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Zweites Kapitel

Schon am anderen Morgen kam die Mutter von Franz und Lena und nahm Andrees sofort in Anspruch.

Diese Frau Strandiger trug, seit sie Witwe war, immer schwarze Kleidung; doch hatte sie auf dem spärlichen grauen Haar ein zierliches, steifes Häubchen, das einige lebhafte Farben zeigte. Sie war schlank und ziemlich groß, hatte ein scharfes Gesicht, mit feinen, forschenden Augen und einer zierlichen, fein gebogenen Nase. In ihrer Haltung war etwas Gerades und Steifes, und in ihren Bewegungen etwas Rasches, Hungriges, und Heim, der in waghalsigen Vergleichen groß war, sagte später zu Ingeborg, sie gleiche einem Holzhäher, der im Spätherbst in Sturmhaube und Achselklappen auf Eicheln und Haselnüsse Jagd machte. Ingeborg, die als Waldläuferin den Holzhäher, und als Hausgenossin die Frau mit der bunten Haube und den stoßweisen Bewegungen kannte, nickte so recht von Herzen, und es schien, als wenn ihr widerspenstig Haar sich mitfreute, so dolchartig spitz standen die kurzen Locken um das schmale, blasse Gesicht mit den lebendigen Augen.

Die Mutter von Lena Strandiger hatte das Schicksal gehabt, das diejenigen Frauen zu haben pflegen, welche ihre Männer an Geist und Willensstärke überragen: Sie hatte in ihrer Heimat im Mund der Leute ihren Jungfernnamen behalten. Man nannte sie früher, als sie die junge Frau des Leutnants Strandiger war: Lena Hobooken, und jetzt, da ihr Haar fast weiß war, die alte Hobooken. Das Volk macht nicht viel Umstände.

Andrees ging mit seiner Tante Arm in Arm durch die beiden Räume, durch die große, stattliche Wohnstube und das kleine, gemütliche, einfenstrige Zimmer, in welchem der Ausziehtisch steht, an dem die Mahlzeiten eingenommen werden, und die alte dunkle Schatulle mit den gewundenen Säulen aus Großvaters Zeit. Jedesmal, wenn die beiden Wandernden in das Gesichtsfeld des Eckspiegels kamen, warfen sie einen raschen Blick hinein, die alte Frau, um zu sehen, wie sie sich neben dem schmucken Jungen ausnehme, Andrees, um Lena zu sehen, die hinter ihnen im Sofa kauerte. Wenn sie aber das zweite Zimmer betraten, sah Andrees nach der Thür, durch welche Maria eintreten würde, und das Herz schlug lauter. Er hatte sie noch nicht gesehen.

»Nichts von der Vergangenheit!« sagte die alte Frau. »Du hast Geld gebraucht, du hast dein Leben genossen. Sprechen wir über die Zukunft! Wie willst du dich einrichten?«

»Ich fürchte, ich muß hier bleiben, den Pflug anfassen.«

»Ich meine, daß du nicht richtig überlegst. Du kannst das Leben, das du bisher geführt, und das du, wie ich weiß, gern weiterführen möchtest, ruhig fortleben, wenn du in zwei Dingen meinen Rat befolgst. Erstens: Du mußt in der Bewirtschaftung des Guts sparen. Es läßt sich da viel thun.«

»Zum Beispiel?«

»Fremde Arbeiter! Du brichst den ganzen Eschenwinkel ab und baust eine Kaserne.«

»Sie haben zum Teil schon bei meinem Vater in Lohn und Brot gestanden.«

»Dein Vater, Andrees – nimm's nicht übel – war allzusehr Gemütsmensch. Da kam der Geldbeutel zu kurz. Er war ja wohl Christ? Nun ... ich wollte sagen – Christen sind wir ja auch – aber ich meine: Er wollte wirklich danach leben. Er wollte nicht allein für sich ein Christ sein, in seinem Hause, mit ehrbarem Leben, Tischgebet und dergleichen, wogegen ja nichts zu sagen ist, sondern er wollte auch christlich die Arbeiter behandeln, christlich einkaufen und verkaufen, kurz, christlich wirtschaften.«

Andrees sah still vor sich hin, dann gab er einem Gedanken Ausdruck, der mit leisem, wehmütigem Flügelschlag durch seine Seeele flog: »Ich wollte, mein Vater hätte länger gelebt. Es wäre vielleicht manches anders geworden.«

Seit er in der Heimat war, seit gestern, hatte er so merkwürdige Anwandlungen; so alte vergessene Gedanken kamen wieder.

