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Am nächsten Morgen fuhren die Fischer eben erst zum Frühfang hinaus, als die vier von der Insel schon herüberkamen. Die Mädchen hatten keine Ruhe gegeben, sie konnten es nicht erwarten, daß der Verdacht endgültig von ihnen genommen und Schaaper bestraft würde. Helga wollte auch ihr Geld wiederhaben, wenn es ging, es war ihr einziger Rückhalt, und sie hatte sauer genug daran gespart.
Sybille – nun, in einer schlaflosen Nacht hatte sie Zeit genug gehabt, sich klarzuwerden, daß nicht die Ehrenrettung, nicht die Rache an Schaaper, nicht die Versöhnung mit Onkel Hagen, daß überhaupt nichts ihr so wichtig war wie das Wiedersehen mit diesem Joachim. War es ihm ebenso ergangen wie ihr, hatte die Stunde im Dom auch für ihn entschieden? Oder hatte er sich verbockt in seinen Jungentrotz und das Pflänzlein aus seinem Herzen gerissen?
Gleichgültig? Nein, gleichgültig war ihm die Begegnung nicht geworden, hier durfte Sybille ihrer selbst sicher sein.
Wer er konnte ja seine Pläne geändert, Mavrana noch nicht erreicht oder schon wieder verlassen haben – was dann? Ach, von diesem Telegramm hing viel ab, Sybille verstand es nicht ganz, daß das kleine Postamt am Hafen bis acht Uhr früh geschlossen bleiben sollte, als wäre dies ein Tag wie alle Tage.
Das Café Stella hatte Frühbetrieb, wegen der Morgendampfer, der Kellner aber konnte ihnen nur Kaffee bringen, keinerlei Nachricht. Es hätte nichts zu sagen, daß das Postamt noch geschlossen sei, Nachttelegramme würden von der Hauptpost bestellt; der Kollege vom Nachtdienst habe ihm nichts hinterlassen, also sei auch nichts angekommen. Ob es eine Familiennachricht sei, die die Herrschaften erwarteten, wollte er teilnahmsvoll wissen. Da hatte Matthies die Frechheit, mit ja zu antworten und so scheinheilig auf Sybille zu deuten, daß sie ihn hätte schlagen mögen, wäre sie nicht mit dem Arger über ihr Erröten hinlänglich beschäftigt gewesen. Othegraven kam vom Hotel zurück, er hatte für alle Fälle festgestellt, daß Schaaper den Vorabend auf seinem Zimmer verbracht hatte, Sybilles Angst, er könnte irgendwo gespielt und gewonnen haben, war unbegründet. Der Bursche hing fest, sogar der Nachtportier wußte schon davon. Überdies war die Frau immer kränklich und verließ kaum noch das Bett. Dies letztere tat Sybille leid – seit der Begegnung mit Helga hatte sie wieder etwas versöhnlicher über Frau Edda zu denken begonnen, nicht freundschaftlich, das war natürlich vorbei; sie, als selbstsicheres Mädchen, bedauerte die Frau, die sich einmal fallen lassen und nie mehr die Kraft gefunden hatte, wieder frei zu werden – ihre Liebe zu überwinden oder das Leben abzutun, das dadurch verdorben war.
Die Liebe überwinden – Sybille wußte neuerdings, wie schwer, wie unmöglich das sein konnte. Sie hatte auch erfahren, daß die Liebe nicht aus Überlegung kam, nicht aus dem Verstand – sicher nicht aus dem Verstand. Plötzlich einmal verhaken sich die eigenen Finger in fremde, in harte Jungenfinger, der Daumen trommelt Geheimzeichen, und das dumme Herz klopft dazu, ja, das alles ist vorher, lange vorher, ehe die Erkenntnis nachkommt …
Und das Herz konnte recht behalten, oh, Sybille vertraute ihrem Herzen wie ihrem ganzen gesunden jungen Körper. Aber ihr Kopf verlangte doch das letzte Wort: sollte es sich – Gott behüte! – als Irrtum erweisen, dann hieß es das Herz zur Ordnung rufen, zur Ruhe bringen, und wenn es darüber stillstand.
Die Morgenstunden schlichen langsam hin, die vier saßen übernächtig beim zweiten Kaffee, zum Sprechen hatte niemand Lust. Kurz nach sieben bat Sybille den Kellner, telephonisch beim Telegraphenamt anzufragen, ob eine Nachricht eingelaufen und vielleicht nur nicht zugestellt sei. Sie ging mit zum Apparat, um die deutschen Namen gleich buchstabieren zu können, die Verständigung war mühsam, es dauerte eine ganze Weile, bis ihr der Kellner das endgültige Nein dolmetschte.
