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Fünftes Kapitel

 

Es war Dezember und Weihnachten nahe. Wie schwer beladene Handelsleute zogen die grauweißen Wolken herüber und versorgten alles Land mit dem herkömmlichen weißen Festkleid. Ein Wolkenwagen nach dem andern zog dahin, übervoll beladen. Und wie sie dahin fuhren, verschütteten sie einen Teil ihrer Ladung, daß Marsch und Heide ganz weiß wurden. Sie kamen von Westen her, und schon auf das wogende Meer fielen die weißen Sternchen. Was soll das kalte, unruhige Meer mit Frau Holles weißem, weichem Daunenbett? Es wird nie einschlafen.

Die Menschen sehen die Schneewagen gerne kommen. Die Kinder freuen sich, daß sie Schneemänner machen können; die Großen sagen, Weihnacht ohne Schnee sei kein rechtes Fest. Der alte Pellwormer, der Nachtwächter, der belesene, denkschwere Mann, versteigt sich zu der Behauptung, daß weiße Weihnacht mit zu den Dingen gehören, welche uns Menschen seit Noah versprochen sind.

Als Heim Heiderieter aufwachte – es war so gegen halb acht Uhr –, sah er gleich an dem hellen Tagesschein, der in das niedrige, breite Fenster fiel, was draußen in der Nacht geschehen war. Er öffnete das Fenster und sah über die weite, schneeweiße Heide und sah in die Marsch hinunter und zeigte den oben stehenden Wolken seine Anerkennung, indem er lebhaft mit dem Kopf nickte. Dann kleidete er sich vollends an und ging stracks in den Saal und setzte sich an den Schreibtisch und arbeitete zwei Stunden.

Er hatte gestern bis zwölf Uhr im Wirtshaus gesessen, hatte eine Zeche von drei Mark gemacht, hatte ein schlechtes Gewissen und fürchtete Telsche Spielers Angesicht.

Von der Wirtschaft in Küche und Stall hörte er nichts; von Telsche Spieler sah er nichts.

Er saß, las und grübelte. Er suchte nach einem Stoff, nach einer schönen Geschichte. Er baute Burgen in die Wolken hinein und ließ sie wieder in die Wellen fallen. Er arbeitete in den Geschicken armer Menschen, die, wie er wollte, lebten und sich drehten und starben. Er arbeitete mit Menschen wie ein zweijährig Kind mit dem Baukasten.

Er wußte nicht, was um ihn geschah. Der Hase, der draußen geduckt im Kohl saß, hätte ins Fenster sehen können. Heim hätte es nicht bemerkt.

Um zehn Uhr kam Telsche Spieler, in frischen Stalldunst gehüllt, ein warmes Tuch um Kopf und Schultern. Sie sah ordentlich frisch aus, und ihre Augen waren blank.

»Du ... Heim!«

Er hörte nichts.

»Heim! Wach auf! Und klettere mal zu mir herunter!«

Heim hob den Kopf und blinzelte seitwärts zu ihr hin: »Was ist los? Willst du eine Wärmflasche für die Hasen, die in meinem Kohl sitzen? Oder hat Ingeborg dich ganz unklug gemacht?«

»Du brauchst dich über andere Leute nicht lustig zu machen; sie könnten dir's heimzahlen ... Ich war bei Witts.«

»Nun, Telsche?«

»Es geht da nicht länger so. Es ist unchristlich, das anzusehen. Was über die Landts gekommen ist, weiß ich nicht. Die kümmern sich auch wenig um die armen Würmer.«

»Was ist los? Red' doch, Menschenkind!«

»Die Kleinen sitzen in den Betten und wollen den ganzen Tag darin bleiben, und sie haben recht; denn die Stube ist kalt und der Herd auch. Bertha und Karsten sind in der Schule. Fritz hockt am kalten Ofen.«

»Wo ist Reimer denn?«

»Der ist seit gestern mit Klaussens Ochsen zum Markt nach Husum. Er hat mir seine Not geklagt.«

»Und das Frauenzimmer, die Antje?«

»Sie haben gestern einen Brief vom Apotheker bekommen. Er redet von Pfänden. Nun ist sie hin.«

»Der Kerl! Ich wollt', ich hätt' ihn hier in seiner größten Retorte. Weiß nicht, wie warm er sitzt und wie kalt die Kinder.«

»Ja, nun schimpf'! Der hat wohl bald Zinstag! Nun hilf, Heim!«

»Na . .. können die ... drüben?« Er zeigte mit dem Daumen nach der Richtung, wo etwa die Schule lag.