Sie sah hastig zu ihm auf, ihre Hand nestelte unruhig an der goldenen Uhrkette, die von den Schultern herabhing: »Ich wollte dir noch einen zweiten Rat geben,« sagte sie. »Verpachte den Strandigerhof! Du bist kein Landmann. Mach' Franz zu deinem Pächter und zieh' mit mir und Lena nach Berlin zurück!«

Das klang schön: »Mit Lena!«

»Ich kann mich nicht entschließen, so lange Mutter lebt.«

»Willst du hier dein Leben verbringen? Du mit deiner glänzenden Erscheinung, deiner starken Jugend, deinen Kenntnissen und deinem Vermögen? Wozu hast du das alles?«

Wieder so ein alter Gedanke: »Vater würde sagen, um Land und Leuten damit zu dienen.«

»Ich will mir's überlegen, Tante. Es hängt viel von Lena ab. Ich hoffe noch, daß es ihr hier gefällt, und sie sich entschließt, einstweilen hier zu bleiben.«

Während er dies sagte, waren sie über die Schwelle des Eßzimmers gegangen. Da stand Maria Landt am Tisch und hatte die Hand schwer auf die Platte gestützt. Sie sahen sich zum erstenmal, nachdem sie vor fünf Jahren nebeneinander auf dem Wodanshügel standen.

»Maria!« sagte er. Und er konnte nichts mehr sagen, so erschütterten ihn ihr Blick und ihre Haltung. Sie war mit einem Male, so wie sie ihn ansah, so klar und ernst und warm, die Maria Landt, die er vor fünf Jahren verlassen hatte, die ihn so an sich zog und wieder von sich stieß.

Er ließ ihre Hand nicht los, und er, der Ruhige, der sich vorgenommen hatte, er wollte der langjährigen Hausgenossin und Pflegerin seiner Mutter alle Freundlichkeit und Ehrerbietung erweisen, die er schuldig war, er, der in der Fremde, in einem nüchternen, kalten Hause, in glatter Geselligkeit gelernt hatte, kühl zu denken und mit ruhiger Überlegung zu handeln, er ließ die alte Frau stehen und faßte auch noch die andere Hand Marias und sagte rasch und mit Beben in der Stimme: »Komm, Maria, ich muß mit dir reden, komm mit!« Und er führte sie aus der Thür über den Flur in sein Zimmer.

Und als sie allein neben dem Schreibtisch standen, da waren die fünf Jahre der Trennung wie von dem Hauch ihres Mundes verweht, wie von dem Blick ihrer Augen in Nacht und Vergessenheit gesunken. Sie kamen wieder da zusammen, wo sie einst auseinander gegangen, sie waren sich wieder so fern und ach, so nah wie damals, als sie die Wagenspur über die Heide verfolgten.

»Andrees! Verpachte den Hof nicht! Denke an deinen Vater, an die Mutter und an die Leute im Eschenwinkel! Höre nicht auf die anderen!«

»Du bist eifersüchtig!«

»Nein, Andrees! Das traust du mir nicht zu! Du weißt, wo du dein Glück findest, das soll mich freuen. Das müßte eine traurige Liebe sein.«

Er schüttelte verwirrt den Kopf: »Du hast mich lieb behalten, all' die Jahre, mit solcher ... solcher Liebe?«

»Ich wollte so gern, daß du in der Heimat bliebest, daß du so würdest wie dein Vater. Darum habe ich dich so heiß gebeten, du möchtest doch endlich einmal in die Heimat und zu deiner fast blinden Mutter kommen.«

»Laß das! Ich soll bei dir bleiben, das willst du. Du bist wie die anderen!«

Sie wurde einen Schein blasser, und ihre Hand löste sich von seinem Arm: »Du magst glücklich werden, Andrees, dann will ich froh sein. Aber auf dem Weg, auf dem du seit Jahren gehst, liegt dein Unglück. Die Heimat muß in den Wochen, die nun kommen, über das Fremde siegen, sonst bist du zeitlebens ein ruheloser Mensch. Du verwehst da draußen, wie Heim auch verwehte. Ich kenne dich ja, Andrees.«

