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Zweites Kapitel

Es dehnte sich eine gerade Heidefläche vom Dorf bis an den Wald. Wenn man lang hingestreckt in der Heide lag wie Heim Heiderieter, dann sah man an diesem Maitag, der etwas nebelig war, nichts weiter als auf der einen Seite den Wald, einen bescheidenen, von den Weststürmen niedergehaltenen Wald, auf der anderen Seite den Kirchturm, einige Strohgiebel und Baumkronen. So viel sah man, mehr nicht. Das übrige, der Rest der Welt, lag für Heim Heiderieter im Nebel, obgleich er nun schon sechzehn Jahre alt war und den Krieg gegen Frankreich mitgemacht hatte und bei Pastor Frisius den alten Griechen Homer ins Deutsche übersetzte.

Am Rand der Heide, nach Westen zu, nicht weit vom Dorfe, versuchte ein breites niedriges Strohdach, das an den Seiten fast bis zur Erde reichte, über die Heide zu sehen. Es stand so recht träge im Nebel. Dort wohnte Heim Heiderieters Vater; eine Mutter hatte er längst nicht mehr; Geschwister hatte er nie gehabt. So bekam er reichlich Gelegenheit, ein echter Heiderieter zu werden.

Die Heiderieter wohnten seit fast dreihundert Jahren in jenem Haus am Rand der Heide. Sie waren immer am besten zu wege, wenn auf der Heide der Nebel lag. Den Heiderieters hatte die Welt, wie sie sich zeigt, die Erscheinungen um sie her, immer in Nebel und Dunst gelegen. Darum war ihr Erbe auch nicht größer geworden, auch nicht wertvoller. Zwar gehörte ihnen neben einigem Ackerland in der Marsch die Heide; aber diese lag noch in alter Wüstheit da wie zur Zeit des ersten Heiderieters; und diese Leute behielten immer Platz genug, ihre langen Leiber in das Heidekraut zu legen und in den Nebel zu sehen, welcher die Welt vor ihren träumenden Augen verbarg.

Pastor Frisius sagt: »Die Heiderieter sind träge und arbeitsscheu;« aber Pastor Frisius ist kein Menschenkenner und hat noch dazu schweres Blut. Lehrer Haller sagt: »Es ist ein feiner interessanter Menschenschlag;« aber Lehrer Haller wird körperlich immer schwerer, nimmt das Leben immer leichter und macht seine Betrachtungen im hellen Sonnenschein.

Die Wahrheit ist in keinem; sie steht aber zwischen ihnen: Die Heiderieter sind fein und faul.

Wenn der Arbeiter die Kartoffeln zeigt, die er gebaut hat, so greift er in den Sack und sagt: »So sind die Kleinsten!« und noch einmal und sagt: »So sind die Größten! Die übrigen sind zwischen ihnen.« Wenn man es so mit den Heiderieters macht, so war der Größte von ihnen jener, der vor zweihundertfünfzig Jahren lebte, dessen Name in der Kunstgeschichte des Landes mit Anerkennung genannt wird. Er war, wie jeder Kunstverständige weiß, ein Bildhauer. Weil aber die Zeit und die Menschen ihm keine Gelegenheit boten, in edlem Stein oder Erz Großes zu schaffen, so ist er bei kleinen Dingen geblieben. Es stehen aber in etlichen Häusern im Land, z. B. im Schloß vor Husum, einige Kamine, an andern Stellen einige steinerne Thoreinfassungen, welche einen edlen und dabei lebhaften Stil zeigen. Von seinem Leben weiß man wenig. Er soll eine ritterliche Erscheinung gewesen sein und durch eine Liebesgeschichte von jenen Schlössern vertrieben sein, in denen er sein reichlich Brot fand. Danach hat er in einer Hansastadt als ein Meister, der Kunst und Handwerk zu verbinden verstand, in Ansehen gelebt. Sein Alter aber und sein Ende war auf dem Heidehof. Dies ist merkwürdig. War die Heiderietersche Natur noch einmal wieder zum Vorschein gekommen? Und war es die feine Seite oder die faule?

Der Kleinste aller Heiderieter war der Lebende, der Vater von Heim.

Was ist von ihm zu sagen?

Wenn man vom Wald her nach dem Hofe geht, kommt man über ein weites Stück Heideland, dessen Boden unter der Heide kleine kurze Wellen zeigt. Dies Land hatte sein Vater einst mit Mühe urbar gemacht und einen guten Roggen auf ihm gebaut und war gestorben. Sein Sohn besäte die Fläche nicht; die Heide lief wieder darüber hin. Darunter lagen, wie erstarrte Wellen, die Ackerfurchen. Es ist ferner zu sagen, daß einmal von irgend einem boshaften Menschen der Vorschlag gemacht wurde, ihn zum Kirchenbaumeister zu machen. Aber Pastor Frisius lehnte entschieden ab, da er sich zu wenig von einem Kirchenbaumeister verspräche, der nicht sein eigenes Haus, nicht einmal seinen eigenen Kopf sauber hielte.

Nein! Dieser Heiderieter war nicht fein, der war nur faul!

Er hat sich in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens damit beschäftigt, die Hünengräber aufzuschließen, die auf seiner Heide lagen. Er hat sich so lange damit befaßt, sich so einseitig damit beschäftigt, daß sein Sohn Heim zu dem Glauben kam, man fülle das Leben am würdigsten aus, indem man nach Lust und Liebe interessante Dinge ausgrabe oder, da man doch nicht alle Gräber der Welt öffnen könnte, im Sommer auf der Heide liegend, im Winter hinterm Ofen sitzend, darüber nachgrüble, was wohl darin sein könne. So war er im Begriff, ein echter Heiderieter zu werden.

Über den Namen Heiderieter ist viel Streit. Er bedeutet nach Lehrer Halter einen Heidereiter, also einen Mann, der als ein Jäger oder Wächter über die Heide reitet; nach Pastor Frisius einen Heidereißer, also einen Mann, der die Heide aufreißt, urbar macht. Wenn man die Heiderieter vom letzten bis zum ersten nach dieser letzten Erklärung mißt, so ist nur jener eine, Heims Großvater, dieses Namens würdig gewesen. Alle anderen hatten sich nicht die Mühe gegeben, die immer vordringende Heide von dem Strohdach fern zu halten, unter dem sie träumend saßen.

Heim lag in der Heide und sah seinem Vater zu, der seit einigen Tagen langsam und bedächtig ein Grab aufgrub. Man hörte das weiche Arbeiten des Spatens, das leise Hinabrutschen der Erde. Weiter nichts. Die beiden Menschen schwiegen: sie sprachen überhaupt nicht miteinander. Jeder spann seinen eigenen Traum, an Stoff zum Grübeln fehlte es einem Heiderieter nie.

