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Elftes Kapitel

Am Dienstagabend schlug das Wetter um. Es stieg von oben her, wo er den ganzen Tag graue Wolken vor sich hergeschoben hatte, ein weicher, starker Westwind auf die Erde und verwandelte im Lauf von zwölf Stunden das ganze Landschaftsbild. Er kam, wie wenn Anna Witt mit Feudel, Besen und Wischtuch in ein Zimmer trat im vorigen Sommer, als sie noch das starke, frische Mädchen war. In wenigen Stunden war alles gefegt, gereinigt. Am Mittwochmorgen lag nur in den Gräben hier und da noch ein Streifen Schnee. Der Wehl war ganz klar und voll von kleinen, wandernden Wellen. Die ganze Landschaft war in der Nacht sauber gewaschen und bot dem Morgen ein frisches Antlitz.

Am Dienstagabend kam es in der Schreibstube des Pächters zu einer heißen Scene. Andrees erschien und machte in furchtbaren Worten seiner Verachtung und seinem Zorn Luft. Man hörte sein: »Du bist ein Lügner, ein Ehrloser!« durch die Gänge bis an die Hausthür schallen. Die Gegenrede hörte man nicht. Franz sagte nicht viel. »Ich bin kein Träumer wie du und Heiderieter. Ihr kriecht, ich schreite. Ich wollte Herr werden, darum pachtete ich diesen Besitz. Ich wollte Herr bleiben, darum machte ich Maria zu meiner Braut. Du hast freiwillig verpachtet, sie hat freiwillig ›ja‹ gesagt.«

Und all die Wellen, die da unten in der Schreibstube entbrannten, stürmten und brandeten da oben gegen das Mädchenherz, das viel zu schwach gegen solchen Ansturm war.

Zuerst kam Anna Witt. Sie stand in der geöffneten Thür und starrte Maria an und wußte nicht, was sie reden sollte.

»Ich war ihm gut,« weinte sie auf, »ihm, Franz Strandiger!«

»Anna! ... Du? ... Sei still, Anna! ... Man muß nicht darüber nachdenken ... du auch nicht ... das verwirrt den Kopf noch mehr ... und dann schlägt es wie Wasser über einem zusammen ... und man will helfen und ... es ist ... viel zu schwer. Geh' nur und lege dich schlafen, und vergiß alles, und sprich nicht davon. Geh' nur. Leg' dich auf die rechte Seite, und träume nicht wieder von so schrecklichen Dingen.«

Da lief Anna aus dem Zimmer.

Und Maria blieb diese Nacht am Krankenbett, auch den folgenden ganzen Tag, den Aschermittwoch. Sie wollte niemanden um sich haben, sagte sie zu Ingeborg, der Kranken thäte vollständige Ruhe not.

Wenn Ingeborg in spätern Jahren an diese traurigen Tage zurückdachte, dann hat sie sich nicht erinnern können, daß sie irgend welche Spuren einer Geistesverwirrung an Maria bemerkt hat, bis zu diesem Abend, wo sie deutlich hervortrat. Doch hat Ingeborg, soviel man weiß, nur mit Frisius und Eva darüber gesprochen. Die alte Frau Strandiger aber hat noch Jahre später mit stiller, leiser Stimme erzählt, die offnen, blinden Augen vor sich hin gerichtet, die Hände gefaltet, im Bett sitzend, daß Maria in diesen Tagen voll stillem Mitleid und helfender Liebe gewesen. Sie hätte fast gar nicht gesprochen; nur die Lektionen hätte sie morgens und abends gelesen, mit einer eintönigen, gleichgültigen Stimme: »Als ob sie Gottes Wort nicht mehr begreifen konnte,« sagte die Blinde.

An diesem Abend, in der Dämmerung, kam Andrees ins Krankenzimmer. Man konnte ihn nicht zurückhalten. Er zog Maria vom Bett der Kranken, die eingeschlafen war, am Arm ins Wohnzimmer. Sie sahen beide nicht, daß Ingeborg zusammengekauert im Fensterschatten saß.

Die wurde furchtbar aus seligen Träumen gerissen.