Telsche Spieler fuhr auf: »Haben die etwa nicht genug gethan in dem ganzen Jahr, als Rieke krank war? Haben sie nicht selbst ihre liebe Not? Heute nachmittag kommen die beiden hungrigen Jungs in die Ferien. Da sind die Alten natürlich aus Rand und Band. Hörst du? Die Kinder singen Weihnachtslieder. Heute mittag hört die Schule auf.«

Sie lauschten beide. Von fern klang es durch die Wände und von draußen durch die Fenster herein. Die bekannte Melodie umschmeichelte sie. Sie schwiegen eine Weile. Heim sah mit finsteren Augen auf die breiten Dielen mit den blanken Nägelköpfen, die auf den vertretenen Brettern auf runden Erhöhungen standen.

»Daß man doch nie fröhlich sein kann!« sagte er und schlug auf den Tisch. »Nicht mal zu Weihnachten! Sie thun immer, als ob zu Weihnachten alle Menschen glücklich wären, schreiben und lügen drauf los, und jeder wickelt sich bis über die Ohren in seine warme Decke. Alle Menschen glücklich! Verdammte elende Lüge!«

»Ja! Wer soll nun helfen?«

»Na ... erstmal wir!«

»Ja, hast du Geld, Heim? Ich habe noch fünf Thaler für den Hausstand, damit soll ich auskommen, bis wir den Anderthalbjährigen verkaufen.«

»Ach was, das dumme Geld!«

»Ja, das Geld! Du solltest ordentlich wirtschaften, den Kram mal mit beiden Händen anfassen und vor allen Dingen nicht Geld aus dem Fenster werfen, auf daß du habest zu geben den Dürftigen!«

»Donner!« Er sprang auf und griff nach dem Tintenfaß.

»Ich will dir man sagen, Heim: die Geschichte geht nicht länger!« – sie war wahrhaftig hochrot im Gesicht. – »Du mußt dir eine Frau nehmen! Wenn ich bei dir bleibe, wird nichts aus dir. Du hast keinen Respekt vor mir und hast keinen Trieb, deine Arbeit zu thun. Du denkst immer: ›Ach, Telsche Spieler sorgt für alles. Da kann ich auf der Bärenhaut liegen und ins Wirtshaus gehen.‹«

Nun war er ganz geschlagen. Er kehrte sich nach dem Fenster um, und ein Gefühl trostloser Verlassenheit kam über ihn.

Da wurde sie auch ruhiger, sanfter: »Ich denke wirklich fortzugehen, Heim. Es ist zu deinem eigenen Besten. Aber nun sage, was machen mir mit den Witts?«

»Geh' hinüber! Mach' Feuer im Ofen!« sagte er grollend.

»Und wer soll Essen kochen, die Stube rein machen, die Wäsche besorgen? Antje kann das nicht. Du weißt, die ist heute zu Haus und morgen im Watt, heute geschickt und morgen töfflich.«

»Wozu sind denn die Weiber da?« sagte er ärgerlich. »Steckt die Köpfe zusammen und sorgt für Rat!«

Eine halbe Stunde später, als sie den Lärm der Schulkinder hörte, die mit lautem Rufen und Lachen den Spielplatz und den Weg füllten, ging sie nach der Thür, öffnete die obere Hälfte, und als sie Bertha Witt sah, winkte sie ihr. Das lang aufgeschossene Ding kam angelaufen, daß die Pantoffeln den losen Schnee aufwarfen und die dünnen Kleider um die hagern Glieder flogen. Sie hatte ihr gewohntes graues Kleid an, das aus einem Rock von Frau Strandiger gemacht war, und zum Zeichen der Trauer ein dünnes, schwarz gefärbtes Tuch um den langen Hals. Dieser Hals war von dem Tuch nun auch blauschwarz geworden.

»Was soll ich?« sagte sie, und ihre lebhaften grauen Augen funkelten.

»Komm 'rein, Deern, und halt' den Mund!«

Gleich danach saß sie am warmen Herd und löffelte an einem Teller heißer Erbsensuppe.

Telsche Spieler ging wieder an die Arbeit in den Stall und molk die kleine Schwarzweiße, die vor drei Tagen gekalbt hatte, und sah und hörte nichts.

Heim saß und schrieb.