Da klirrte der Spaten gegen den Stein.

Der Graukopf legte das Gerät hin und ging nach dem Heidehof hinüber. Er hatte wie gewöhnlich den Kasten vergessen, in den er die gefundenen Gegenstände hineinzulegen pflegte. Sein alter greiser Rock hing vorn bis auf die Kniee herunter: Haar und Bart, grau, fast weiß, standen wirr um den großen Kopf, sein Gang war schwerfällig und die Haltung seines kurzen Körpers durch Alter und Trägheit gebeugt.

Heim lag und sah dem Alten nach. Dann erinnerte er sich, daß der Spaten geklirrt hatte. Er schob seinen letzten Traum in die Sonntagsstube seiner Seele, die sehr groß war, und richtete seine klugen Augen auf die Stelle, wo der Stein aus der Erde hervorsah. Langsam kroch er näher, mit langen Armen und Beinen im Drillichanzug und schweren Schnürschuhen: eine große, graue Eidechse. Auf dem Leibe liegend, versuchte er, die beiden Steine, welche die Umrandung des Grabes bildeten, ein wenig auseinander zu rücken; aber das gelang ihm nicht. Es war nichts Hastiges in seinen Bewegungen, als er nun die lange, braune Hand mühsam zwischen die Steine hindurchzwängte und den schutterfüllten inneren Raum vorsichtig befühlte. Da ging ein Ruck durch den langen Körper, ein kleines Häuflein brauner Erde flog aus der Steinritze, gleich darauf ein fingerbreiter, gelber Reifen, ein Armband.

»Nun hab' ich drei!« sagte er leise und nahm den Reifen und wendete ihn hin und her und wog ihn in der Hand. »Drei! . .. Aber dieser ist der schwerste ...« Er sah nachdenklich auf den Reifen in seiner Hand. »Wenn ich ihn nur endlich brauchen könnte! Endlich 'mal! Drei hab' ich nun. Und noch keinen gebraucht!«

Über die Heide kam der Alte. Schwankend, undeutlich erschien seine zusammenhanglose Gestalt in dem Nebel. Er hatte den Kasten unter dem Arm und eine Eisenstange in der Hand.

»Faß an!« sagte er.

Also mußte Heim aufstehen und die Stange anfassen. Als es dem Alten nicht gelang, den großen Deckstein zu schieben, legte Heim sich davor; da wich er.

Beide beugten sich nieder und sahen in die Kammer.

»Eine Maus!« sagte der Alte.

»Ein Maulwurf!« sagte Heim und wischte vorsichtig die Spur weg, welche dem Eindruck eines Fingers glich.

Es fiel kein Wort, während sie sorgfältig die Erde untersuchten und die kleinsten Scherben und Stücke, in den Kasten legten. Nun war die Urne beseitigt. Der Alte ließ seine Finger leicht tastend über die Erde gleiten und hob den Kopf.

»Du kannst nach Hause gehn,« sagte er.

Da ging Heim mit gemächlich langen Schritten, die Hände tief in den Hosentaschen, über die Heide, aber nicht nach dem Heidehof zu, sondern nach dem Wodanshügel, der am Rand des Waldes lag. Und während er so dahin ging, lächelte er hochmütig: »Jetzt findet er den Dolch ... na, laß ihn!«

Nach zehn Minuten hatte er den Hügel erreicht und setzte sich zwischen die beiden Weißbirken auf die bankartige Erhöhung von Heidesoden und fing an, das Armband an dem harten Stoff seiner Jacke blank zu reiben. So arbeitete er mit stiller und verschlossener Miene wohl zwei Stunden lang; nur in den halbgeöffneten Augen war Leben, buntes Leben, wie in den Heidegräbern. Er malte sich aus, wie er die drei Reifen brauchen würde, und in welcher Weise das große herrliche Ereignis wohl eintreten könnte.

Die Sonne hatte die Nebel besiegt, sie lag klar und warm im Westen, mit den goldenen, ausgestreckten Flügeln fast schon auf dem Meer. Man mußte aber wissen, daß es das Meer war; von selbst kam kein Mensch darauf. Aber die mächtige silberne Planke am Rand der Erde, die da im Westen steht, als trennte sie das Reich Gottes von dem Reich der Menschen, das ist die Nordsee, die in der Ebbe zurückgetreten ist.

Der Weg, der aus der Welt in die Einsamkeit dieser Heide führte, kam schräg hinter dem Wodanshügel aus dem Wald. Auf diesem stillen, selten betretenen Waldweg wurde es in dieser Abendstunde lebendig. Menschenschritte nahten, Männer- und Frauenstimmen kamen zwischen den Bäumen den Wodanshügel herauf.

Heim Heiderieter ließ den Reifen in die Tasche gleiten und sah sich erstaunt um. Müde Männer zogen den sandigen Weg entlang, in dunkler Tuchkleidung und mit Schritten, die von langem Weg und von schwerer Arbeit redeten. Hinter ihnen her gingen vier oder fünf Frauen, auch wegemüde, aber doch noch redelustig. Und die eine, eine breite Frau mit starken Zügen, entdeckte den Jungen auf dem Hügel und fragte ihn in fremdartiger hochdeutscher Sprache nach der Entfernung der nächsten Stadt. Er stand auf und stieg den Hügel hinunter.

»Eine Stunde!« sagte er. »Ihr müßt aber rascher gehn.«

Sie zogen weiter, indem sie sich zuweilen umsahen; und Heim sah ihnen nach, die braunen Finger um den weißen Birkenstamm gespannt. Taktweise hoben und senkten sich die farbigen Tücher der Frauen.

Und jetzt wandten sie alle noch einmal die Köpfe, und ihr helles Lachen flog den Weg zurück nach dem Wald.

Heim war mitten in Träumen. Was er heute morgen in der stillen Arbeitsstube des Pastor Frisius gelesen hatte, das erlebte er jetzt. Sein Gesicht hatte einen vergrämten Ausdruck angenommen; tiefe Furchen, standen grad aufrecht über den Augen, und die Winkel des zusammengepreßten Mundes waren nach unten gezogen. So kauerte er neben der Birke, vom Unterholz fast ganz verdeckt.