»Ich will nicht,« sagte er mit unterdrückter, wilder Stimme, »daß du sein Weib wirst. Ich will's nicht. Er soll dir dein Wort wiedergeben.«

»Laß mich los!... Ich habe es ihm gegeben, und er hat es bar bezahlt.«

»Es wird die Hölle sein. Du bei ihm! Wie kommst du zu dem Wahnsinn?«

»Wie ich dazu kam? Ich will ihm sagen, daß er den Eschenwinklern neue Häuser baut. Dann spiegelt sich die Sonne in den Fenstern und die Fenster im Wehl; das wird ein Glanz. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter will ich ihm vorlesen.«

»Das soll helfen! Besinne dich, Maria! Weißt du noch, wie du oben mit mir am Fenster standst, als wir Kinder waren? Und wir sahen nach dem Eschenwinkel hinüber und nach Flackelholm? Und ich zeigte dir alles und hielt deine Hand fest!«

»Das war eine schöne Zeit!« »Komm mit mir! Wir gehen irgendwohin. Wohin du willst!«

»Ich kann ja nicht. Bis die neuen Häuser fertig sind, muß ich warten. Ich muß auf dem Steg am Wehl sitzen und mich freuen.«

Sie strich mit der Hand über ihr Haar, als besänne sie sich: »Aber du kannst ja gerne fortgehen. Du kannst ja nach Flackelholm gehen. Das liegt weltverloren ... weltverloren im weiten Meer. Weltverloren! Darauf kommt es an. Wer das kann, der bekommt die Krone. Nach Flackelholm mußt du und baden! Antje sagt, da weht ein frischer Wind.«

»So komm, Maria! Liebe Maria!«

Sie hob die Arme und legte die Hände um sein Haar und sagte bedauerlich: »Lieber Andrees, nicht mit mir! Ingeborg muß mit dir gehen. Ich muß ja nach dem Eschenwinkel ... die wollen auswandern, weg aus den schönen Häusern. Das sollen sie nicht. Ich muß hin, laß mich los, ich will mit ihnen reden.«

Ihre Stimme wurde immer leiser. Wie wenn sie beide furchtsame Kinder im Dunkeln wären, so redete sie: »Ich verwalte dir das Deine, bis du wiederkommst. Dann hast du weißes Haar und hast den Eschenwinkel lieb, und dann lachen wir.«

Sie streichelte mit beiden Händen seine Wangen: »Weißt du, wie heißt doch noch das Lied, das die Mädchen singen, wenn sie am Wehl entlang spazieren gehen?

Als sie noch beid' in blonden Haai'n,
Da schwuren sie ewige Treu':
Sie machen die Liebe nimmer still,
Nicht soll gescheh'n des Teufels Will',

Des Teufels Will'.

Als vierzig Jahr' vergangen war'n,
Sie sah'n sich wieder bei Tisch,
Das Haar war weiß, die Augen still.
Sie sagten: »Es war Gottes Will',
Ja, Gottes Will'.«

Sie weinte laut auf: »Es schickt sich nicht für mich! Vater unser! der du bist ...«

Da brach bei ihm der ganze Jammer aus: »Was red'st du? Ich versteh' dich nicht.«

»Sei still!« sagte sie. »Deine Mutter schläft; sie darf von all dem nichts wissen. Sie hat ja keine Augen zum Weinen. Aber ich kann weinen. Ich kann so leise weinen, daß es niemand hört.«

Er hielt sie an beiden Armen. »Ich komme heute abend. Kein Wort! Ich komme um sieben Uhr. Gleich nach sieben komme ich. Hörst du?«

Er eilte fort und lief in den Stall und bestellte den Wagen und lief in Unruhe um das Haus, lief unstet ein Stück über die Heide und kam wieder zurück und stand mit der Uhr in der Hand im Wirtschaftshof, und die Hand flog hin und her, und Kälteschauer durchschüttelten ihn.

Ingeborg huschte aus dem Zimmer und drückte die Glieder in das weiche Bett und schluchzte leise klagend. Dann, als die Uhr gegen sieben ging, saß sie, vor sich hinbrütend, auf der Fensterbank, die Hände über die hochgezogenen Kniee geschlungen und starrte in die Nacht, die mit großen, bangen feuchten Augen im Garten unter den Ulmen stand. Es tröpfelte leise von den Bäumen. Überm Wehl hob sich ein Schein, da standen einige Sterne bei einander und sahen nach dem Strandigerhof und nach Ingeborg herüber.

Aber Ingeborg sah schräg vor sich in den Garten und hörte auf die fallenden Thränen. Die fielen immerzu. Was für ein trostloses Weinen.

Als die Uhr im Treppenhause anhub, sieben zu schlagen, kam Maria ins Zimmer. Sie ging mit sonderbar ungleichen, raschen Schritten auf Ingeborg zu und sagte – man merkte, wie stark sie sich zusammennahm; sie sprach, als löste sie die schwerste Rechenaufgabe –: »Ich will zu Bett gehen. Ich bin müde, gehe du zu Tante!«

Ingeborg war von der Fensterbank heruntergeglitten, bebend am ganzen Leib.