»Rede nicht davon!«

Da breitete sie die Hände aus und sagte flehend: »Du weißt, Andrees, es ist mein Los, dich lieb zu haben und zugleich zu wissen, daß wir so ganz verschiedene Menschen sind. Das ist mein trauriges Verhängnis, daß meine ganze Seele an dir hängen muß und wir uns nicht verstehen: es hat jeder von uns seinen Glauben, seine Liebe, seine Hoffnung, und ich finde keine Stelle, wo wir uns berühren ... Ja, wenn du schweigst! Ach, wenn du schweigst! Aber wenn du deinen Mund aufthust, oder wenn du schreibst, dann spricht jeder in seiner Sprache, von seiner Welt: ich von der Heimat, du von der Fremde, ich von Gott, du von Geld, ich vom Eschenwinkel, du vom Glanz der großen Stadt. Ich weiß es ja aus deinen Briefen.«

Er sah traurig vor sich hin, den Kopf gebeugt unter dem Druck der Wahrheit, die sie so sicher und weich und traurig aussprach. Und plötzlich legte er beide Arme um ihre Schultern und sagte ihr liebe, freundliche Worte, während sie ihren dunklen Kopf zurückbog und aus ängstlichen Augen in sein erregtes Gesicht sah.

Sie sahen und hörten nicht, daß Franz Strandigers Gesicht in der schmalen Thüröffnung erschien und wieder verschwand.

Mit zusammengebissenen Lippen ging er nach dem Wohnzimmer zurück und stellte sich schweigend ans Fenster. »So ist es?« dachte er. »So steht es? Das ist schlimm! Und Lena muß siegen. Ich habe es satt, anderer Leute Knecht zu sein. Hier ist der Ort für mich. Hier ist Land und Geld. Ich muß mit Lena sprechen, gleich! Sie muß ihn zu sich ziehen, mit einem raschen Ruck. Und wenn sie ihn hat – der Plan ist fein, und ich will's schon vollenden; denn ich bin rascher und entschlossener, als sie alle – wenn Lena mit ihm über alle Berge ist und ich hier Pächter ... und will nicht Verwalter und Pächter bleiben zeitlebens, will Herr sein, dann nehme ich den ganzen Eschenwinkel und Antje Witt und diesen Reimer und alles, was sonst noch da ist, und mache daraus eine feine Schnur und schlage sie Maria Landt um den schönen Leib und zieh' sie damit zu mir: dann wird die Pacht vom Strandigerhof nie gekündigt, ja ... dann wird der Pächter mit dem Geld seiner Frau eines Tages den Strandigerhof kaufen ...«

Seine Schwester trat zu ihm, sah in sein Gesicht und sagte: »Ich hatte die Absicht, zu sagen, daß es hier langweilig wäre, aber nun ich deine Augen sehe ... Was ist geschehen?«

Er faßte sie gleich mit beiden Händen und sagte leise lachend: »Freilich, Lena Strandiger! Es ist etwas geschehen! Ich habe gesehen, daß Andrees Strandiger sich von unseren schönen Plänen abwandte und in andere Arme geriet.«

»Andrees?«

»Ei ... du hast Feuer, Schwester!«

»Maria Landt?«

»Ich dachte, du hättest helle Augen! Aber gehe in seine Stube! Da stehen sie vielleicht noch, und ich weiß nicht, was noch geschehen ist. Du weißt, er macht sich fein im Frack, der Andrees, er hat einen Wuchs wie eine Tanne, na, du schwärmst nicht für Bäume ... wie ein Ulan. Du wirst Brautjungfer sein, und die Eschenwinkler werden deine Erscheinung und deine Kleidung bewundern.«

»Sei still!« sagte sie, und ihre tiefe, satte Stimme war klanglos, und ihre dunklen Augen stachen.