Odysseus war er, von dem er in diesen Wochen gelesen hatte, dessen Abenteuer seine Seele erfüllen! Unerkannt in die Heimat zurückgekehrt, belauschte er vom schützenden Dickicht aus den Zug der übermütigen Freier. Drohend rief er den Dahinziehenden nach:

Ah! Ihr Hunde! Ihr glaubtet, ich käm' nicht wieder zur Heimat
Aus dem Lande der Troer! Da zehrtet ihr Schlemmer mein Gut auf,
Und ihr thatet Gewalt den Weibern in meinem Palaste,
Ja ... um mein Weib ihr buhltet sogar, da ich lebte!
Habt ihr die Götter gescheut, des weiten Himmels Bewohner?
Oder ob ewige Schande auf eurem Gedächtnisse ruhte?
Doch nun ist euch allen die Stunde des Todes gekommen!

Da klang aus dem Wald ein lustiges Lachen, und eine Kinderstimme sagte: »Bist du denn Odysseus?« Ein zierliches Mädchen, das mochte vierzehn Jahre alt sein, saß mit rotbuntem Kopftuch auf einer Baumwurzel, wegemüde.

Heim Heiderieter richtete sich jäh auf und sah frei in das heiße junge Antlitz hinunter. Sein Gesicht war in Rot getaucht, sein blondes, krauses Haar von der Abendsonne vergoldet, und seine Augen waren voll von Funkeln und Fragen:

»Komm herauf!« sagte er rasch. Und er wandte sich halb um und zeigte auf die Bank.

»Aber die andern gehn weiter!«

»Ach! ... die bleiben in der Stadt! Da kommst du noch leicht hin. Setz dich hier her... Hörst du? Hierher! Du kannst es dreist thun.«

Er lockte und nickte. Seine ganze Gestalt war beweglich, seine Augen lachten und blitzten, und die Worte fielen, obgleich er hochdeutsch sprach, glatt und rund und leicht wie Perlen von seinen Lippen.

Denn dies war Leben! Dies war Wirklichkeit! Das andere: der Vater, das Dorf, die Marsch: das war ein langweilig Träumen! Aber dies war bunte, wonnige Wirklichkeit! All die Worte, die er so oft, auf der Heide liegend, ersonnen hatte, jetzt konnte er sie laut sagen. Das Ereignis, das so oft vor seiner Seele gestanden, das er sich so oft bis ins einzelne deutlich und farbenreich ausgemalt hatte, jetzt war es da!

Sie saß da wirklich auf der Bank. Das bunte Tuch war zurückgesunken, und ihr fast schwarzes, ein wenig krauses Haar hatte in der Abendsonnne metallenen Glanz. Sie sah neugierig zu ihm auf und lächelte ein wenig, während sie mit ihrer kräftigen, kernigen Gestalt behaglich gegen den Birkenstamm lehnte.

»Du mußt nun gemütlich sein,« sagte er. »Und gar nicht bange!« Und mit Großartigkeit hob er die Hand und zeigte über die Heide: »Das alles gehört uns; auch in der Marsch haben wir Land und Pferde und Kühe! Das ist unser Königreich! Und wir wissen, wie man einen Gast behandeln muß! Ich lese den Dichter Homer.«

»Von dem habe ich auch schon gehört,« sagte sie.

»Natürlich! Du bist ja eine Königstochter!« Und er lachte frei und laut, wie er noch nicht gelacht hatte.

»Du sprichst so fein, ganz anders als sie hier sprechen. Woher bist du?«

»Weit weg aus dem Süden bin ich.«

»Gehörst du denn zu denen da?«

»Jetzt gehör' ich zu ihnen, früher nicht! Sie sind Ziegler, weißt du, aus Lippe-Detmold. Es ist eine neue Ziegelei bei eurer Stadt gebaut, da wollen sie arbeiten.«

»Wo sind denn deine Eltern?«

»Meine Eltern haben in Hessen gewohnt und sind nun schon lange tot.« Sie sah in Gedanken über die Heide und schien sehr müde.

Er wandte sich lebhaft zu ihr: »Du mußt nun bei mir bleiben. Siehst du nicht, daß wir beide ganz allein auf der Welt sind? Da nach Westen und Süden ist das Meer, da nach Norden ist die Heide, und nach Osten liegen Wälder, tausend Meilen tief.«

Nun lachte sie wieder, und in ihren Augen lag die Freude am Märchen. »Was denn nun?« fragte sie.

»Die bei Homer,« sagte er großartig, »sagen gleich ›du‹ zu einander.«

Er faßte nach ihrer Hand und sagte lachend, ein wenig verlegen und ein wenig großartig: »Ich habe dich mächtig gern.«

»Das ist schön,« sagte sie und sah sich nach den Wandernden um; »mich hat sonst niemand lieb und niemand fragt mich, was ich gern möchte.«

»Was möchtest du gern?«

»Jetzt? Bei dir bleiben!«

»Siehst du? Nun bist du so, wie die Menschen damals waren! Wir thun nun, was wir wollen. Komm! Wir gehn in den Wald.«

»Ich bin aber müde!«

»Ich weiß eine feine Stelle am Bach; da setzt du dich hin, und ich erzähle dir alles, was ich gelesen habe, und noch mehr.«

Sie ging zögernd mit ihm. Die Zweige der niedrigen Buchen schlugen wie Thüren leise hinter ihnen zu. Der Wind hielt seinen Atem an, und die Sonne sah ihnen nach. Die Ameisen blieben auf ihren Geschäftswegen stehen, und die Vögel unterbrachen den Chor, den sie einübten. Da war unter dünnen Birken, nicht weit vom Waldrand, ein klares Bächlein, das lief eilig, leise vor sich hinredend, über weißen Sand. Es war so schmal, daß man leicht hinüberstapfen konnte.

Er ging zuerst hinüber; dann sie an seiner Hand. Es war das erste Mal, daß er einem Mädchen nahe kam. Er hatte ein Gefühl, wie neulich, als er allein mit Pastor Frisius in der Kirche war und die rote Osterdecke über den Altar legte. Er ließ sie gleich wieder los und zeigte auf das Moos zu seinen Füßen, das schräg bis zu den Birkenwurzeln hinauflief. Es war ein weicher, tiefer Teppich, durch helle Tupfchen belebt.

Sie sank müde hin und stützte den Kopf in die Hand, und er saß vor ihr. Bald stützte er sich in lebhafter Rede auf beide Ellbogen, bald hob er sich und lag auf den Knieen, so daß sie über seine drollige Stellung lachte und sagte, er säße wie der Hase im Kohl, nur die Ohren stimmten nicht! Und sie sah nach seinen Ohren, die, zierlich sich anschmiegend, unter den krausen Haaren saßen.

Sie redeten miteinander, als wenn sie zusammen aufgewachsen wären; wie ein guter Bruder mit seinem Schwesterchen redet. Er hatte alle Verlegenheit abgelegt. Das Hochdeutsche, das er sonst nur beim Pastor sprach, flog ihm von den Lippen. Er wunderte sich aber über nichts: Er war ja alles Wirklichkeit!