»Sag' zu Andrees, daß ich krank bin und im Bett liege ... Er wollte etwas von mir; was war es doch? ... Er wollte etwas von mir ... Ich weiß nicht was. Es war etwas, das nicht möglich ist; er mag ja den Eschenwinlel nicht leiden. Sag' es allen, auch Anna Witt und der Frau, der ich die braunen Handwärmer gemacht habe, daß ich nun endlich schlafen gehe.Ich bin müde.«

»Aber wenn Andrees ... hierher kommt?«

»Schließ du die Thür ab, Ingeborg! Schließ du die Thür ab ... Spricht er von Flackelholm? Da weht reine Luft, und du mußt mit ihm gehen... Schließ die Thür ab, Ingeborg!«

Ingeborg ging nach dem Wohnzimmer hinüber und stand an dem runden Sofatisch und hatte die Lippen fest zusammengepreßt und die Augen groß und starr vor sich hin gerichtet. In die Stirn wurden von einer harten, rohen Hand tiefe, häßliche Furchen gegraben. Es war kein Licht im Zimmer. Sie wollte aber die Hand auf den Tisch stützen, weil ihr die Kniee zitterten. Da, wie sie die Hand auf die Platte legte, berührten ihre Finger ein Zündhölzchen, das da lag. Wie schmeichelnd legte es sich an die Finger. Und erst schob sie es achtlos hin und her, bis ein schwacher, schwefliger, Geruch zu ihr herauf kam. Da legte sie das Hölzchen wie spielend auf Zeigefinger und Mittelfinger und brach es mit dem Daumen in der Mitte durch. Kurz ab und fast lautlos zerbrach es. Sie fühlte nach den beiden Hälften, und als sie erkannte, daß sie ungleich an Länge waren, warf sie sie wie absichtslos auf den Tisch, besann sich, schloß die Augen und suchte mit der Hand und fand ein Stückchen und lief zum Fenster und sah, daß es das längere war.

Da entstellte sich ihr Gesicht, und ihren Augen erschien etwas Furchtbares: so entsetzten sie sich.

Sie ging aus dem Zimmer, und als sie durch den Gang kam, schloß sie im Vorbeigehen die Thür der Schlafstube ab. Der Schlüssel glitt in die Tasche. Aber Maria Landt war nicht mehr im Zimmer; die saß schon am Steg des Wehls.

Als Ingeborg den Gang weiter entlang ging und die Treppe erreicht hatte, sah sie unten Pastor Frisius in der Hausthür stehen. In seiner gebeugten Haltung kam er die Treppe herauf. Er wollte bei Frau Strandiger Krankenbesuch machen. Ingeborg flüchtete in den Schatten des Gangs zurück und blieb dort mit klopfendem Herzen stehen, bis die Gestalt im Krankenzimmer verschwunden war. Dann ging sie wieder nach der Treppe zurück.

Und hier kauerte sie, ganz wie vorgestern, im Schatten des Geländers. Aus dem Krankenzimmer kam zuweilen ein schwacher Ton der Unterhaltung, von unten kam der Schall von fernen Schritten. Sonst war es ganz still. Mit sichern Augen und verhaltenem Atem spähte sie durchs Geländer. Eine Thür wurde unten geöffnet. Wieder Stille.

Wie ein Sarg ist das Haus. Pastor Frisius redet draußen am Sarg. Thörichte Gedanken.

»Wie lange mag er noch bleiben?«

Nicht lange. Es ist ja Aschermittwoch heute. Um siebeneinhalb Uhr ist der erste Abendgottesdienst. Er wird gleich wieder fortgehen, und dann wird der andere kommen ... Andrees!

Da geht wieder eine Thür. Das ist sein Schritt. Er kommt. Rasch geht er die Treppe hinauf. Da erhebt sie sich aus dem Dunkeln, so rasch, so hoch, daß er erschreckt nach dem Geländer greift. Seine Zähne schlagen vor Kälte und innerer Erregung zusammen.

»Was willst du?« sagte er mit flackernden Augen.

Sie lacht leicht auf: »Maria ist krank, soll ich sagen. Sie hat sich eingeschlossen, liegt im Bett und schläft.«

»Geh' hin und sage, ich wär' da.«

Sie schüttelte den Kopf und sah fest in seine Augen: »Sie macht nicht auf; sie läßt mich nicht ein.« Er wandte sich halb ab, bleiche Mutlosigkeit fiel über sein Gesicht.

