und konnte nicht und lief sich die Füße wund und keuchte und sank nieder und fiel am Steg des Wehls in die Kniee und beugte sich über den Steg in das Wasser. Da lag der große graue Stein auf dem grünen Grund, und sie stieg hinunter und hob ihn auf, und er war eisig kalt an ihrer Brust, aber er wurde warm und schwer und deckte sie zu. Und die Uhr sagte: »Es schlägt zwölf. Sie ist tot.« Sie lag auf dem Grund des Wehls und schlief, und die Wasserfrauen deckten nasse Laken über ihr Gesicht.

Anna Witt fand sie ohnmächtig auf der Diele liegen.

In Peter Nahwers Werkstatt, die zugleich seine Wohnstube war, war an diesem Abend der halbe Eschenwinkel zusammengekommen. Schütt war da und seine Frau, die beiden Genthins, die beiden Dwenger und andere. Die Thielsche saß dicht am Ofen und hielt die Hände über der heißen Platte. Peter Nahwer, die kalte Pfeife im Mund, kochte Leim. Frischer Holz- und Leimgeruch durchdrang den ganzen niedrigen Raum.

Sie beredeten die Kündigung, die Neimer Witt widerfahren war.

»Paßt auf! Nun kommen wir auch an die Reihe! Das dauert nicht lange!«

»Der ganze Eschenwinkel wird verschwinden!«

»Ja, das wird er!«

Die Thielsche legte die schweren Arme auf den Tisch: »Ich habe da fünfzig Jahre das Korn gebunden, erst hinter meinem Mann her, bis der starb; dann hinter dem Jungen her, bis der nach Frankreich mußte; dann hinter anderen Männern her, hinter freundlichen und scheltenden, hinter bekannten und fremden. Nun bin ich alt und kalt geworden.«

»Du hast deine Rente, Thielsche!« sagte Peter Nahwer und sog an seiner Pfeife. »Aber was soll ich?« Und er nahm die Pfeife, nachdem er noch einen tüchtigen Zug gethan hatte, und deutete mit der Spitze auf seine Brust.

»Du?« sagte Schütts Frau: »So ein vertrockneter Junggesell! Frag' lieber, wo sollen wir hin mit all' unseren Kindern.« Ein junger Arbeiter, der bei den Franzern in Berlin gedient hatte, sagte mit militärischer Kürze, so wie ein Soldat eine dienstliche Meldung macht: »Man muß es dem Kaiser sagen.«

Aber Peter Nahwer erhob drohend die Pfeife: »Das laß bleiben! Der muß an das Allgemeine und Große denken. Als Christian der Achte achtzehnhundertsechsundvierzig durchs Dorf fuhr, wollte Thomälen ihm erzählen, daß Pastor Jürgens seinem Schlingel von Jung eine tüchtige Tracht Prügel gegeben hatte. Er prahlte und sagte: ,Ich habe bei den Regulären in Glückstadt gedient und weiß, wie's gemacht wird: Hand an der Hosennaht, drei Schritt zurück, dann los!' Aber er kam nicht dazu; der König sah über die Marsch hin; der Wagen fuhr vorbei. Es war gut, daß er die drei Schritte zurück machte, sonst wäre ihm der König über die Zehen gefahren. Nein, das ist nichts.«

»Das Richtige ist: wir wandern alle aus nach Iowa.«

Das Wort gab der Verhandlung neuen, reichen Stoff.

»Ich bin zu alt,« sagte Peter Nahwer und schüttelte Kopf und Pfeife.

»Ich geh' mit,« sagte Thielsche, nachdem sie die Schürze wieder geglättet hatte: »Ich weiß nicht, warum ich nicht mitgehen soll, alle meine Deerns sind da.«

»Da auf der andern Seite haben sie Erde unter den Füßen und infolgedessen das tägliche Brot reichlich.«

»Das ist wahr. Das sagt auch der Pastor. Sie haben nicht bloß Kartoffeln, sondern auch Fleisch.«

»Ordentlich luthersch: Essen, Trinken, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld...«

»Nein, Geld und getreue Nachbarn haben sie manchmal nicht.« »Und ich glaube, mit dem ,gut Regiment' ist es auch man mau.«