Da öffnete sich vorsichtig die Außenthür, und Karsten Witt schlich sich, die Pantoffeln in der Hand, über die Diele nach der Küche. Er warf nur einen einzigen Blick hinein, einen langen, vorwurfsvollen Blick; dann stand er einen Augenblick still; dann dachte er an das, was sie eben in der Schule besprochen hatten, wie es im fünften Gebot heißt: helfen und fördern in allen Leibesnöten. Er stob wieder über die Diele zurück, warf die Pantoffeln auf die Erde, trat hinein und sprang den Weg hinunter und riß die Thür auf: »Telsche Spieker hat Erbsensuppe; Bertha ist schon dabei.«

Gleich darauf, ohne irgend welche Ordnung, aber doch so, daß keiner zurückblieb, stürzten, stolperten sie den Weg hinauf, zogen wie auf Befehl, obgleich niemand etwas gesagt hatte, an der Thür die Pantoffeln aus – Hans war auf Strümpfen gekommen –, und nun standen sie um den Herd, und sahen auf den großen schwarzen Topf, in dem es so recht gemütlich, warmherzig brodelte, und warteten.

Und da kam Heim Heiderieter, der glaubte, die Kälber wären über die Diele gelaufen.

»Heim!«

Er übersah sofort die Lage der Dinge. Seine Augen füllten sich mit Lust und Freude. Da stand die braune irdene Schüssel, in welcher Telsche Spieker den Mehlteig anzurühren pflegte. Dahinein goß er die heiße Suppe. Nun noch sieben hölzerne Löffel.

»Ihr müßt pusten!«

Heim saß auf der Wasserbank, die Schüssel auf dem Holzstuhl vor sich und versorgte die beiden Kleinsten. Es war eine kurze, heiße, stille Arbeit.

Telsche Spieker, die über die Diele zurückkam, hörte leises, verlornes Geräusch. Dann, als sie näher kam, war es, als wenn die Küche den Atem anhielt. Heim starrte in die leere Schüssel und biß sich auf die Lippen. Da kam Telsche Spieler.

Aber Fritz nahm der Lage jedes Peinliche. Er hatte durchaus keine Angst vor Telsche. Er sagte: »Du, kuck mal zu, ob da noch was im Pott ist.«

»So!« sagte Telsche mit Fingerzeig und Nachdruck: »Jetzt kannst du sehen, woher du Mittagessen kriegst. Ich koch' dir nichts. Seid ihr satt?«

»Nein!« sagte Fritz.

»Dann kriegt ihr jeder noch ein Stück Brot. Da geht wieder ein halbes dabei weg. Bertha, geh' hinüber, mach' Feuer! Feg die Stube aus! Ich komme heut' abend und sehe nach euch ...«

Telsche Spieler hatte ein Stück Brot gegessen und war dabei, die Küche zu reinigen. Dabei schalt sie auf die Kinder, welche so viel Schnee hereingebracht hatten. Heim Heiderieter ging zwischen Stall und Saal hin und her, wollte seinen Hunger nicht zeigen, sah mehreremal in die Küche hinein, verschwand aber wieder, wenn er das Gebrumme hörte.

Als er wieder vor seinem Schreibtisch stand kam Anna Halter, des Nachbarn fünfzehnjähriges einziges Töchterlein, herüber gelaufen. Er kannte ihren Schritt sofort, obgleich sie Pantoffeln trug. Das ärgerte ihn: »Was hat die dumme Deern denn Pantoffeln an?«

An der Küchenthür hörte er ihre freundliche Kinderstimme: »Wir haben gewaschen, eben bin ich fertig. Habt ihr schon gegessen?«

»Ja.«

»So!« murrte Heim.

»Wir wollen jetzt essen,« sagte Anna. »Wir haben Grünkohl.«

»Auch das noch!« Es war seine Lieblingsspeise.

»Ich wollte fragen, Telsche, ob ich wohl den Schlitten und ein Pferd haben könnte. Die Jungs kommen heut' nachmittag.«

»Frag' ihn selbst. Er ist im Saal.«

Heim riß die Thür auf: »Du sollst sagen, der ›Herr‹ ist im Saal.«

»Ach!« sagte Telsche Spieler. »Der Herr? Der Herr? Über was? Über mich? Über dies Haus? Wieviel gehört ihm davon? Oder gar über sich selbst? Nein! Über sich auch nicht! Denn er hat bis zwölf im Wirtshaus gesessen. Ach ... Er will Herr heißen! Herr Heiderieter!«

Heim fuhr mit der Hand durch sein Haar: »Was wolltest du?«

»Den Schlitten wollte ich haben.«

»Ich selbst will die Jungs holen!«

»Nein! Ich will sie holen.«

»Dann kannst du mit mir fahren.«

»Nein! Du mit mir!«

»Nun bin ich auch nicht mehr Herr über meinen Schlitten. Ich komme gleich hinüber.«

»Wir müssen erst essen!« sagte Anna.