In diesem Augenblick ging die Thür des Schlafzimmers, und man hörte Pastor Frisius durch den dunklen Gang sich nähern. Andrees trat in den Schatten der Treppe, aber Ingeborg blieb in dem Licht stehen, das von der Hausthür her mit Ungewissem, schwachem Schein auf sie fiel. Er sah Andrees gar nicht, aber er sah in Ingeborgs Gesicht. Er sah in das Gesicht des bösen, frechen Gewissens.

»Wo ist deine Schwester, Ingeborg?«

»In ihrem Zimmer. Sie schläft.«

»Geht's ihr gut?«

»Sie ist schwach und wollte gerne schlafen.«

»Grüß' sie! Sie soll sich gesund schlafen ... Wo willst du hin?« – »In die Kirche,« sagte sie und sah ihn an.

Er sah vor sich nieder und sagte langsam: »Es ist eine ernste Zeit. Ich war vorhin bei Theissens im Dorf. Die kleine Elsa ist an Lungenentzündung gestorben. Sie war acht Jahre alt und hatte kein leichtes Ende. Liese Nagel wird auch müde; liegt nun bald zwei Jahre lang im Bett. Sie meint, sie habe Leid genug gehabt, und sehnt sich nach Ruhe, obgleich sie erst zweiunddreißig Jahre alt ist. Christoph Dwenger liegt betrunken unter der Wand des Heidehofs, und seine Kinder stehen um ihn. Hier unten ist immer und überall, wo wir Hinsehen, Aschermittwoch. Wir haben wohl Ursache, in Gottes Haus zu gehen.«

Sie sah ihn an. »Ja!« sagte sie laut. Da ging er.

Unten schlug die Hausthür mit dumpfem Schlag hinter ihm zu. Ein leichter Wind lehnte sich gegen das Haus; sonst war alles still. Sie wandte sich erregt um: »Andrees, komm' mit!« sagte sie. Ihre Stimme eilte, wie ein Kind, das von einem bangen Ort atemlos fortläuft. Aber gleich, plötzlich kam es mit furchtbarer Gewalt über sie, daß sie körperlich zusammenbrach. Sie faßte seinen Arm und sagte mit fliegender Stimme: »Ich ... kann's nicht! Ich kann's doch nicht! Maria soll ... doch mit dir! Warte, Andrees! Warte ... einen Augenblick! Bleib' hier stehen! Ich will sie wecken ... ich ... ich ...« Sie riß den Schlüssel aus der Tasche und flog den Gang zurück, schloß auf und rief laut jubelnd ins Zimmer: »Maria, Kind! Steh' auf!«

Aber das Zimmer und das Bett waren leer. Da kam sie zurück, ein wenig bedrückt, aber ihr ganzes Gesicht leuchtete wie von einem inwendigen reinen Licht, und nie ist Maria Landts Schwester schöner gewesen als in diesem Augenblick. »Sie wird in der Kirche sein, Andrees. Komm', wir wollen nachgehen. Wir beide! Dann überreden wir sie, und ihr reist mit dem letzten Zug.«

»Du bist gut, Ingeborg.«

»Natürlich bin ich gut! Sehr gut! Nur nicht immer! Das ist schade um Ingeborg Landt.«

Sie sprang die Treppe hinunter und lachte: »Komm' flink, Andrees! Sonst kommen wir zu spät.«

Links von der Thür nahmen sie rasch Mäntel und Hüte vom Ständer und eilten hinaus.

Draußen, in ihrer Freude, legte sie die Hand in seinen Arm, und so, neben ihm hergehend, plauderte sie: »Wie ich mich freue! Wie ich mich freue! Weißt du, ich war dir böse! Wegen dies und das! Aber nun ist alles gut. Wie wird Maria glücklich! Meine Maria!«

»So ist's richtig, Andrees! Wir müssen sie rein mit Gewalt aus dieser Umgebung reißen. Wenn ihr erst in der Stadt seid, dann ist sie dein. Ich schicke euch die Sachen nach. Ihr bleibt ein paar Tage in Hamburg, dann reist ihr wohl gar nach Berlin und weiter und schreibt lange, schöne Briefe. Derweil pfleg' ich das Mütterlein und besorge den Hausstand. Das wird ein Leben! Komm', laß uns rascher gehen; es läutet schon.«

Das Licht überm Wehl war größer geworden. Eine ganze Zahl Sterne standen bei einander und sahen auf die Erde. Der Wind ward stärker. Mächtige dunkle Wolkenzüge wanderten über den abendlichen Himmel nach Osten zu. Sie ließen lange, breite Nebelmassen nach unten hängen, als gingen sie auf schweren Füßen über den Himmelsraum. Auf ihren Schultern trugen sie etwas Längliches, Dunkles, wie einen Sarg. Zu beiden Seiten standen Sterne und trugen Lichter. Der Wind zog leise und traurig singend hinterdrein.