»Warum? – Es ist geschehen! Oder willst du um ihn kämpfen? Aber ich sage dir, er hatte sie fest umfaßt, soll ich's dir zeigen? So! Und es wird nicht leicht sein, ihn wegzureißen. Du hast den Anschluß verpaßt, Lena. So ist schon manche eine alte Jungfer geworden.«

Nach dem Abendbrot erschien Heim, von Ingeborg begleitet, in der Wohnstube und wurde vorgestellt. Er wollte die alten Freunde begrüßen und Maria abholen, die am späten Abend noch einmal zu Frau Witt hinüber gehen wollte.

Ingeborg hatte ihm auf dem Flur zugeraunt, liebenswürdig zu sein; aber da der Teppich, ein ungewohntes Ding, ihm Sorge machte und alle seine Gedanken in Anspruch nahm, so vergaß er, die alte Hobooken vorsichtig anzufassen und drückte ihr so stark die Hand, daß sie ihr Gesicht verzog. Dann setzte man sich, da Heim noch eine halbe Stunde Zeit hatte, und man sprach hin und her, über Stadt und Land, Stadtmenschen und Landmenschen. Nachdem die alte Frau sich etwas erholt hatte, beteiligte sie sich lebhaft an dem Streit. Franz und Lena verließen das Zimmer.

Heim und Ingeborg saßen dicht nebeneinander, und so, in dieser sicheren Doppelstellung, verteidigten sie Land und Leute. Die Stimme der Alten klang hoch und hart: »In den Städten ist die Intelligenz!«

»Und vom Lande stammt sie,« sagte Heim. »Wir versorgen die Städte nicht allein mit Kohlköpfen und Steckrüben, sondern auch mit Fleisch und Geist.«

»Hast recht. Heim!« sagte Ingeborg.

»Natürlich!« sagte Heim, der warm wurde und so recht gemütlich und breit dasaß: »Und was die Stadt nicht brauchen kann, den Abfall, den schickt sie wieder zu uns aufs Land.«

»Na,« sagte die Alte und richtete sich auf und sah mit großen Augen auf den Sprecher.

Ingeborg lachte: »Die Anwesenden sind ausgenommen.«

»Wenn ein Mensch keinen Boden mehr unter den Füßen hat,« sagte Heim, »dann ist er verloren. Das haben Andrees und ich oft beim Ringen probiert. In die Luft! Pardauz! liegt er. Daher haben die Bewohner der großen Städte so etwas Unruhiges, Haltloses, Rassiges an sich.«

»Ausgenommen die Anwesenden!« sagte Ingeborg, und ihre Haarsträhne und ihre Augen schossen Dolche.

»Wir haben hier Land in Hülle und Fülle!« sagte Heim. »Gehen Sie mal über die Heide! Und wenn man uns da ärgert, laufen wir ins Watt. Im Schlick steht es sich großartig fest. Das Land, das macht die Bäume und die Menschen stark!«

So redete Heim und hatte seine langen Beine von sich gestreckt und hatte vergessen, wo er sich befand, und sah nicht, daß Lena Strandiger in der Thüröffnung stand und ihn mit großen Augen ansah. Da machte Ingeborg ihn aufmerksam. Und von da an war Heim still und verschlossen. Die Augen Lena Strandigers kamen aus einer Welt, die Heim nie kennen gelernt hatte, und schlossen ihm Herz und Lippen.

Als Maria, fertig zum Gang nach dem Eschenwinkel, in die Stube trat, stand er aufatmend auf und ging mit ihr durch den Flur. In dem Hausflur entdeckte er, daß er seinen Stock im Gang hatte stehen lassen. Er kehrte wieder um und sah zufällig durch die Glasthür. Da war Anna Witt auf einen Stuhl gestiegen und drehte die Lampe aus, und Franz Strandiger stand bei ihr und half ihr.

Da ging er ohne seinen Stock hinter Maria her.

Als sie den Wehl erreicht hatten, kam Hinnerk Elfen ihnen entgegen. Die Funken aus seiner Pfeife flogen quer über den dunklen Weg. Er kam mit seinem gewohnten, selbstbewußten Schritt daher. Da blieb Heim ein wenig zurück.

»Du, Hinnerk!« sagte er. »Weißt du, was die Klock geschlagen hat?«

»In fünf Minuten neun!« sagte Hinnerk.

»Nein, mein Jung! Ich mein' das anders. Paß du man gut auf Anna Witt!«

»Immer!« sagte Hinnerk Elsen und gab sich einen Ruck nach oben.