»Der Herr hat schon gegessen!« rief Telsche aus der Küche.

»Ich kann ja wohl dabei sitzen, wenn ihr eßt! Ja?«

»Das kannst du. Dann komm nur gleich mit.«

Er ging mit ihr hinüber, hinter ihr drein. Sie hatte einen besonderen Gang; es war, als wenn sie sich – bei aller Eile – erst die Stelle aussuchte, wo sie hintreten wollte. Das gab ihrer Art zu gehen etwas kindlich Unbeholfenes. Als ginge sie einen unbetretenen Weg, so vorsichtig, fast bange ging sie.

»Du hast wohl wieder mal ein sehr gutes Gewissen?« sagte er beiläufig. »Du trittst auf den Schnee, als gingst du auf WolKen.«

Sie hörte mit ihrem hellen, streitsüchtigen Mädchensinn gleich das schlechte Gewissen, das er hatte.

»Wo warst du gestern abend?«

»Gestern abend? Ein wenig im Kirchspielskrug.«

»Dann laß mir mein gutes Gewissen! Gestern ein wenig! Morgen ein wenig.«

»Wo soll ich hin?!«

»Du hättest zu uns kommen können oder ins Pastorat.«

»Denkst du, daß ich immer vernünftig sein mag?«

»Nicht? Ach! Nicht?«

»Ihr hättet mich einladen können.«

»Fällt uns wohl nicht ein! ... Du weißt, daß du willkommen bist.«

»Dann laßt es bleiben!«

In der Küche, als Heim in die Stube gegangen war, sagte sie eifrig: »Du, Mutter, Heim ist in der Stube. Er sagt, er hat gegessen; aber Telsche zwinkerte so mit den Augen. Biet' ihm nichts an!«

Und so geschah es. Es wurde ihm nichts angeboten, und er saß da, steif und langweilig. Der Kohl roch schön, und es blieb viel übrig.

Das trug Anna nach der Küche: »Die Jungs werden hungrig sein,« sagte sie. »Ich will es ihnen warm stellen. O, wie freu' ich mich auf die Jungs!«

Dann hörte man sie draußen mit den Tellern klappern und leichthin dazu singen. Drinnen fing der Alte, der sich die Pfeife angezündet hatte, von der Behandlung des fünften Gebots an und legte alles Gewicht auf das »helfen und fördern in allen Nöten«. »Denn umbringen thun sie keinen, Heim!«

»Nein,« sagte Heim trocken.

»Aber helfen: das thun sie nicht ... so bei Krankheiten ...«

»Und Hunger!« sagte Heim.

»Na!« sagte der Alte. »Die Witts haben ja heute mittag bei dir gegessen. Ich sah sie daher kommen. Was gab es?«

»Erbsensuppe.«

»Na, darum hast du keinen Happen Grünkohl gegessen.«

Der Alte saß am Fenster wie ein eben mediatisierter Fürst, paffte mächtig und sah in die Schneelandschaft hinaus.

Heim wurde schwach: »Ich will einmal in die Küche gehen,« sagte er.

»Und ich will einmal in die Welt gehen,« sagte der Alte und griff nach seiner Zeitung.

Anna stand allein am Aufwasch; ihre Mutter hatte sich ein wenig niedergelegt.

Er setzte sich nach seiner Gewohnheit auf die Fensterbank und sah ihr still zu.

»Willst du einen Happen Kohl?«

»Ach ja. Wenn du hast, und wenn du mir es gönnst?«

Sie reichte ihm ein wenig auf einem kleinen Teller und eine Gabel dazu.

Er rührte sich nicht, hielt die Gabel hoch und plierte mit den Augen.

»Ich glaube, ich werde kurzsichtig.«

»Was denn?«

»Ich kann den Kohl nicht finden. Willst du mich mal aufmerksam machen, in welcher Gegend dieses Tellers er liegt?«

»Gesteh' erst!« sagte sie.

»Mit der Erbsensuppe sind, die Witts über den Deich gegangen. Gieb mir mehr Kohl, oder ich schlage alle Teller entzwei.«

Da gab sie ihm.

So kam das fünfte Gebot auch bei Heim Heiderieter zu Ehren; aber etwas spät; es war ein Uhr.