Maria Landt saß am Steg, zusammengekauert. Die kleinen Wellen, durch die grotesken Erscheinungen in der Luft erschreckt, trieben bange und unruhig, weinend und schluchzend gegen sie an und baten sie um Hilfe. »Ich kann euch nicht helfen!« sagte sie: »Ich kann mir ja selbst nicht helfen.«

Da wurden die Wellen böse und redeten in einem andern Tone und schwatzten und logen und verwirrten sie. Das Herz schlug ihr bis an den Hals.

Als Ingeborg und Andrees Arm in Arm vorübergingen, Ingeborg lachend, Andrees einen freundlichen Schein im Gesicht, sah sie nur wenig und gleichgültig auf. Sie stritt mit größeren Gewalten; sie stand Erscheinungen gegenüber, die mehr als Menschengröße hatten. Sie bückte sich tiefer und sah wieder ins Wasser und klagte: »Ich kann nicht das eine, ich kann nicht das andere. Was soll ich noch hier unten?«

Der Wind ward stärker und riß an den Schleiern, die vor dem Mond standen, und zerrte sie weg, und der Mond sah ins Wasser. Er sah tief hinein.

»Sie könnten alle ... wenn sie nur die Steine nicht auf dem Herzen hätten ... Franz und Andrees und Schütt und die Thielsche. Die Steine muß ich haben. Sie liegen unten.« – »Da liegen sie.«

Das murmelnde, rauschende, blanke, weiche, lebendige Wasser lockte stärker, werbender, mit unheimlichem Zauber.

»Die Steine! Die Steine!«

»Komm' doch und hole sie!«

Sie legte die Hand ins Wasser.

»Siehst du? Es ist nicht kalt! Warm ist es und weich und gleitet lebendig über die Hand.« – »Ja, lebendig!«

»Sieh! Wir warteten auf dich fünf Mondnächte lang! Da bist du.«

Weiße Körperformen, wunderschöne, stille Augen unter halbgeschlossenen Lidern erscheinen zwischen dem schwankenden Schilf, alles weich, gleitend, feuchtglänzend, ewig junge Formen, Urbilder der Schönheit, erste, unverdorbene Schöpfung. Sie gleiten und fließen und reden leise.

»Was sagst du von Selbstmord? Das ist kurzer Menschengedanke. Siehst du nicht, daß wir leben und weben, steigen und sinken, weinen und reden? Sind wir lebend oder tot?«

»Es ist Sünde dabei.«

»Vertauschst Unfrieden mit Frieden, unreines mit weißem Kleid, Schwachheit mit Wirken und Kraft, unten mit oben?«

»Es ist Sünde dabei.«

»Dann hat auch er Sünde gethan; er hätte an Golgatha vorbeigehen können und that es nicht.«

»Wenn ich fortgehe, weinen sie lange.«

»Sie weinen und zerstießen und werden ganz weich ... weil du Steine suchst auf grünem Grund.«

Sie gleiten näher ... zwei, drei ... sechs sind es und haben Schilf ums Haar. Mit dem Haar und dem Schilf spielen die kleinen Wellen. Unendlich weich und tief sind die großen, stillen Augen, abgrundtief.

»Geht fort ... ich fürchte mich ... sehr.«

»Meinst du, daß wir der Menschen Leben nicht kennen? Der Mond redet mit uns alle Nächte; der Wind erzählt uns immerzu von seiner weiten Reise. Wir haben die Decke unseres Hauses blank gemacht, daß sie spiegelt. Vom Strandigerhof und vom Eschenwinkel sehen wir das Bild, und den spielenden Kindern schauen wir zu. Und gewaltiger und mächtiger und schöner erscheint, was im Spiegel des Wassers sich bricht, als in dünner Luft. Wir sehen nicht auf die Dinge; wir sehen in sie hinein. Siehst du den Mond und die Sterne? Sie liegen hier oben im Teich.«

»Vater! Vater!«

»Der Vater ist hier wie dort ... das weißt du.«

»Ich will noch einmal in die Kirche gehen und mitsingen:

Ach bleib mit deinem Glanze
Bei uns, du wertes Licht,
Dein' Wahrheit uns umschanze,
Damit wir irren nicht.