»Na,« sagte Heim, »dann hat's keine Not! Ich meinte, da schliche ein Marder um eine Taube.«

Hinnerk Elsen kam nicht aus der Ruhe: »Ich sage ihr immer, daß sie ordentlich sein muß. Mit Ordentlichkeit kommt man am weitesten.«

»Im allgemeinen hast du recht, Hinnerk! Aber ob du bei Anna Witt weit damit kommst?«

»Sie ist eine gute Deern!«

Heim tippte ihm auf die Schulter und zog die Augenbrauen hoch: »Das weiß ich, mein Jung, denn sie ist meines Nachbarn Kind. Aber, weißt du, wenn ich auf ein Mädchen passen sollte, mit solch lustigen Augen wie Anna Witt: ich glaube, das genügt nicht, daß du ihr sagst, sie soll ordentlich sein, sondern du mußt ihr dabei helfen, du mußt es ihr erleichtern, ordentlich zu sein ... Wo warst du denn so spät?«

»Bei Reimer Witt. Wir haben uns ein bißchen unterhalten.«

»Wer hat heute mittag für die Kinder gekocht?«

»Heut' mittag ist da nicht recht was gewesen; aber so gegen fünf Uhr brachte Frau Haller einen mächtigen Mehlbeutel, den haben sie halb aufgegessen und sind dann bald zu Bett gegangen. Reimer und Antje halten die Wache.«

Die beiden gingen durch die dunkle Nacht weiter. Ein weicher, schwermütiger Westwind kam vom Deich her über den Wehl und zog gegen das niedrige Haus mit dem tiefherabhängenden Strohdach; das war von Moos ganz grün; jetzt in der Nacht war es schwarz.

Rechts und links von der Hausthür war je eine Stube. In der zur Linken lag die Kranke, in der zur Rechten schliefen die Kinder.

Im Krankenzimmer ging eine große Frauengestalt langsam auf und ab. Sie bog den Kopf im Takt hin und her zur Seite und sang dazu. Reimer Witt saß mit krummem Rücken am Bett, aus dem jetzt ein quälender Husten ans Fenster schlug. Dazwischen sang Antje mit banger, anstoßender Stimme:

Wenn die Nacht vom dunklen Himmel
Leis und schwer herniedersteiget,
Wenn der Nachtwind seine Flügel
Über unsre Hütten neiget,

Wenn die vielen tausend Kinder
In des Schlafes Arme sinken,
Und die Halme rings im Felde
Tau der Nacht im Frieden trinken:

Dann erheben um mein Bette
Rings ihr Haupt die bleichen Sorgen
Und bereden meine Sachen
Bis zum trüben, grauen Morgen.

Und sie sagen, und sie wissen,
Daß die Sachen sind verloren,
Und daß leine Rettung möglich
Für den Armen, für den Thoren.

Aber morgens, wenn der erste
Strahl des Lichts am Walde schwebet,
Wenn die Sonne ihre ersten
Lichten Strahlenfäden webet,

Wenn die vielen tausend Kinder
Aus dem Aug' den Schlaf sich reiben
Und des jungen Tags Geschäfte
Mich zu neuer Arbeit treiben:

Dann erhebt sich meine Seele,
Und es sinken alle Sorgen,
Und mit stillgefaßtem Herzen
Geh' entgegen ich dem Morgen.

So wanderte sie hin und her mit gesenktem Kopf.

Dann ward es still. Die Kranke war eingeschlafen. Reimer Witts Rücken beugte sich noch mehr. Er hatte die Hände zwischen den Knieen gefaltet und saß und sah mit stillen Augen auf die Kranke. Antje war in den Stuhl am Fenster niedergesunken, hatte die Arme auf den Tisch gelegt und den Kopf auf die Arme. Auf ihr Haar fiel der trübe Schein der Lampe. Das dunkle Haar hatte schon viele graue Fäden.

»Ich will nicht hineingehen,« sagte Maria und trat auf den Weg zurück. »Bei den Kindern ist Licht; ich will sehen, ob sie schlafen.«

Mit leisen Schritten traten die beiden an das niedrige Fenster.

Da stand mitten auf dem Tische die alte Küchenlampe und daneben der halbverzehrte Mehlbeutel auf einem großen, weißen Teller. Er war noch so groß, daß er nicht umgefallen war.