Einige Stunden später – die Dämmerung war schon nahe – kam der Schlitten von der Stadt zurück. Zwischen Heim und Anna saß Otto, der Seminarist, der jetzt bei Hamburg die gute Anstellung hat. Hinten auf dem Sattel des Schlittens, die beiden langen Beine in die strohgefütterten Holzschuhe gesteckt, saß Richard, der Schlosserlehrling, und träumte von Mutters Weihnachtskuchen. Jetzt fährt er als erster Maschinist auf China, und Weihnacht ist wieder nah.

Abends saß Heim mit einem schlechten Gewissen am Schreibtisch. Er hatte heut' nichts gethan, rein nichts, und er spürte wieder einige Neigung, in den Dorfkrug zu gehn. Wenn das so beiblieb, was sollte dann aus ihm werden?

Es wollte nicht vorwärts gehen mit dem Schreiben, weil es ihm keine Freude machte. Warum machte es ihm keine Freude? Es lag ihm so fern, was er schrieb. Es war überflüssig, gleichgültig, lächerlich. Es war nicht seins, was da auf dem Papier stand.

Er stützte den Kopf auf die Hand und starrte durch die Fenster.

»Wohin hab' ich es nun gebracht, seit ich nach Tübingen zog? Bin von einem Hörsaal in den andern gelaufen. Aber wenn ich den Kopf hineinsteckte, zog ich ihn rasch wieder zurück. Ein mächtig Maul hat die Wissenschaft. Als wenn ein Krokodil einen angähnt. Wenn sie zuschnappt, sitzt man zeitlebens im Dunkeln, hat den Blick für das Schöne, Freie und Weite verloren ... Na ja ... es war auch Faulheit dabei.«

Er suchte mit Mühe seine Beine zusammen und ging mit schweren, langen Schritten nach der Thür. Aus dem Stall klang das Brüllen der Tiere und Schelten.

»Ruhig da!«

Wieder hin und her, mißmutig, unruhig.

»Man müßte etwas anderes schreiben als das da!... Ganz was anderes. Aber ich weiß nicht, wie ich das machen muß. Zuweilen sehe ich es, wie ein Segel, das erscheint und wieder verschwindet; wie wenn ein Mövenzug sich wendet und die weißen Flügel auf einen Augenblick in der Sonne blinken. Gleich ist es wieder dunkel ... Man müßte etwas schreiben, das müßte stark sein und so recht fröhlich und gesund, so wie Fritz Witt ist. Wenn man es gelesen hätte, müßte man aufatmen als im Westwind: ›Das war frisch und schön!‹ Es müßt' einem sein, als käme man aus einem Dom ... aus dem Dom, und man hätte da nicht schwächliche, frömmelnde Menschen gesehen mit weichen, losen Händen und demütigen Augen, sondern den Siegfried mit der hohen Gestalt, dem mächtigen Gang und den reinen Augen und Frau Kriemhild an seiner Seite. Gegen Gott demütig! Das bleibt richtig, so lange die Welt steht. Aber gegen Menschen stolz, das heißt: rein und frei.

Aber dazu habe ich nicht die Kraft. Dazu bin ich nicht stark, sind meine Augen nicht scharf genug. Und doch muß ich ... ich muß etwas schreiben, das fromm und stark ist, das Mut hat.

Und bin ich kein Künstler, so bin ich ein Handwerker, ein ernster und tüchtiger.«

Er trat ans Fenster. Die Dämmerung ließ den Schnee grau erscheinen.

»Bald dreißig Jahre alt! Und ein Kerl wie ein Eichbaum. Was sagt Telsche? Du mußt eine Frau nehmen. Eine Frau? Ich habe ja kein Brot für sie. Und welche? Ingeborg?

Ingeborg! Nein, das ist nichts. Erstmal ist nicht zu verlangen, daß sie mich nimmt. Ist im Strandigerhof groß geworden, soll in das Heidehaus ziehen? Nein! Und dann passen wir nicht zu einander. Das ist alte Weisheit, die ich schon als Junge erfahren habe. Der Ring liegt noch im Teich. Die andere damals, die mit den braunen Händen ...« Er schüttelte den Kopf ... »Eine sonderbare Begegnung! ... Und die Heidelbergerin? ... Merkwürdig! Weg, vorüber! Wo sind sie in der Welt?