Er erzählte von der Heide und von der Nordsee, und was in alter Zeit auf der Heide und auf der Heerstraße geschehen war, und kramte seine bunte Weisheit mit großer Wichtigkeit aus, und breitete sie mit vielen eckigen Handbewegungen auseinander, daß sie sagte: »Du bist wie ein junger Jagdhund!« Sie lachte, hatte die Hände unter dem Kopf gefaltet und lag auf den gefalteten Händen. Man sah an ihren Augen, und wie sie da so wohlig lag, wie glücklich sie war.

»Nun will ich dir noch eins erzählen; das habe ich selbst erlebt. Du sollst sagen, ob es wahr ist.« Indem er, wie zum Takt, den Kopf wiegte, trug er vor. Der Wind zog leise von der Heide her durch den Wald und verwirrte die jungen Blätter; und die vielen roten Flecke, welche die Sonne auf den Waldboden malte, liefen hastig durcheinander und versuchten sich zu greifen.

Am Bach.

Der Knabe liegt am Bache,
In Maien und Waldesruh';
Des Büchleins eilig Rauschen
Schließt ihm die Augen zu.

Und wie er liegt im Moose,
Kommt leis ein schöner Traum,
Er hört des Bächleins Stimme
Klingen im stillen Raum.

»Was sagst du zu meinem Kleide?
Von Silber die Brust umkost,
Der Rock aus weißer Seide,
Borte von grünem Moos?

»Was sagst du zu meinem Singen?
Es klingt wohl traut und rein,
Es wird dir nicht gelingen,
Treulos und hart zu sein!

»Was sagst du zu meinen Augen?
Muß wandern noch weit, noch weit!
Ob sie zu lieben taugen?
Habe nicht Zeit, nicht Zeit.«

»Du fliehst? Ist's nun zu Ende?«
Er schreit wohl auf im Traum,
Es greifen seine Hände
In Wasser und in Schaum.

Und als das Wasser stille
Und leise das Bächlein zieht,
Aus silberklarer Welle
Ein banges Antlitz steht.

Und ringsum klagen leise
Das Gras und das Moos im Grund,
Das Bächlein auf der Reise
Schluchzt noch diese Stund'.

Sie hob die Schultern und sagte: »Hast du dir das ausgedacht?«

»Erlebt hab' ich's! Wahrhaftig erlebt!«

»Du?« sagte sie. »Ein Schelm bist du? Durchschaut hab' ich dich!« Sie legte sich wieder zurück, so lang sie war, und blinzelte mit den Sonnenstrahlen, die schräg durch das Birkengezweig kamen. Er aber saß vor ihr und sah sie an.

»Eh' du fortgehst,« sagte er, »müssen wir Gastgeschenke tauschen! Weißt du? Das thaten die Alten immer.«

»Ich habe ja nichts.«

»Du mußt dir etwas ausdenken.«

Sie sah ihn sinnend an, dann wandte sie den Kopf traurig zur Seite: »Ich muß aufstehn, fortgehn muß ich.«

»Bleibe noch!«

»Ich habe noch eine Stunde bis zu den anderen. Ach, wenn ich doch wieder nach der Heimat dürfte!«

»Willst du mir dann schreiben, wenn du in der Heimat bist? Heim Heiderieter heiß' ich.«

Sie hörte nicht auf ihn. Der Traum war davon geflogen: »Nun zeig' mir rasch den Weg!«

Er ging vor ihr her durch das Gebüsch, indem er die Zweige sorgsam beiseite bog. So traten sie auf den Weg. Sie sahen sich an und atmeten tief auf und rührten sich nicht.

»Geh' da hinauf! Dann können wir uns noch lange sehn.«

»Es wird rasch dunkel werden, glaub' ich.«

»Ich geh' schon.«

»Ja,« sagte er hastig, »du mußt nun gehen; aber hier ... das sollst du von mir haben, siehst du? Als Gastgeschenk!« Und er gab ihr den Reifen, den er plötzlich in der Hemd hatte. »Es ist Gold,« sagte er, »bewahr' es auf, daß ich dich kenne, wenn wir beide groß geworden sind.«

»Darf ich es denn? Es ist für große Leute.«

»Es ist in der Erde gefunden,« sagte er stolz, »die uns gehört.«

Die Augen auf den Reifen gerichtet, den sie in der Hand hielt, wandte sie sich von ihm ab und ging zögernd fort.

Seine Augen hingen an ihr. Es flog etwas Geistiges zwischen ihnen hin und her. Sie kamen wieder aufeinander zu und gaben sich die Hände. Dann ging jedes still seines Weges.

Der Wodanshügel lag einsam am Rand des Waldes.

Der Bach plauderte weiter.

Der Knabe schlich durch die Heide nach Haus ...

 

Unterdes war der alte Heiderieter nach Haus gegangen. In der Küche stand Telsche Spieker am offenen Herdfeuer. Er ging vorüber und trat durch die breite Doppelthür mit den schrägen Glasscheiben und dem geschweiften Holzwerk in den Saal.

Das Heidehaus war vor zweihundertfünfzig Jahren die Wohnung des zweiten Predigers gewesen und vereinigte in gemütlicher Weise Gelehrten- und Bauernhaus. Es ist für das Geschlecht der Heiderieter bezeichnend, daß sie damals gerade dies Haus an sich brachten. Es mußte einem Geschlecht behagen, das halb künstlerisch, halb bäuerisch war.

Der Alte schlarrte mit langen Schritten durch das altertümliche, stattliche Gemach, in dem nur geringer Hausrat stand, und schloß zur Linken eine Stubenthür auf, zu der er den Schlüssel in der Tiefe der Tasche gefunden hatte.

Nachdem er einen der ganz verstaubten Vorhänge, welche die beiden Fenster dicht verschlossen, beiseite geschoben und sich überzeugt hatte, daß der Schulhof drüben leer war, übersah er seine Herrlichkeiten. Und hier, unter diesen toten Grabfunden, die auf Holztischen ausgebreitet lagen, veränderte sich das Wesen des Mannes, wie das seines Kindes sich beim Anblick des fremden Mädchens verwandelt hatte. Nachdem er den Kasten auf den Tischrand gesetzt hatte, legte er mit zitternden und flinken Händen, und lebhaft und nicht leise mit sich redend, die gefundenen Gegenstände dorthin, wohin sie nach Alter und Art gehörten. Zuletzt legte er ein Schwert, von fast Armeslänge, grade und wohl drei Finger breit, zu zwei gleichartigen und sagte: »Nun sind's drei!« Und man sah die Freude in seinem alten, runzligen Gesicht. Dann verzeichnete er die Funde mit nicht ungewandter Feder, bezeichnete auch den Ort und die Bauart des Grabes in einer umfangreichen Karte, welche ein Bild der ganzen Heidefläche darstellte. Er that dies alles mit lebhaften Bewegungen und mit einem Eifer, der deutlich zeigte, daß seine Seele hier, auf diesem Gebiet, mit einer nicht gewöhnlichen Begabung, mit lebendiger Phantasie und mit einer ehrlichen Liebe thätig war.