Mit der Unterlippe zwischen den Zähnen, arg zappelig am ganzen Leib, ging sie durch das Café zu den andern zurück und sah gerade noch einen Menschen mit blondem Haarschopf über einem hellen Mantel hinausgehen und nach einem letzten Rückblick auf den Vorgarten in einen bestaubten Wagen steigen …
»Joachim!« schrie sie auf, die ganze Wut über den tückischen Zufall tobte darin, ringsum fuhren Köpfe hoch. Aber sie war mit zwei Sätzen im Vorgarten, schrie nochmals, und als sie merkte, daß der Anlasser ihre Stimme übertönte, raste sie mit einem schallenden »Hallo!« dem anfahrenden Wagen nach, sprang aufs Trittbrett, griff mit beiden Händen nach dem blonden Schopf … Da war es aus mit der Stimme, mit der Kraft, mit der jagenden Unruhe, der Griff ihrer Hände lockerte sich zu einem Streicheln, ihr Kopf sank auf die Hände nieder mit einem letzten, geflüsterten »Joachim!«
»Aber Mädel!« sagte eine Stimme, diese herbe Stimme, die sie immer im Ohr mit sich getragen hatte. »Ist es denn so schlimm?« Eine Hand hob ihren Kopf, Augen sahen sie an, in denen es deutlich stand, daß es diesem Joachim nicht anders ergangen war als ihr selbst …
Das gab ihr, bei allem Glück, die Besinnung wieder, sie richtete sich auf und murmelte: »Ich hatte solche Angst, daß du wieder wegfährst!« – »I wo, ganz verrückt bin ich ja nicht! Ich wollte dort drüben tanken!« Da sprang sie lachend neben ihn in den Sitz und fuhr mit bis auf die andre Seite des Platzes. Während der Tankwart einfüllte, gab sie in fliegenden Worten Bericht, und er hörte ernsthaft zu und versagte sich jeden Spott, vor allem das frohlockende »Hab-ichs-nicht-gleich-gesagt!«, vor dem sie so sehr gebangt hatte. Sie wunderte sich nicht einmal, wie einfach alles plötzlich war, sie sah es mit seinen Augen. Schaaper? Eine Laus, mit dem Nagel zu knicken, Sache eines Augenblicks! Polizei her, Schmuck sicherstellen, dann ins Hotel – schrumm!
Als sie ins Café zurückkamen, fanden sie nur Helga unbefangen, die beiden andern zeigten etwas verkniffene Gesichter. »Ein Stückchen Kampfhahn steckt doch in jedem«, mußte Sybille denken, während sie mit strahlendem Lächeln bekannt machte, ach, es war ja alles so unendlich heiter!
Joachim begann mit einem Dank für die treue Kameradschaft, so herzerfrischend, daß die beiden Jungen sofort bezwungen waren. Helga wieder schien beglückt, als sie Matthies die kleine Eifersucht so schnell vergessen sah, Helga hatte Farbensinn und überhaupt viel für die Malerei übrig, Sybille fand noch Zeit, sich aus den Gesprächen des Vorabends daran zu erinnern.
Dann wurden die Rollen verteilt: Matthies sollte vor dem Trödlerladen Posten beziehen, Othegraven für alle Fälle vor dem Hotel, beide so lange, bis die Polizei kam. Die sollte nun, mit Joachims Hilfe, durch die Mädchen in Bewegung gesetzt werden.
»Angenehm ist es natürlich nicht«, schloß Joachim. »Aber solche Sachen müssen gründlich aus der Welt geschafft werden, sonst weißt du nie, wann sie einmal gegen dich aufstehen!«
*
Als es an der Tür klopfte, fuhr Frau Edda im Bett hoch und griff nach dem Herzen. Sie lebte seit Wochen in bebender Angst, hinter den Erklärungen, die ihr Mann ihr seinerzeit für Sybilles jähe Abreise gegeben hatte, ahnte sie eine schreckliche Wahrheit; nun war Helga ebenso plötzlich verschwunden, dazu hatte ihr, quälender als je zuvor, die Geldlosigkeit den ganzen Jammer eines Daseins offenbart, das auf Kartenglück aufgebaut war.
Nach den Plänen einer Wiederkehr in saubere Verhältnisse war der Rückschlag für ihre Nerven zuviel gewesen, das Herz hatte nachgegeben, bei der leisesten Aufregung fühlte sie Stiche, die sich oft zu schmerzhaften Krämpfen steigerten.