»Der hat eine stattliche Größe gehabt!« flüsterte Heim anerkennend.

»Wenigstens vier Pfund Mehl.«

»Still!«

In der eingemauerten Bettstelle rührte sich ein Schläfer. Ein Flachskopf hob sich und blinzelte nach dem Licht. Ein feines, gerades Beinchen legte sich leicht über den Bettrand. Es gehörte der zehnjährigen Nora. Langsam, schlaftrunken, mit halbgeschlossenen Augen erhob sich das Kind, stand schwankend vor dem Bett, stolperte vorwärts, wandte sich wieder zurück und faßte die Hand ihrer Schwester, die bei ihr lag und kehrte sich wieder um und stolperte blinzelnd auf den Tisch zu und öffnete in gewohnter Weise die Schublade, und hatte eine Gabel in der Hand, und weil kein Stuhl im ganzen Zimmer war, lehnte sie sich schwer gegen den Tisch und fing an zu essen. Und die andere, die große Bertha, kam und lehnte neben ihr.

Da knackte der Tisch. Und das hörte ja wohl der zwölfjährige Karsten, der, nicht aus Zufall, von einem großen Mehlbeutel träumte. Er richtete sich auf und sah aus den Augenschlitzen den Schatten, den der Halbmond des Mehlbeutels machte, und sah die Bewegung der Arme und die stoßweise Arbeit der Gabeln, und da seine Seele sich grade mit dem Gegenstand beschäftigte und also nur einen kurzen Weg zu machen hatte, sprang er torkelnd auf.

Das war so mit den Wittschen Kindern.

Als das erste Kind gekommen war, hatten sich die jungen Eltern, damals noch lebensfrohe Leute, um den Namen des Kindes gestritten. Da war die alte Thomälen gekommen, die damals im letzten Haus wohnte – nun ist sie tot –, die nichts anderes zu thun hatte, da sie nicht mehr arbeiten konnte, als sich vor Übertretung des achten Gebots zu hüten, und hatte gesagt: »Ihr bekommt viele Kinder! Ich kenne eure Rasse. Deine Mutter, Rieke, hatte acht, und deine, Reimer, hatte so viele, daß sie zuletzt nicht mehr wußte, wieviel sie gehabt hatte, denn sie wurde etwas schwach von Gedächtnis. Es waren dreizehn oder fünfzehn. Und sie hat mir oft erzählt, es wäre jedesmal ein Krach im Hause gewesen. Wegen der Namen, Reimer! Denn deine Mutter war für schöne Namen, dein Vater war für kurze Namen. Wißt ihr, was ihr thun müßt? Ihr müßt nach dem ABC gehen! Nennt die Deern Anna!«

So geschah es, und das ist die Anna, für die Hinnerk Elsen so brav sorgt, daß sie ordentlich bleibt. Das zweite Kind, das nach einem Jahre kam, wurde Bertha genannt. Das dritte Kind war ein Junge. Er bekam den Namen Carsten. Aber Pastor Frisius, der von der lex Thomälen keine Kenntnis hatte, schrieb den Jungen mit einem harten K ins Taufbuch. Damit war die ganze schöne Anlage verwüstet, und die alte Thomälen hatte wieder mal Velanlassung, zu behaupten, der Pastor wäre zuweilen etwas tapprig. Und so stolperte sie wieder über das achte Gebot.

Sie blieben aber doch bei der Reihe und vermieden so den Streit, und der kleine Hans, der achte, war eben angekommen, und das niedrige Haus war voll besetzt, und waren alle kräftige und muntere Kinder mit mächtiger Eßlust, da wurde die Mutter krank. Die Kinder hatten alles mitbekommen, was gesund an ihr war. Was sie behielt, sank unter der Schwindsucht zusammen.