Es ist ein Elend.«

Er sah, in seinen Gedanken verloren, über die Heide: »Draußen ist die weite, weite Heide und drinnen hinter Glas und Rahmen, ich, eine Photographie von einem Menschen, nicht ein Mensch. Die Schreiberei da hat keinen Wert. Die Leute haben nicht blitzende Augen. Wabbelich sind sie, haben keinen Glauben und keine Liebe. Habe ich selbst keinen Glauben und keine Liebe? Liegt es daran?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht. Es liegt an etwas anderm. Es liegt am Stoff, den ich wähle. Die Gestalten haben keinen Saft ... Ich müßte mir Leute aus alten Zeiten holen, mächtige Persönlichkeiten. Der Gedanke flog mir schon öfter durch den Kopf. Ich will an die Universität schreiben, daß sie mir Bücher senden, daß ich tiefer eindringe in des Landes Geschichten.«

Er ging wieder hin und her, unruhig und bedrückt.

»Das hilft auch nicht! Es kann nicht am Stoff liegen, so wichtig er auch ist. Es muß an mir selbst liegen. Ich glaube, es liegt daran ... daran, daß ich nicht mit beiden Beinen im Trubel der Menschheit stehe. Ich muß mich mit meinen beiden festen Beinen breitspurig hinstellen und muß die Augen offen haben. So wie es wirklich ist, das Leben, rund um mich her, das muß ich sehen. So dies zum Beispiel mit Andrees ... und Reimer Witt. Wenn ich das ansehe mit meinen Augen, in meiner Weise. Das ist was.«

Er knipste mit den Fingern und ging mit größeren Schritten durchs Zimmer, und seine Augen bekamen Glanz. »Man muß den Dingen, so wie sie sind, auf den Grund gehen. Das Leben muß man ansehen und dann seine Quellen suchen. Das Leben sprudelt rings umher; aber wer sieht die Quellen, die Wassergänge unter der Erde? Sie stehen und staunen: Bunt ist das Leben, ein Wirbel! Nein. Es hat Quelle und Lauf. Es ist ein Strom. Woher kommt er? Wohin geht er? Wer das weiß, der kann mehr als andere Leute!«

Er schlug mit den langen Armen hin und her und redete laut bei sich selbst:

»Ich glaube, da hab' ich die Katz beim Schwanz! Ich will das mal mit Ingeborg bereden. Eine Sache wird klarer, wenn man sie mit jemand bespricht. Und mit wem sonst? Nur mit Ingeborg! Eine kleine, seine Deern ist sie! Ingeborg! Mein Kamerad!«

Da kam ein rascher Schritt über die Diele, und Ingeborg stand auf der Schwelle. Die ganze Gestalt war in eine Wirtschaftsschürze gehüllt. Es war immer so, als wenn sie gerade heute ein neues Kleid angezogen hatte, so frisch sah alles aus.

»Was willst du mich stören? Alle guten Geister!«

»Was? stören? Du riefst mich ja!«

»Ich... rief dich?«

»Du riefst mich, daß deine alte Kate in Gefahr war, umzufallen.«

Er setzte sich hin und war ein wenig verlegen. Sie saß ihm gegenüber in seinem großen Schreibstuhl, beide Hände in den Taschen ihrer Schürze und sah ernst darein. »Hier bei dir,« sagte sie, »ist frische Luft. Es wird einem gleich ganz anders zu Mut. Bei uns lebt alles unter Bleidruck. Maria sieht totenblaß aus und ist wie geistesabwesend. Andrees ...« Sie sprang auf. »Heim!« sagte sie: »Hast du das jemals für möglich gehalten? O, der Jammer! der Jammer!«

»Daß er verpachtet hat...«

»Ach ... ja, auch das. Es ist schmählich. Aber denke dir: Andrees!... Läßt uns alle im Stich, so feige, und geht mit diesem Frauenzimmer in die Welt... Andrees!«

»Er war fünf Jahre in ihrer Familie.«

»Und dennoch, Heim! Es ist ja aber Andrees! Andrees!«

»Du hast ihn zu hoch geschätzt, Ingeborg; ich hab's auch gethan.«

Sie trat mit abgewandtem Gesicht ans Fenster, und wie er nach ihr hinsah, bemerkte er, daß ihre Schultern in heißem, lautlosem Weinen aufzuckten. Da trat er an sie heran und legte den Arm um ihre Schultern:

»Wann geht er fort, Ingeborg?«

»Ich glaube, er kann sich nicht fortfinden. Es ist ihm leid, und er fühlt sich unglücklich. Ganz verbittert sieht er aus.«

»Vielleicht wird noch alles gut.«

»Aber der Hof ist verpachtet. Fort muß er ja.«

»Dann bleibst du hier ... bei mir ... Ingeborg, und dann ... wenn du mich ein wenig leiden möchtest und ich nähme mich ... mehr zusammen, vielleicht...«

Sie kehrte sich in seinem Arm um und sah zu ihm auf. In ihren Augen standen mit einem Mal Weinen und Lachen Hand in Hand.