Es war ein zwiespältiger Trost, daß Schaaper unverändert um sie bemüht blieb, seine Augen, diese unsteten Mausaugen, konnten sogar etwas wie Sorge ausdrücken. Manchmal dankte sie ihm innerlich seine Ergebenheit, öfter jedoch übersiel sie Scham darüber, daß dies ihre letzte Zuflucht sein sollte.
Die Übersiedlung aus den zwei Vorderzimmern in das eine Hinterstübchen hatte sie schwer getroffen, die enge Nähe Schaapers lastete auf ihr; dazu wurde die Bedienung mangelhaft, das Essen dürftig. Schaaper jedoch behauptete, nicht spielen zu können, er fühle sich in einer Pechsträhne, die erst vorüber sein müsse.
Sie wußte nichts von einem Auftritt in einem Kasino des Südens, wo Schaaper seine allzu auffälligen Gewinne abgenommen worden waren, mit dem handgreiflichen Rat, sich in keinem verwandten Etablissement je wieder blicken zu lassen. Davon wußte sie nichts, aber sie fühlte die zähe, unüberwindliche Hemmung und erwartete das Ende.
Nun klopfte es, ungewöhnlich genug, das Frühstück war schon gebracht, Post erhielten sie nicht; Schaapers Verhalten nahm ihr den letzten Zweifel, er schrak auf, fuhr ziellos im Zimmer herum, sah von der Tür zum Fenster – da wiederholte sich das Klopfen, stärker diesmal, und er mußte öffnen. Auf seine Frage durch den schmalen Spalt wurde die Tür von außen ganz geöffnet, der Hausdiener meldete aufgeregt: »Zwei Herren wünschen Sie zu sprechen!« Und eine fremde Stimme fügte hinzu: »Wollen Sie sich hier hereinbemühen!« Es war ein Befehl, keine Frage, Frau Edda hörte es genau. Dann klappten die Türen, und sie lag allein.
*
Als Schaaper das Zimmer gegenüber betrat, zwinkerte er zuerst und konnte gegen das grelle Licht nichts erkennen.
Als sich die Gesichter endlich abhoben, machte er einen Schritt auf die Tür zu, doch die war schon geschlossen, und die beiden Herren, die ihn hereingebeten hatten, standen davor.
Hinter dem runden Mitteltisch erhob sich ein Herr, legitimierte sich als Polizeikommissar Nicolic und fragte, ob Herr von Schaaper die beiden Damen erkenne.
Schaaper sah gar nicht hin, er hatte von dem ersten Blick genug: beide Mädchen todblaß, doch Sybille in kaltem, unerbittlichem Zorn, Helga voll schmerzlicher Anklage – nein, hier war keine Rettung mehr!
»Sie antworten nicht?« fragte der Kommissar und schob ein Schächtelchen über den Tisch: »Dann erkennen Sie vielleicht dies hier?«
Es war der Schmuck, den er gestern verkauft hatte, ja, weil er von dem Gedanken besessen war, hier herauszukommen, und weil Edda verschiedenes gewünscht hatte, Tee und Zigaretten vor allem – doch wozu das den Leuten hier erklären? Aus, das Spiel!
»Ich gebe alles zu!« sagte er leise, Sybille mußte wider Willen die eiserne Haltung bewundern. »Bitte, machen Sie es kurz!«
Der Kommissar gab sich einen kleinen Ruck: »Dann erkläre ich Sie für verhaftet!« Während die beiden Beamten von der Tür her an Schaapers Seite traten, fuhr der Kommissar fort: »Und Sie, meine Damen, möchte ich bitten, gleich auf das Polizeipräsidium mitzukommen, damit wir dort Schaaper Ihre Aussagen vorlesen und sein Geständnis zu Protokoll nehmen können. Dann ist der Fall für Sie zunächst erledigt!«
»Eine Bitte …«, fing Schaaper an, aber er kam nicht weiter, vom Gang tönte ein Schrei herein, der in ein Stöhnen verklang. Der Kommissar wechselte mit den Beamten einen Blick und antwortete auf die stumme Frage, die er von Schaaper wie von den Mädchen auf sich eindringen fühlte: »Jawohl, Frau Schaaper! Ihre Verhaftung war notwendig, wegen Verdachts der Mitwisser- oder Mittäterschaft!«
»Sie ist unschuldig!« riefen Sybille und Helga wie aus einem Mund und sahen entsetzt Schaapers Dankesblick. Der Kommissar blieb ungerührt, wenn auch höflich: »Um so besser, dann wird sie sehr bald wieder frei sein!«
Damit traten sie auf den Gang hinaus, Schaaper zwischen den Beamten voran, die andern hinterdrein. Vor Schaapers Zimmer hielt ein aufgeregtes Stubenmädchen die Tür, man hörte ein kurzes Hantieren, dann kamen, von einer Polizeibeamtin begleitet, zwei Träger heraus, eine Bahre zwischen sich, Sybille sah ein fahles Gesicht, den Zipfel eines schweren Kimonos und mußte trocken aufschluchzen, Helga neben ihr weinte laut.