Mir wird schlecht... faßt mich an!... daß ich nicht falle...«

Da glitten sie rasch vorbei ... sechs. Und zwischen den Rethalmen erschien eine mit goldener Reifenkrone im triefenden, glitzernden Haar.

»Faßt sie an!... Tragt sie ... Sie ist zu weich und schwach für die Erde. Sanft ... leise ... und legt sie hin ... nun schläft sie.«

Oben auf dem Weg ging Anna eilend vorüber; sie warf zwei entsetzte Blicke nach dem Steg, schrie laut auf und lief dem Eschenwinkel zu. – Antje war allein im Zimmer.

»Ist Maria Landt hier vorbeigekommen?«

»Nein.«

»Dann ... dann ist sie in den Wehl gegangen, und ich bin schuld daran.« Und sie warf sich vor dem Tisch auf die Kniee.

Antje wollte an ihr vorbeilaufen, da sprang sie auf und stellte sich ihr in den Weg: »Habt ihr's nicht gemerkt,« schrie sie auf... »ich und Franz Strandiger, wir haben sie getötet!«

»Du und Franz Strandiger?« ... Das alte Mädchen wehrte mit beiden Händen ab; ein vornehmer Ausdruck legte sich auf ihr schönes, verwittertes Gesicht, und sie fing an, von ihrem Heinrich zu erzählen, wie er an der Kammerthür von ihr Abschied genommen, als er in den Krieg zog.

Anna Witt kehrte sich um und wollte hinausstürzen.

Da stand ihr Vater hinter ihr auf der Diele in seinem leinenen Arbeitskittel und in hohen Stiefeln, auf denen die nasse Kleierde glänzte. Er hatte den Spaten in die Lehmdiele gestoßen, schüttelte ihn hin und her, und sein sonst so ruhiges Gesicht war wild erregt.

Sie lehnte gegen den Tisch und sah voll Angst auf ihn.

»Wo ist Maria Landt?« schrie er.

»Im Wehl! Im Wehl!«

 

Zur selben Zeit hatte die Klingelglocke ausgeläutet, und die zwölf Kinder, welche neben der Orgel saßen und den Chor bildeten, hatten mit hellen Stimmen das Gellertsche Lied angestimmt: »Wie groß ist des Allmächt'gen Güte.«

Ingeborg hatte sich, wie sie zuweilen zu thun pflegte, zu ihnen gesetzt und stimmte mit ein. Sie hatte eine klingende, helle Stimme und bekam bald, wenn sie zu singen anfing, rote Wangen, und ihre Augen bekamen einen warmen Glanz. Und nun erst heute! Mit diesem fröhlichen, lachenden, jubelnden Gewissen!

Unter dem Orgelboden, im zweiten der alten unbequemen Stühle, welche auf ihren Wangen die Wappen vergangener Bauerngeschlechter tragen, saß Andrees und sah in sein Gesangbuch und sang dann auch leise mit. Und während des Gesanges, als er seine Gedanken auf den Inhalt richtete, wurde es ruhiger in ihm, und als sie gegen das Ende der dritten Strophe kamen, wurde es still in ihm, wie lange nicht. Und obwohl es ihm nicht alles klar war – ja gerade, weil es zum Teil ein stilles, unergründliches Geheimnis war –, schien ihm alles groß, edel, ewig und voll lichter, goldener Wunder. Es war ihm, als wenn doch diese Weltanschauung, die in den drei Strophen lag, die einfachste und vollständigste Deutung der rätselvollen Welt wäre, und als ob auch sein Leben, wenn er zu ihr hielte, wieder Inhalt und Wert gewinnen könnte. Und die Erinnerung setzte sich neben ihn und erzählte ihm von alten, vergessenen Gottesdiensten, die er als Knabe neben seiner Mutter dort in dem alten Familienstuhl gehalten hatte, und es schien ihm glaubhaft, daß er noch einmal wieder, wenn er ernstlich wollte, eine reine, große, kindliche Freude an diesen Dingen haben könnte. Und dann würde er leuchtende, weitblickende Augen haben und wissen, was er mit dem Leben anzufangen hätte.

Hinter ihm schlug der Wind gegen die kleinen Scheiben und stieß gegen die Mauer und lief jammernd quer über die Gräber ins freie Feld.