»Ach, du lieber Mensch! Weil du mich weinen siehst!«

»Ich sehe dich zum erstenmal weinen,« sagte er.

»Das ist es!... Aber es geht nicht, was du da sagen wolltest, Heim! Wir haben keinen Respekt voreinander. Wir sind großartig als Bruder und Schwester. Muster sind wir, im Zanken und im Vertragen! Aber das andere kann nie werden.«

»Na, denn nicht, du dumme Deern! Dann laß aber auch dein Weinen. Das kann ja kein Mensch mit ansehen. Laß ihn laufen, wohin er will, wenn er bei uns nicht bleiben mag.«

Da erschrak er vor ihrem traurigen Blick.

»Laß ihn laufen, sagst du!« Dann sagte sie wie eine, deren Gedanken anderswo sind: »Komm' bald nach Strandigerhof, Heim! Hörst du?«

Weg war sie.

»Komm' heute abend noch mal wieder!« rief er ihr nach. »Ich muß noch etwas mit dir besprechen.«

Doch ein wenig aus der Fassung ging Heim nach der Küche. Es war schon ziemlich dunkel.

Da saß der kleine Fritz auf der Holzbank neben dem Herd, hatte die Hände in den Taschen, die Beine an sich gezogen und sah auf den dicken Pfannkuchen, der in der Pfanne brodelte. Man sah in dem großen, niedrigen Raum nur das freiliegende Feuer und über demselben die offene, schwarze Höhlung des Schornsteins, in die der Rauch langsam hinauf zog, und die blanken Augen von Fritz Witt, die in dem Feuer mitbrannten.

Er wandte den Flachskopf nicht vom Herd, als er Heim kommen hörte; er sagte nur: »Er muß umgekehrt werden, sonst brennt er an!«

Heim übersah sofort, daß Gefahr vorhanden war: »Da ist kein Messer.«

»Messer? Messer brauchst du da nicht zu! Du mußt ihn umschmeißen!«

Heim sah bedenklich auf die Pfanne. Er hatte in solchen Dingen immer etwas Unbeholfenes und traute sich nicht viel zu. Aber angesichts der Notlage ermannte er sich.

»Wahr dich weg! Es geht los!«

Der Pfannkuchen sauste aus der Pfanne wie die Wildente aus dem Teich und schoß nach oben in die dunkle Esse. Die beiden sahen ihm nach. Heim hielt mit offenem Mund die Pfanne steif in der Hand, den wiedererscheinenden Pfannkuchen gebührend zu empfangen. Aber der kam nicht wieder. Fritz Witt wurde es dunkel vor den Augen.

»Der kommt nicht wieder!« sagte er und holte tief Atem. »Der ist schon lange aus dem Schornstein raus.«

Heim stellte die Pfanne auf den Dreifuß, daß es klirrte. »Ja, wenn er noch immer fliegt, ist er aus dem Schornstein raus. Die verdrehten Weiber! Die sind an allem schuld. Telsche!« schrie er.

Aber die kam nicht.

»Du hast zu toll geschmissen,« sagte Fritz. »Mutter sagte immer, du bist mächtig klug; aber wenn du keinen Pfannkuchen umschmeißen kannst ...«

»Junge, sag' mir, wo ist der Pfannkuchen!«

»Weiß ich nicht! Im Himmel!«

»Da essen sie keine Pfannkuchen.«

»Naa? ... Ich meinte, da wäre es fein?«

»Ohne Pfannkuchen! Das verstehst du noch nicht.«

Beide sahen trübsinnig vor sich hin. Fritz dachte an den Pfannkuchen, Heim an Telsche Spieler.

Fritz lugte in den Schornstein hinauf.

»Heim! Heim! Da ... hängt er ... am Speckhaken, ganz zusammengeknüllt.« Er war mit einem Satz auf der Bank, setzte einen Fuß auf den Herd und spähte in das Dunkel des Schornsteins: »Da hängt er. Dicht an der Speckseite.«

»Das ist Wahlverwandtschaft, Fritz! Hol' ihn runter!«

Er hob den Kleinen mit seinen starken Händen auf über dem Feuer. »Faß ihn gut an! ... Mach' rasch, Jung! Telsche Spieler kommt. Hast ihn?«

»Höher rauf! Es räuchert hier.«

»Hast ihn?«

»Höher rauf!«

»So! hast ihn?«

»Nein ... Meine Jacke sitzt fest. O, das raucht ... Ich kann nicht wieder runter. O, das beißt!«

»Nun sitzt der auch am Haken.«

Der Pfannkuchen fiel klatschend neben die Pfanne. Von oben aus dem Schornstein kamen laute Hilferufe.