Die Beamtin trat rasch zum Kommissar und meldete etwas, Sybille verstand nur einzelne Worte: »Schwere Ohnmacht … scheinbar Herzkrämpfe … sofort Inquisitenspital …«
Joachim faßte ihre Hand und sah sie warnend an, ja, ja, es war schon richtig, jetzt war nicht der Augenblick …
Aber als die Vernehmung im Polizeipräsidium beendet und das Protokoll unterschrieben war, erbat sie doch vom Kommissar die Erlaubnis, Frau Schaaper zu besuchen. Der Kommissar hatte ein undurchdringliches Lächeln: »Es ist leider zu spät, Gnädigste – Frau Schaaper ist …«
»Tot?« brüllte es von der Tür her. Sybille fragte sich später oft, ob der Kommissar gewußt hatte, daß Schaaper noch nicht abgeführt war und von der Tür mitgehört hatte.
»An Herzkrampf verschieden!« stellte der Kommissar fest, es war wie ein Schnitt. Schaaper an der Tür heulte auf, es klang hündisch, so grauenvoll, daß die Mädchen jede Fassung verloren und auch Joachim und die Beamten verwirrt schienen. Doch nur einen Augenblick, dann riß sich Schaaper auf und bat selbst, in die Zelle gebracht zu werden. Während sich die Tür hinter ihm schloß, lud der Kommissar die andern ein, noch etwas zu bleiben, die Damen würden sich vielleicht etwas erholen wollen … Dabei bot er ihnen Wasser an und fragte, ob er Kaffee kommen lassen dürfe.
Sybille verneinte dankend, sie wollte Schaaper an Haltung nicht nachstehen, und zwang sich zur Ruhe. Helga brauchte länger, als aber auch sie soweit war, daß sie an Gehen denken konnten, trat die Beamtin von vorhin ein, legte eine maschinengeschriebene Liste mit einigen Gegenständen auf den Tisch und erstattete Bericht, im Gepäck Schaapers seien einige Spiele gezinkter Karten gefunden worden, dazu etwas Bargeld verschiedener Währung, zusammen etwa sechshundert Dinar …
»Dann könnten Sie Ihr Geld unter Umständen gleich wieder mitnehmen«, wandte sich der Kommissar an Helga. »Wir wollen Schaaper nochmals kommen lassen!«
Auf seinen Wink eilte die Beamtin hinaus, kehrte aber sehr bald mit einem Wärter in Uniform zurück, der sich kaum Zeit ließ, Haltung zu nehmen, und gleich eine aufgeregte Meldung ins Zimmer rief. Der Kommissar sah einen Augenblick in die Luft und übersetzte langsam: »Häftling Schaaper liegt tot in seiner Zelle – Gift.«
Als er die entsetzten Gesichter der Mädchen sah, fügte er hinzu: »Es ist sicher das beste so – für alle Beteiligten!«
»O Gott!« flüsterte Sybille auf dem Gang draußen Joachim zu. »Es war doch Liebe! Denk nur!«
Joachim legte ihr nur den Arm um die bebenden Schultern und führte sie aus dem düsteren Haus mit den schallenden Gängen in den Sonnenmittag hinaus. Nahe beim Tor saß eine Hökerin mit einem riesigen Blumenkorb vor sich, es glühte darin von Farben und Licht, daß ein leiser Widerschein noch an den Mauern hochschlug.
Joachim kaufte Blumen, legte sie in Sybilles Arm, und sie preßte küssend die Lippen dagegen. Es war eine frohe Botschaft.
*
Im Café Stella saßen die beiden Freunde – nicht sonderlich vergnügt, denn sie warteten seit Stunden und hatten sich schon vergessen geglaubt. Als sie aber von dem überstürzten Ablauf der Dinge erfuhren, gaben sie zu, daß dabei allerdings für keinen Anruf Zeit geblieben war, das Aussehen der Mädchen verriet ja auch deutlich genug die schwere Erschütterung.