Seine Augen suchten Maria im Strandigerstuhl; aber er konnte nichts erkennen; die Hälfte des Stuhles lag im Dunkel.

Da kamen von draußen, vom Glockenturm her, Schritte und Stimmen. Sie kamen den Gang herauf, hielten an, redeten miteinander und wollten an der Kirche vorübergehen und schienen sich zu streiten.

Alles lauschte.

Pastor Frisius hielt auf seinem Gang nach der Kanzel inne, sein leidendes, bleiches Gesicht erregte sich. Einige duckten sich verlegen in den Stühlen; andere, die verständiger waren, sahen sich bekümmert an. Der alte Klaus Peters, der noch lebt, stand auf und ging auf die Thür zu. Alle dachten dasselbe, nämlich, daß da draußen Leute wären, die im Fastnachtstrubel des Guten zu viel gethan und in den Aschermittwoch hinein gefeiert hätten und nun, vom Branntwein verroht, zu dem Gedanken herabgesunken wären, den Gottesdienst zu stören.

Nun, da man deutlich Schütts Stimme hörte, legte Pastor Frisius die Bibel auf den Taufstein und ging den Steig hinunter. Mehrere Männer gingen mit ihm, alle mit ernsten Gesichtern. Da, wie sie die Thür öffnen und hinaustreten, sehen sie zuerst Schütt, der eine Flasche in der Hand hatte, hinter ihm die Thielsche, der das sparliche, weiße Haar unordentlich um den großen Kopf hing. Dahinter die Bahre, welche sie aus dem Glockenturm geholt hatten, und auf der Bahre...

Die Orgel brach mitten im Ton ab, wie eine schreiende Möve im Flug und Schrei vom Blei getroffen wird.

Frisius weinte laut wie ein Kind; andere weinten mit ihm. Alte Männer standen mit stillem, blassem Gesicht und sahen stumm auf die Tote.

Aus dem Quersteig drängten Männer und Frauen und viele Kinder und weinten laut auf.

Der Pellwormer, von dem Anblick des weinenden Frisius ganz aus der Ordnung gebracht, faßte den Arm des Pastors und wollte anfangen zu singen: »Was Gott thut, das ist wohlgethan.«

Aber da fuhr Frisius auf: »Aber was Menschen thun, das ist nicht wohlgethan. Wer hat das liebe Kind dahin gebracht?«

Hans Rohde, der immer ruhige, legte seine Hand auf den Arm des Pastors: »Warum das denken? Sie wird hineingefallen sein; es ist dunkel und regnerisch. Man kann die Augen nicht ordentlich aufschlagen. Und sie war oft so in Gedanken und hatte Kopfweh. Sie hat nicht auf den Weg geachtet.«

»Nein. Das ist nicht wahr.«

Man sprach durcheinander.

»Sie haben sie da hinein gejagt.«

»Die Sippschaft da. Na, wir wissen es.«

Sie nannten keinen Namen.

»Wenn der Strandiger nicht verpachtet hätte...«

»Dann... ja dann...«

»Dann lebte Maria Landt noch!«

»Im Dunkeln verirrt? Da sind doch Weiden den ganzen Wehl entlang! Wie kommt sie gerade nach dem Steg? Unsinn!«

»Andrees Strandiger!«

Der stand plötzlich in der Thür und starrte mit entsetzten Augen auf die Bahre.

Ingeborg flog die Orgeltreppe hinunter, schrie laut auf und warf sich an der Bahre nieder, wie hingestoßen.

Die Kinder weinten laut; einige liefen schreiend, wie gejagt über die Gräber.

Die Dunkelheit wurde größer. Man sah nur das deutlicher, was in dem schwachen Lichtschein lag, der aus der offenen Kirchenthür drang, die Bahre, Ingeborg, die an der Erde kauerte und sich an dem groben, starken Seitenbalken festhielt, während das Wasser von ihrer Hand tropfte, und den Mann in der Kirchenthür.

Eine Stimme sagte: »Der ist schuld an dem ganzen Elend.« Reimer Witt sagte zu Frisius: »Wohin bringen wir die Leiche?«

Ingeborg hob den Kopf, und als sie ihn da stehen sah, schrie sie ihn an: »Du Weiberknecht! Weg mit dir! Was starrst du sie an, du elender Mensch! Du, du hast sie getötet. Jagt ihn fort!«

»Still.«

»Die sagt es ihm!«

Die Frauen standen und sahen in das stille, todblasse Gesicht; einige befühlten Puls und Brust und beugten sich auf sie nieder und horchten. Eine Frau nahm ihre Schürze ab und deckte sie über die Tote. Ingeborg lag und rührte sich nicht.