Da sprang Heim auf den Herd. Sein Oberkörper verschwand in der Esse. Man sah nur Heims Beine und Fritz Witts zappelnde Füße. In diesem Augenblick – natürlich in diesem Augenblick – kam Telsche Spieler in die Küche, und hinter ihr erschien der blonde Kopf Ingeborg Landts. Diese besann sich zuerst und stellte den Jungen auf die Erde. Sein Gesicht war schwarz gesprenkelt und seine Augen voll Thränen; doch sah er gleich wieder nach dem Pfannkuchen.

»Iß ihn auf, Jung!« sagte Telsche ärgerlich und drückte ihn auf die Holzbank.

»Ich wollte den Pfannkuchen umwerfen,« sagte Heim, »und das mißlang.« Er sah auf Ingeborg: »Lach' nicht!« sagte er und hob seine Hände.

»Lachen?« sagte Telsche. »Über solche Dummheit?«

Dann wurde es still.

Telsche that neuen Teig in die Pfanne; Heim wusch sich die Hände; Ingeborg saß neben Fritz Witt auf der Bank.

»Sieh mal, Ingeborg! Ich wollte das mal mit dir besprechen, worin wohl das Wesen des Dichters besteht ...«

Telsche setzte die Teigschüssel schwer auf den Herd: »Du solltest lieber über das Wesen des Kuhhandels sprechen. Die Rotbunte giebt sehr wenig Milch.«

»Komm, Ingeborg! Wir gehen in den Saal!«

Nach dem Abendbrot machte Telsche sich Arbeit auf der Diele. Sie stellte zurecht, fegte und packte den großen Koffer auf, der an der Saalwand steht, rechts von der Glasthür. Die Thür nach draußen stand offen, obgleich ein kalter Ostwind den Sandweg hinunterfuhr. Und doch hätte sie Reimer Witt fast nicht gesehen, mit so langen Schritten kam er vom Bahnhof her. Es trieb ihn zu seinen Kindern. Er hatte Schaftstiefel an und einen langen Treiberstock in der Hand und kam sehr stattlich daher, mit starkem Gang. Er war schon vorübergegangen, und sie mußte ihn anrufen, so ungern sie es that.

»Reimer, hör' mal!«

Er wandte sich um und stand vor ihr und sah sie an. Sie aber bekam Herzklopfen und fand kein harmloses Wort.

»Du brauchst dir keine Sorge zu machen wegen der Kinder, Reimer. Mittagessen haben sie gehabt, auch habe ich heute abend einige Pfannkuchen hinübergeschickt.«

»Das ist dankenswert, Telsche. Wo ist denn Antje?«

»Sie war nach der Apotheke. Es war ein Brief da.«

Er ließ den Kopf sinken: »Es ist ein Leid, Telsche.«

»Du mußt dir eine Haushälterin nehmen, Reimer. Es geht nicht so.«

»Ja ... Aber welche zieht zu mir? Soll ich mir eine aus dem Werkhaus holen oder von der Straße? Wer zieht sonst zu meinen sieben Kindern? Und Antje ist die Beigabe.«

»Mit Antje ist leicht umzugehen, sie muß nur geleitet werden.«

»Eine ordentliche Frau thut es nicht, Telsche. Das weißt du. Es ist kein Spaß mit den Kindern.«

»Ich will mich umsehen, Reimer, ich kenne ja allerhand Frauensleute, die ledig sind wie ich, ob ich etwas für dich finde. Es muß etwas Ordentliches sein. Das andere bringt dich ganz hinunter.«

»Ja. Was Ordentliches! Das andere ist mir auch zuwider. Wenn du sie empfiehlst, wird es eine gute sein. Du thust mir einen großen Gefallen. Ich bin wirklich schlimm daran.«

»Das bist du ... Na, gute Nacht, Reimer! Laß den Kopf man nicht hangen. Ich will sehen, ob ich bis Weihnachten etwas für dich finde.«

Sie nickte ihm zu, sah ihn an und wandte sich rasch um.

 

 


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