Als es Abend war, saßen Vater und Sohn an dem Tisch, der mitten im Saal stand, bis spät in die Nacht hinein unter der Lampe. Der Knabe versuchte einige Seiten Homers zu übersetzen; der Vater las in einem alten Hauskalender. Beide saßen stumm und dumm da; alles Licht schien in ihnen erloschen. Telsche Spieler war zu Lehrer Haller hinübergegangen, mit dessen Frau sie gute Freundschaft hielt, und war dann, der langweiligen Menschen, die im Saal saßen, überdrüssig, zu Bett gegangen.

Der andere Tag brachte helle klare Luft. Die Heide lag da wie ein braunes Kind, auf dem Rücken, sonnverbrannt, und doch der Sonne nicht böse, die ihr in das schöne Gesicht schien, in das Gesicht mit den stillen Augen.

Das war ein Tag, auf der Heide zu liegen, von Phantasieen überfallen, überwältigt zu werden und sich nicht zu wehren, am Ende sich nicht zu rühren, immer nur zu träumen. Es war ein Tag, eigens für einen Heiderieter vom Himmel gekommen.

Heim kam gegen sechs Uhr abends aus dem Pastorat, unzufrieden mit Pastor Frisius, der ihn den ganzen Tag festgehalten hatte. Nicht, daß die Mathematik oder die Übersetzung des Virgil ihn sehr geplagt hätte; aber daß solch Wetter unbenutzt, d. h. unverträumt, vorüberging, das quälte Heim. Zuletzt, als die Schatten der Tannen immer länger wurden, hatte er sich ein Herz genommen und gebeten, entlassen zu werden, und Pastor Frisius, an seinem Schreibtisch in tiefen Gedanken, hatte aus der Tiefe heraufgenickt.

Im Heidehof legte Heim die Bücher anf den Tisch und ging dann aus dem Hause. Als er die stille weite Heide vor sich sah, in der Ferne den Wald, davor den Wodansberg, da schlug aus seinen Augen das Feuer, das gestern am Bach darin gebrannt hatte.

Da wurde er gestört.

Es sprang einer mit lautem Ruf über die Höhe des Walls. Gleich hinter ihm erschien Andrees Strandiger.

Heim Heiderieter stand in böser Verlegenheit da. Ein fremder Mensch! Ein junger Mann stand vor ihm, groß und schlank, mit sicherer selbstbewußter Haltung, in seiner Kleidung. Heim machte den Versuch einer Verbeugung, der aber mißlang, der, um es gleich zu sagen, auch in Zukunft nie gelungen ist, also, daß Heim Heiderieter, als er später einiges Selbstbewußtsein bekam, es aufgab, Verbeugungen zu machen, und so wie er geschaffen war, grade durchs Leben ging. Andrees Strandiger gab ihm die Hand und sagte: »Du hast natürlich nicht daran gedacht, daß gestern die Pfingstferien angefangen sind! ... Kennst du Franz Strandiger wieder?«

Heim ward rot und nickte; Franz aber kam ihm entgegen und streckte gutmütig die Hand hin: »Wir sagen gleich ›du‹ zu einander!«

»Kommt!« sagte Andrees.

Franz reckte beide Arme: »Ja, wir gehn über die Heide! Wir haben Ferien! Ferien!«

Andrees wandte sich an Heim: »Nun, wann kommst du auf die Schule?«

»Zum Herbst. Pastor Frisius hofft, daß ich die Sekunda erreiche.«

»Was willst du werden?«

»Ich weiß nicht,« sagte Heim verlegen. »Ich muß ja erst alles kennen lernen.«

Andrees zog sein ernstes Gesicht in Falten: »Man muß doch wissen, wohin man gehen will.«

Nein, das wußte Heim nicht. Heute hatte er dies gewollt und morgen jenes, und meistens etwas Seltsames, etwas Außergewöhnliches. Eine Zeit lang wollte er in Friedrich Schillers Fußstapfen treten, bis er zu seinem Leidwesen merkte, daß Schiller gerade alle Gedanken, die Heim auf der Heide hatte, vorweg gehabt hatte. Ein andermal berechnete er die Zeit, da er seine erste Nordpolfahrt würde unternehmen können, und es war ein quälender Gedanke, daß ihm auch hier einer zuvorkäme.

Er hatte auch schon an Staatsmann oder Feldherr gedacht; aber da war wegen Bismarck und Moltke für lange nichts zu machen. Etwas anderes war es mit Afrika! Ja Afrika! Er senkte beide Hände in die weiten Taschen und fing an zu träumen. Und was er träumte, ward lebendig wie Wirklichkeit. Er war im Indischen Ocean, links Sansibar und ließ sich bei Daressalaam ans Land setzen, den weißen Korkhelm im Nacken.

Franz Strandigers Stimme rief ihn wieder nach der Wodansheide: »Ich werde entschieden Börsenmann!« sagte er. »Da ist viel Geld zu verdienen. Und wenn man Geld hat, dann ist man freier Mann. Meine Schwester Lena sagte Ostern zu mir, als ich in Berlin war: »Sieh zu, Franz, daß du bald reich wirst, dann fällt der Glanz auf mich, und ich bekomme einen Hauptmann von der Garde!« Er wandte sich an Heim: »Denke dir, das Mädchen hat eben erst lange Kleider an und hat solche Gedanken! Kannst du dir so was vorstellen?«

Nein, das konnte Heim nicht, bei all seiner reichen Phantasie! Er sah in seiner Ratlosigkeit zu Andrees auf: »Was willst du werden, Andrees?« Er fragte nur, um von dem andern frei zu kommen, dessen sichere Art ihn verlegen machte.