»Sie hat den Schlag gekriegt.«

»Das kalte Wasser.«

»Wißt ihr schon ... Anna Witt?«

»Still.«

»Es hängt wohl auch damit zusammen.«

Frisius konnte nicht verstehen, was Reimer Witt ihm sagte: »Wir wollten sie nicht nach dem Hof bringen wegen der kranken Frau; bei Haller war die Thür zu. Da dachten wir ...«

»Ja ... ja ...« Frisius nickte eifrig, vergaß wieder, was er sagen wollte, und sagte dann: »Ich habe ein Recht auf sie.«

Ingeborg erhob sich mit schweren Gliedern: »Ja, Onkel, zu dir! Nicht in das elende Haus! Ich hasse ihn und das ganze Haus und die Jahre, die ich da gewohnt habe, ich und meine Maria.«

Da faßte Frisius hart nach ihrem Ann und stierte ihr ins Gesicht und sagte, heiser: »Du ... was standst du bei der Treppe mit den bösen Augen? Sieh mich an! Du hast die Schuld, und du bist die Schwester!«

Sie wand sich in seinen Händen, und als sie voll Entsetzen für ihre Augen eine Stelle suchte, sah sie Andrees Strandiger, der langsam, geduckt an der Mauer entlang ging.

»Andrees!« schrie sie. »Ich will mit dir gehen.«

Aber er ging in der Richtung nach der Heide, mit schwerem Gang, wie ein verwundeter Mann, dessen Stiefel voll von seinem Blut sind.

Die Männer hoben die Bahre und trugen sie zwischen den Kreuzen durch nach dem Pastorat. Frisius ging nebenher, die Hand an der Bahre, damit es bei dem Schritt der Männer keine Stöße gab. Ingeborg blieb stehen und versuchte klar zu denken. Eben war ihr, als läge die ganze fürchterliche Last auf ihrer Seele; nun wieder dachte sie an den Jubel, der wie ein Reigen durch ihre Seele zog, als sie die Schwester zu Andrees führen wollte. Sie atmete hoch auf und sagte langsam: »Ich wollte Böses thun; aber ich wurde zurückgehalten, daß ich es nicht that.«

Dwengers Frau griff nach ihrer Hand und sagte mitleidig: »Komm, Ingeborg!« Einige Frauen traten schluchzend an sie heran. Aber sie wollte nicht. Da gingen die Frauen zögernd fort, blieben aber unter der Pappel stehen, die damals noch links neben der Eingangspforte des Kirchhofs stand. Rings über den Kirchhof, über dem ein nebliges Dunkel lag – der Mond stand hinter Wolken, die über den Himmel nach Osten jagten – gingen hin und her Männer und Frauen, als waren sie verirrt.

 

Spät gegen zehn Uhr kam Ingeborg ins Pastorat. In der Thür begegnete ihr Franz Strandiger, der stumm vorüberging. Sie öffnete bange die Thür des Saals und trat zu der Toten, die zwischen zwei Reihen silberner, brennender Leuchter auf der mit weißen Leinen überdeckten Bahre lag. Die Wirtschafterin und Reimer Witt, beide in ihren Abendmahlskleidern, hielten Wache. Sie stand am Kopfende und weinte lange, so untröstlich, so ganz hilflos, so jammernd, daß die alte Frau sie mitleidig umfaßte und zu Frisius führte.

Als sie nach einer Stunde nach Strandigerhof zurückkehrte, fand sie Heim neben dem Bett der Blinden sitzend, die weinte. In dieser Nacht blieben viele Fenster im Dorf und im Eschenwinkel erleuchtet. Bis nach Mitternacht blieben viele Leute wach; überm Walde lag schon ein leiser Schimmer des neuen Tags. Eine blasse Hand streckte sich von Osten her über den Wald und löschte die Sterne aus, die über der Heide standen. Vom Strandigerhof her machte der Pellwormer, der redeschwache, der sangesstarke, seinen letzten Gang am Wehl entlang. Er sang das Morgenlied. Verwehte Laute drangen bis zu denen, die übers Watt zogen:

»De Klock hett veer slahn,
Beer hett de Klock.
Der Tag vertreibt die finstere Nacht,
Ihr lieben Christen, seid munter und wacht!
Und lobet Gott den Herrn.«


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