Genthin, der im Frühjahr in der ganzen Umgegend die Strohdächer ausbesserte, bekam von seiner Frau einen Stoß. Er war eine stille Natur und hat von seiner kleinen lebhaften Frau manchen Anstoß bekommen. Sie war eine Dänin. Bei einem Viehtransport von Jütland her hatte er sie kennen gelernt, und sie war des Deutschen nicht ganz mächtig geworden: »Hörst du?« sagte sie. Dann wandte sie sich an die andern: »Die Genthine sagt manchmal, dee Regeerung ist nicht richtik!«

Die andern lachten: »Ja, du hast Brüche bezahlen müssen, weil dein Schornstein ein großes Loch hatte.«

»Weis' den Brief, Genthine, den die Len' geskrieven hat, du hast ihn in der südlichen Rocktasch.«

Genthin, der Langsame, öffnete mit bedächtiger Hand den Rock und holte einen Brief hervor, und indem er sich auf die Kante des Haublocks setzte, der neben dem Ofen stand, las er mit zusammengekniffenen Augen:

»Liebe Mutter! Geld kann ich Euch nicht schicken ...« – na ... das brauch' ich nicht zu lesen – »Wir melken sieben Kühe, sechsundzwanzig Schweine, siebenzig Hühner, und wir essen uns täglich dreimal satt, all was hinein kann. Liebe Mutter! Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Wo steht das man noch? Hier haben wir was zu essen und zu trinken. Kleidung, da geben wir nicht viel auf weg, wir haben hier ja auch keine Thielsche ...«

Die Thielsche richtete sich auf und sah mit strengen Augen auf Genthin: »Was sagt sie?«

»Wir haben hier ja auch keine Thielsche,« las er lauter, »die abends an allen Fenstern steht.« »Ah so! Das schreibt die Lene! Sie war immer naseweis.«

»Es ist weit weg,« sagte Dwengers Frau, die an ihre Kleinen dachte.

»Ach was, weit weg! Wir kriegen Land und Brot!«

»Mensch! Wenn ich das noch erleben könnte!« sagte der Franzer.

»Ein Stück Land und eine Kuh!«

»Ja, Land für eine Kuh!«

»Das ist, was uns hier fehlt!«

Der Abend sank dunkel und traurig hernieder, und sie gingen mit schweren Gedanken auseinander.

Im Strandigerhof, in ihrem Zimmer mit den weißen, langen Gardinen und dem Himmelbett von hellem Eschenholz saß Maria am Tisch und las die Kapitel im Johannes, wo der Herr von den Seinen Abschied nimmt. Der Lichtschein von der Lampe fiel auf ihren vorgebeugten dunklen Kopf.

Sie konnte die Worte nicht mehr fassen.

›Geben, lieben, verklären, sehen ...‹ Die Worte hatten keine Gestalt mehr; es waren wesenlose Schatten und machten sie wirr. Zuletzt blieben Augen und Gedanken bei dem letzten Wort: ›Daß die Liebe, damit du mich liebst, sei in ihnen und ich in ihnen‹

Wie sie so zusammengekauert saß und der Lampenschein auf ihren Kopf fiel, sah man, daß die einzelnen Haare, glänzend, schwarz, genau wie in Reih' und Glied nebeneinander lagen. Es sah aus, als wenn einer sie zurecht gelegt und gezählt hätte.

Spät am Abend trat Ingeborg in die Stube.

Als sie das Buch sah, sagte sie erregt: »Du solltest das Lesen lassen. Das Lesen und Grübeln hat gar keinen Zweck. Aber wenn du helfen könntest?«

Nach einer Weile, während welcher sie ruhelos hin und her ging, sagte sie: »Reimer Witt ist gekündigt, und eben hat er Antje hinausgeworfen. Sie schreit durchs Haus.«

Maria hob die Augen: »Wo ist Andrees?« fragte sie leise.

»Der? Der sitzt bei seinem Fräulein! O, das ist ein Mann! Ein Ekel ist er und ein Greuel!« Sie war in furchtbar wilder Erregung: »Ich will ihn heut' abend noch fragen ... von ferne ... sonst halte ich mich zu gut. Ich will ihm sagen: Mensch oder Aff? Ölgötz oder Christ? Ich will ihm mein Schürzenband hinhalten: Halte dich daran, Andreeslein! Es ist dunkel!«

Da sank Marias Kopf auf das Buch, und sie weinte laut auf.

 


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