»Ich ?« sagte Andrees, »ich will dem Vaterland dienen.«

Da machte Franz Strandiger mit seinem Stock einen sausenden Hieb durch die Luft: »Wie denkst du dir das?«

»Ich werde Verwaltungsbeamter, Staatsmann! Dann will ich das durchsetzen, was unserm Volke not thut.«

Heim beugte den krausen Kopf, hörte still zu und staunte: »Wie er das so ruhig sagt! Und er wird es erreichen! Er wird es leicht erreichen!« Und Heim fing wieder an zu grübeln, seine Hände versanken in den Taschen, und er sah mit verlorenem Blick über die Heide: »Dann wenn er das Große erreicht hat, bann schickt er mich als seinen Botschafter ... nach Afrika, mit vielen Truppen und vielem Geld.«

Er hob mit träumender Bewegung die rechte Hand, schob den Korkhelm in den Nacken und atmete tief und laut.

»Nun?« fragte Franz, und seine Augen lauerten und funkelten.

Da phantasierte Heim laut weiter: »Ich würde glauben,« sagte er leise und langsam, »daß ich mein Leben verfehlt hätte, wenn ich nicht als Dreißigjähriger wenigstens zwei Orden hätte.«

Franz lachte hell auf. Sein ganzes schönes Strandigergesicht sprühte von Spott, und er schüttelte dem aus seinen Träumen stürzenden, vor Schreck fast schwankenden Heim die Hand: »Ich will dich an das Wort erinnern, Heim Heiderieter, wenn du dreißig bist. Na! Du hast noch vierzehn Jahre bis zum Lorbeer.«

»Und du,« sagte Andrees scharf, »bis zum Geldsack.«

»Und du,« rief Franz, »bis zum Königreich!« Er knipste mit den Fingern und lachte: »Ich will doch diesen denkwürdigen Tag nicht vergessen, an dem drei dumme Jungen die Welt unter sich teilten.«

»Komm,« sagte Andrees, »wir wollen umkehren. Du mußt mit nach Strandigerhof. Dort geschieht heute etwas ganz Besonderes. Du erinnerst, daß vor einigen Jahren ein Kapitän aus Hamburg mit Frau und Kindern den Strandigerhof besuchte und drei oder vier Wochen blieb. Erinnerst du die beiden kleinen Mädchen? Nun: Beide Eltern sind gestorben. Zuerst die Frau, welche eine entfernte Verwandte meiner Mutter war; danach ist der Mann, der auf Südamerika fuhr, dort am gelben Fieber geblieben. Nun hat er eine Bestimmung hinterlassen, daß im Fall seines Todes meine Mutter gebeten werden soll, die Kinder zu erziehen. Er schreibt, daß meine Mutter damals bei jenem Besuch, sowohl ihm als seiner Frau, so besonders lieb geworden, so nahe getreten sei, daß er nun in seiner Herzensangst um seine Kinder diese übergroße Bitte wage. Nun kannst du dir denken, was Mutter zu dem Brief gesagt hat.«

»Ich weiß,« sagte Heim rasch: »Sie hat gesagt: ›In Gottes Namen!‹ Sie ist die beste Frau auf der Welt. Sie ist auch meine Mutter.«

Andrees nickte und legte seine Hand auf die Schulter des Freundes. So gingen sie eine Weile nebeneinander, dem Rand der Heide zu, nach Westen. Vor ihnen, zwanzig oder dreißig Fuß tiefer, dehnte sich die ebene Fläche der Marsch.

Diese Felder zu ihren Füßen, von Gräben durchzogen, bis an den Deich und der Körper des Deichs und das Vorland bis zum Watt, alles gehörte den Strandigern. Und was da draußen im Vorland und weithin im Watt an neuem grünen Land sich bildete, auch das konnte den Strandigern nicht streitig gemacht werden; denn sie selbst hatten diese Marsch dem Meer abgewonnen, und sie waren es gewesen, die, solange man zurückdenken und lesen konnte, immer aus eigener Tasche und mit eigenem Spaten den Deich in stand gehalten und im Vorland die Gräben ausgeworfen hatten, in denen sich der Schlick zu neuem, fruchtbarem Lande sammeln sollte.

Aber die alten Deichprotokolle, die im Landratsamt am Markt in der Stadt lagen, erzählten wenig von Landanwachs, häufiger von Deichbruch: »Der pp. Strandiger soll wegen Landes Sicherheit gehalten und verpflichtet sein, in diesem Jahr bis Martini Tag das corpus des Deichs, so ihm gehört, neu in stand zu setzen,« oder: »Der pp. Strandiger soll noch in diesem Jahr von der Ecke des Stülper Deiches bis gegenüber dem Weg nach dem Hofe, allwo die Strömung und die Flut vom dritten November die Grasnarbe aufgerissen haben, in einer Länge von siebenzig Fuß einen Steindamm legen, wie landesüblich.«

Erst in den letzten dreißig Jahren war es anders geworden.

Das Meer hat Launen, bald heult es, bald lacht es; bald ist es habgierig, bald freigebig. Es ward sehr freigebig! Und die Strandiger, immer thatkräftige zähe Leute, Friesen, sagte man, von Haus aus, stiegen zu frischer Arbeit über den Deich. Sie zogen lange schräge Gräben ins Watt hinein, und bald dehnte sich zwischen diesen Gräben, auf gewölbtem Rücken, weiter und weiter das kurze grüne Gras, und schon jetzt brachte dies grüne Vorland der Frau Strandiger über 3000 Mark jährliche Pacht.

Draußen aber, weit draußen im Watt, vier Stunden weit, hatte sich am Rand der Brandung eine lange weiße Dünenkette erhoben, immer höher; und im Schutz dieser Dünen, nach dem festen Land zu, hatte sich ein weites grünes Maifeld gebildet.

Flackelholm nennt man diese Insel. Sie ist wenig bekannt, weil sie neu ist, ganz vereinzelt liegt und wegen der Watten und der Brandung sehr schwer zu erreichen ist. Es giebt Karten, die sie nicht verzeichnen, und es giebt Aufsätze über die Halligen, welche sie nicht kennen. Und doch ist sie auch eine Hallig, und zwar versunken gewesener, aber wieder aufgestiegener Rest der cimbrischen Marsch. Und wie es jetzt scheint, ist sie von allen Halligen die, welche die größte Zukunft hat; denn die anderen müssen geschützt werden, damit sie nicht vom Meer gefressen werden. Sie bekommen einen Steindamm, an dem das Meer sich die Zähne zerbeißt. Flackelholm aber wächst von selbst und dehnt sich von Jahr zu Jahr. Vor ihm hat sich das Meer selbst einen Wall, eine Grenze aufgebaut, eine lange hohe Mauer von weißem Sand.

Wenn man von Hamburg nach Helgoland fährt, und Steuerbord das feste Land verschwunden ist, und man hat ein gutes Glas, dann sieht man nordwärts im Meer die Düne leuchten, ja, man kann wohl gar den Flaggenmast erkennen, der aus gestrandetem Bambusrohr zusammengestückt ist, und vielleicht sieht man neben der Flagge den stehen, der jetzt dort wohnt, nachdem er das erlebt hat, was erzählt werden wird.