Von dem Krankenzimmer her kam wieder mühseliges Husten. Drinnen aber in der Stube der Kinder erschien ein Beinchen, ein Ärmchen nach dem andern. Der kleine Fritz, der mit den beiden Jüngsten an der Erde lag, wurde durch derbes Schütteln geweckt. Er erbarmte sich der beiden Kleinen und stellte sie im Bett auf die Füße, und auch sie, stillschweigend wie alle andern, stolperten nach dem Tisch. Jeder hatte eine Gabel aus der Schublade genommen und arbeitete. Den kleinen Hans hatte Bertha auf den Tisch gesetzt. Er hatte die Augen vollständig geschlossen und atmete tief und schwer; aber jedesmal, wenn ihm einer die volle Gabel in die Nähe des Mundes hielt, sperrte er ihn auf und hapste zu. Dabei schoß er jedesmal nach vorn; dann richteten sie ihn mit den linken Händen wieder auf, mit den rechten führten sie die Gabel.

Es war ein kurzer Kampf. Der Unterliegende war der Mehlbeutel. Fritz, von allen Wittschen Kindern der lebhafteste, hob die schwere Schüssel; der ganze Mann verschwand dahinter; auf und nieder glitt das Steingut. Dann setzte er es behutsam vor sich hin. Und nun war der Teller rein. Spiegelblank war er. Bertha legte Gustav und Hans wieder aufs Bett. Wie sie unter die Decke kamen, war ihre eigene Angelegenheit. Dann wurde es ruhig. Die Lampe flammte heller auf und beleuchtete die stille Stube.

Heim Heiderieter trat aufatmend vom Fenster zurück: »Du,« sagte er, »ich wollte, die alte Hobooken wäre hier gewesen und hätte dies gesehen. Ich hätte sie kräftig angefaßt und gegen die Scheibe gedrückt, erst an jene Scheibe im Krankenzimmer, dann an diese. Und wenn ihr vertrocknetes Herz bei dem Anblick nicht weich geworden wäre, hätte ich sie einmal ordentlich gegen die Mauer gegniewelt.«

Maria Landt schüttelte in ihrer stillen Weise den Kopf: »Du bist zu stürmisch. Solche Leute sind nicht zu bekehren; das muß von oben herkommen. Wenn alte verschüttete Goldbergwerke in einem Volke wieder aufgebeckt werden oder wenn neue, starke Gedanken ins Volk geworfen werden, das kommt alles von Gott. Und kommt es, dann kommt es stärker und stärker, wie Frühlingswind, und man kann es nicht aufhalten. Die Alten binden Tücher um ihre Ohren und sagen, sie mögen es nicht hören, die Kinder kriechen in den Winkel und sagen, sie fürchten sich; aber der Wind braust weiter. Wir aber, die wir das Feuer in uns haben, müssen schon jetzt blanke Augen haben, freundlich sein, helfen, jeder wie er kann. Und, Heim!« sie faßte seinen Arm. »Wenn einer es kann und hat von Gott die Gabe, so muß er dem Volk erzählen von dem starken, frischen Wind, der nah ist, dessen Sausen wir schon hören, von Gottes großer, stiller Arbeit, die ringsum anhebt. Er muß seine Seele mit Glauben füllen und seine Feder in Hoffnung tauchen und muß ihnen von der neuen Liebe Gottes erzählen, die durchs Land geht. Er muß aus dem Volke fürs Volk reden, von ihrer Not und Last, von ihrem Streben und Irren, ihrem Mut und ihrem Weinen. Davon muß er erzählen, und seine Augen müssen glänzen von Liebe und Freude. Wie aufgerichtete Feuerzeichen muß dastehen, was er schreibt, daß die Leute es weit sehen und sich vielleicht danach richten und eher den Weg finden, der hineinführt in eine neue Zeit.«

So sagte sie, und ihre Stimme war rein und weich und leise und doch voll, wie eine Kirchenglocke, an die man leicht mit dem Finger stößt. Heim trat einen Schritt zurück und sah sie an und wunderte sich, daß er nichts von Liebe zu diesem reinen Wesen fühlte, nur ehrerbietige, heiße Zuneigung. Erst später, als sie schon im Erbbegräbnis der Strandiger lag, hat er erkannt, welche Bedeutung sie für ihn gehabt, und daß sie ihm in dieser Nachtstunde, vor Reimer Witts Haus, die Aufgabe seines Lebens gezeigt hat, klarer und eindrucksvoller, als irgend ein Mensch oder ein Buch es gekonnt.

Maria ging nach dem Hof zurück; Heim aber saß noch eine Stunde mit stillem, blassem Gesicht am Schreibtisch.


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