Als die Freunde die Auffahrt, die von den hohen Ulmen fast dunkel war, hinaufgingen, hielt vor der Hausthür die stattliche Kutsche, und Frau Strandiger streichelte zwei schwarzgekleideten Kindern die Wangen, immer umschichtig, damit keine zu kurz käme. Die Ältere, die vierzehnjährige Maria, dunkel, mit weichen braunen Augen, weinte; die achtjährige Ingeborg, mit blauen lebhaften Augen, sah voll Vertrauen auf die freundliche Frau mit der langsamen leisen Stimme und den kurzsichtigen verweinten Augen, und auf das große graue Haus. Dann entdeckte sie mit rascher Kopfbewegung – ihr rotblondes loses Haar sprang von einer Schulter zur andern – die drei Knaben, die zögernd aus den Bäumen traten.

»Seht!« sagte Frau Strandiger, »da kommen eure Freunde.« Und sie nannte ihre Namen.

Gleich nachher stand Heim hinter Frau Strandiger, in verlegener Haltung und wartete, bis die Begrüßung an ihn kam. Er sah nach den Krähennestern hinauf, die oben in den Ulmen waren, alte vorjährige, und zählte sie. Nur zweimal, zwischen je zwei Nestern, flogen seine Augen rasch und scheu von den ehrwürdigen Bäumen zu den jungen Kindern, die so weiche Stimmen und so wunderschönes Haar hatten. Wenn aber die Augen der Kinder wieder die seinen suchten, sah Heim schon wieder nach der alten Krähe, die von oben herab in mißtönigen Schreien ihre Weltanschauung kund that.

»Sie sind mir viel zu sein!« dachte Heim.

»Quark! Quark!«

»Das wird nie gemütlich!« klagte Heim.

»Quark! Quark!«

So krächzte die Alte griesgrämige Antwort, und es war nicht abzusehen, wie lange diese Unterhaltung dauern würde: Da traten die Kinder an Heim heran und begrüßten ihn.

Nach dem Abendbrot ging man noch um den großen Rasen, um den wie Posten die starken Baumstämme standen, zwischen denen es mählich dunkelte. Doch kam vom Westen, vom Meer her, noch ein schwaches Abendleuchten; das stand in beiden Fenstern des Giebels und sah mit guten halberblindeten Augen auf die Menschen, die durch den Garten gingen. Sie gingen aber so: Voran Franz Strandiger und neben ihm die dunkle Maria, und er erzählte ihr lebhaft und frisch von dem Leben der großen Stadt, von den Paraden, Straßen und Schlössern, und sie hörte zutraulich zu und sah zuweilen zu ihm auf. Als er aber im Eifer der Darstellung – obgleich er sich sehr zusammen nahm; denn er war ein Menschenkenner – über etwas Betrübendes, Mitleid- oder Abscheuerregendes lachend berichtete, da war sie gleich verschüchtert und sah von ihm weg zu Andrees und Heim hinüber, mit Augen, die bange fragten: »Seid ihr auch so?« Und Andrees, der sie im Auge hielt, antwortete jedesmal, indem er sie wohlwollend freundlich ansah. Heims Augen aber flogen, husch – in das Dunkel der Ulmen.

Andrees hatte die Hand der kleinen Ingeborg angefaßt: »Wie alt bist du, Ingeborg Landt?«

»Acht Jahr bin ich!« und sie machte einen lebhaften Sprung.

»Ich bin sechzehn. Wieviel bin ich älter als du? ein, zwei? ...«

»Acht Jahr um und dumm!« sagte sie und sprang wieder.

»Warum machst du immer einen Knix?«

»Das ist ja kein Knix!« Nun hatte sie mit einem Male eine viel tiefere Stimme. »Das ist ja bloß Spaß ... weil mir so langsam gehn.«

»Aha! Du möchtest mit mir laufen?«

»Ja, wollen wir mal?«

Er schüttelte verständig den Kopf: »Das ist nichts für große Leute!« sagte er.

Da ging sie stiller neben ihm an seiner Hand. Die Kameradschaft war aus. Er war ihr fern gerückt und fremd geworden. Ihr Herz, das zu ihm flog, war zurückgescheucht und flog einen andern Weg, zu Franz Straniger, der lustig plaudernd vorüber ging. »Andrees soll mir morgen das Haus zeigen,« dachte sie, »und die Pferde und die Lämmer. Mit Franz will ich zwischen den Bäumen Versteck spielen. Da, hinter den großen Baum will ich mich stellen; das Kleid nehme ich zusammen; dann sieht er mich nicht. Aber den andern, den mag ich nicht leiden. Zu dem will ich gar nichts sagen; der hat graue Schuhe mit Lederriemen.«

Heim ging neben Frau Strandiger und hörte still zu, was sie ihm von dem Leben und den Schulzeugnissen der Kinder erzählte und von dem künftigen Unterricht, den Frisius und Haller leiten sollten. Er unterwarf unterdes mehrere Stämme am Tanganjika-See, die sich zum drittenmal gegen ihn empört hatten, nachdem sie so feierlich und wortreich Treue gelobt hatten; und er spähte seitwärts in die dunklen Schatten, ob nicht dort wilde schwarze Männer, mit Augen wie Feuerkohlen, lauerten, bereit, über das schöne Kind herzufallen, das neben Franz Strandiger ging und zu ihm, zu Heim Heiderieter, herübersah, als ob es Hilfe brauchte. Maria Landt aber dachte, wenn sein Blick scheu zu ihr herüberflog: »Was muß das für ein guter lieber Mensch sein!«


Am andern Abend trat Andrees neben Maria ins Haus und hob die Mütze, während sie an ihm vorüberging: »Wenn du Lust hast,« sagte er, »will ich dir die Aussicht zeigen, die wir von oben haben.«

Sie gingen nebeneinander die dunkle ausgetretene Treppe hinauf, die sich zur Linken der Hausthür in stattlicher Breite und dunkler Fülle des Geländers erhob. Der schmale Gang, in den sie nun traten, war ohne Fenster und hatte in der Mitte zwei Stufen, da mußte er ihre Hand fassen. Weil es aber eine so warme, weiche Hand war, die zutraulich in der seinen lag, mochte er sie nicht gleich wieder loslassen und führte sie so am Ende des Ganges eine steile, enge Treppe hinauf, die nur eine glatte Holzstange als Geländer hatte.

»Ingeborg ist sehr gern hier,« sagte sie. »Als wir von Hamburg wegfuhren, weinte sie.«

»Und du?«

»Ich? Erst hab' ich mich gefürchtet, vor euch Jungs nämlich. Ich dachte, ihr wär't stolz. Die großen Jungs sind manchmal so stolz.«

»Ich bin kein Junge mehr!«

Sie schwieg und senkte den Kopf: »Du mußt das nicht übelnehmen!« sagte sie dann. Sie war dem Weinen nah. Ihre Schwester Ingeborg hätte gelacht, sie aber kämpfte mit Thränen.

Er stieß mit dem Fuß die Thür auf; da standen sie in einer Kammer, welche am Ende des Hauses, unterm Dach, angebracht war. In der steilen Giebelwand war ein breites Fenster. Zwei kleinere, mit eisernen Rahmen, lagen im schrägen Ziegeldach einander gegenüber; das eine zeigte nach Osten, nach der Heide, das andere nach Westen, nach dem Meer. Viele Bauernhäuser am Strand haben solche Fenster oder Luken; man kann bei unruhigem Wetter über den Deich sehn und sich überzeugen, wie es im Vorland und im Watt aussieht, ob das Vieh ruhig weidet oder ob die Springflut gefährlich wird.

»Komm!« sagte er. »Hierher!« Und er legte in der großartigen Weise, wie Brüder ihre kleinen Schwestern behandeln, seinen Arm um ihre Schultern und zog sie an das Giebelfenster. Er war viel größer als sie, lang und unfertig; die Nase grade und hochmütig – das Erbteil der Strandiger, ihr Wappen –, der Mund sehr schön, aber strenge; die Augen voll Stolz, noch nicht voll Feuer; über der breiten, nicht hohen Stirn lag das dunkle schlichte Haar, eng anliegend, glänzend, das nach dem Hinterkopf aufsteigt, wie Ingeborgs Blondhaar. Wenn man vor Andrees und Ingeborg steht, und man ist nicht gar zu klein, dann sieht man immer den nach dem Hinterkopf zu stark aufsteigenden Scheitel. Man hat Andrees Strandiger nie mit lässigem Haar gesehen; immer hat es diese schlichte glänzende Form, die er zuweilen nach seiner Gewohnheit durch eine sorgfältige Handbewegung glättet, eine Handbewegung, die er noch heute an sich hat, in diesem Winter, da er anfängt, in der Landschaft ein bekannter, viel genannter Mann zu werden. Es spricht aus dieser Bewegung eine gewisse Eitelkeit, aber vor allem eine pedantische Sorgfalt und grüblerische Umständlichkeit im Denken und Empfinden.

Sie trat, von seinem Arm umspannt, dicht an das Fenster; aber ihre Seele nahm noch nicht auf, was ihre Augen sahen; sie dachte nur: »Wie hält er mich so fest!« Und ihr weiches, jedem Eindruck nachgebendes Herz schlug laut vor Freude.

»Siehst du den Wehl? Er hat tiefes Wasser.«

Sie sah über das Wasser weg: »Wem gehören die kleinen Häuser dort?« fragte sie lebhaft.

Die Abendsonne stand in den kleinen niedrigen Fenstern des Eschenwinkels, daß sie in gelbem Feuer lichterloh brannten.

»Es sind Arbeiterwohnungen,« sagte er und wollte sie fortziehn. Aber sie achtete nicht mehr auf seinen Arm: »Kinder spielen dort!« sagte sie, »barfuß!«

»Laß sie!«

Er zog sie nach dem andern Fenster, das nach Osten lag. Da breitete sich die weite Heide im Abendsonnenschein. Vorn stieg sie wohl zwanzig Fuß auf, dann dehnte sie sich gradeaus bis an den Wald, nach Süden bis ans Ende der Erde.

»Siehst du am Rand der Heide, dicht vorm Dorf, das breite Strohdach? Da wohnt Heim Heiderieter!«

»Ach ... wie schön! ... Der ist gut! ... Nicht?«

Er drehte sie in seinem Arm um. Sie hob ihr feines Gesicht zu ihm auf, glücklich und ein wenig verlegen: »Du sagst: Heim ist gut! Warum sagst du nicht, daß er hübsch ist? Ich meine, er hat krauses Haar und kluge, freundliche Augen?«

Sie nickte: »Ja, das hat er!«

»Nun? Sei ehrlich!«

»Ja, was nützt ihm das, wenn er nicht gut ist?«

Sie blickte seitwärts und sah wieder die Kinder: »Sieh,« sagte sie und lachte leise, »die Kinder tanzen im Reigen und singen dazu.«

Da zog er sie unwillig zu dem andern Fenster, in das von Westen her die Sonne schien.

Es war Hochflut, und die Wellen trugen weißen Schaum.

»Was sagst du nun, Maria Landt? Die Wellen tanzen im Reigen und singen dazu!«

Die Augen des Kindes flogen über das weite Wasser, wie der Strandvogel darüber hinfliegt, der zu früh vom Deich aufflog und keine trockene Stelle für seinen Fuß findet. Sie hatte ihre Jugend zwischen den Mauern der großen Stadt verlebt. Nun war der Anblick stärker als sie. Was sie sagte, wurde Gebet: »Wie ist die Erde so groß ... o, das hab' ich nicht gewußt. Ich fürchte mich.«

Er lachte kurz auf – die Strandiger können nicht ordentlich lachen; es klingt kurz und nüchtern –: »Ich dachte, du solltest dich über das Große freuen und das Kleine nicht sehn. Du aber freust dich über die barfüßigen Kinder vom Eschenwinkel und ihre armseligen Häuser, und du siehst das Meer und fürchtest dich.«

Sie sammelte mühsam ihre Gedanken: »Von allem, was ich seh', sind mir am liebsten die Kinder, die unter den Eschen spielen.«

»So! Und dann Heim Heiderieter und sein Haus, und dann? Und wann komm' ich?«

»Ich kann doch nicht so denken wie du, Andrees?!«

»Komm!« sagte er und ging voraus und stieg die Treppe hinab. Er gab ihr nicht wieder die Hand. Im Gang blieb er stehn und sagte: »Hier sind zwei Stufen.«

Sie ging hinter ihm her, einen stillen Ausdruck im Gesicht.

Als sie durch die Hausthür in den Garten traten, jagte Franz Strandiger hinter Ingeborg her über den Rasen. Er hatte sie doch hinter dem Ulmenstamm gefunden. Die Augen der beiden blitzten, und jede ihrer raschen Bewegungen war schön. Heim Heiderieter aber stand, die Hände in den Taschen, seitwärts an der Mauer und sah mit vorgebeugtem Kopf auf das Kind, als hätte er den Auftrag, es im Lauf zu malen.

 


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