Als das Thema endlich erschöpft schien, ergab sich ein verlegenes Schweigen, die Frage, was nun werden sollte, wollte keinem über die Lippen. Auch Sybille zauderte, denn sie war nicht dazu gekommen, mit Joachim etwas zu besprechen. Endlich raffte sich Matthies auf, man merkte die Ergriffenheit unter der rauhen Art: »Na – da soll es wohl so werden, daß wir auseinander rennen wie die Wanzen vorm Licht, was?«
Helga faßte nach seinem Arm, Sybille sah auf Joachim, Othegraven lächelte trübe, es dauerte wieder zwei lange Sekunden, bis Joachim sagte: »Ich hab' den Eindruck, daß wir vor lauter Takt aus der Melodie kommen!«
»Richtig!« brüllte Matthies, und Joachim fuhr schneller fort: »Ich für meine Person bin die letzte Nacht durchgefahren und reiße mich gewiß nicht darum, auch die nächste auf der Straße zu liegen – aber ich weiß ja nicht …«
»Was weißte nicht, Mensch, sag bloß einzig, was weißte nicht?« bat Matthies in Kehltönen.
»Na, ob es euch Rammeln recht ist!« schloß Joachim, und alle fielen über ihn her, vor allem Sybille, die das Mißtrauen gegen die alten Kameraden empörend fand. »Gut fängst du an!« sagte sie.
Matthies drängte zur Sache: »Auf die Insel müssen wir ohnehin, da feiern wir drüben Abschied – na, aber so was von Fest habt ihr noch nicht erlebt, will ich euch bloß mal sagen! Ich zittere schon jetzt vor Freude wie ein tibetanischer Nackthund! Othegraven und ich laden ein!« –
»Nein, ich!« schrie Joachim. »Nein, ich!« erklärte Sybille mit Nachdruck. »Den Grund erfahrt ihr später, er ist erstklassig!« »Ach, laß uns doch machen! Wir hätten so gern eine große Sache aufgezogen!« bat Matthies. »Das könnt ihr ja – aber als meine Gäste!« beharrte Sybille.
Damit brachen sie auf, Matthies und Othegraven wollten mit Helga schnell noch etwas besorgen, Joachim den Wagen unterbringen, am Bootssteg wollten sie sich wieder treffen.
Während Joachim in die Garage neben der Tankstelle hinüberfuhr, rannte Sybille schnell in das Postamt, über das sie sich am Morgen so sehr geärgert hatte, und gab ein Telegramm auf:
Justizrat Hagen, Görlitz.
Alle Schwierigkeiten behoben, erbitte Verzeihung und Nachricht, ob mich heute verloben darf oder morgigen Geburtstag abwarten soll.
Kuß Sybille.
Als Adresse gab sie das Gasthaus auf der Insel an, das Fernsprecher hatte, und erlangte die Zusicherung, daß ihr die Antwort auch nachts durchgesagt werden würde.
Joachim wartete schon vor der Tür, von den andern war noch nichts zu sehen. Sie hakte ihn unter und begann die hundertfünfzig Schritt vom Steg bis zum Café mit ihm auf und ab zu gehen, es war ja einiges zu besprechen. Doch zu Joachims Verwunderung, der sich gern auf bestimmte Themen beschränkt hätte, begann Sybille plötzlich von Othegraven zu reden: »Ja, du! Solange wir allein sind!« Es folgte eine kurze Wiedergabe jener gespenstischen Geschichte vor dem Hüttenfenster und zum Schluß die dringende Frage: »Kannst du gar nichts für ihn tun? Sag? Ein gescheiter, grundanständiger Kerl, nur so entsetzlich verbittert! Die zwei Sachen in Deutschland, mit der Jagdhütte und dem Auto, bringe ich in Ordnung, Onkel Hagen wird mir schon helfen. Immerhin ist es besser, wenn Othegraven zunächst nicht nach Deutschland geht – ihm macht es ja nicht soviel aus!«
»Na und dir?« lächelte er zu ihr hinunter. Da blieb sie stehen und sah ihn groß an: »Ach, was glaubst du denn, ach, was ahnst du denn, was ich durchgemacht habe, Joachim! Damals in der Marienkirche hat es angefangen – vielleicht erinnerst du dich! Aber seither …«
»Dann ist es also nichts mit Amerika? Und ich hatte mich so gefreut!«
»Kannst du eigentlich ein bißchen anständig sein, oder ist das gar nicht möglich?«
»Schwer, Mädchen, schwer! Wozu auch, wenn es ohne das geht?«
»Es geht nicht ohne das«, erklärte Sybille mit größter Würde. »Das laß dir gesagt sein!« Dabei traf sie Anstalten zu einer grausigen Fratze, kam aber nicht bis zu Ende, denn Matthies und die andern tauchten auf. –
Es war schöner Segelwind, sie brauchten nicht zu rudern. Joachim hätte Gelegenheit genug gehabt, mit Othegraven etwas warm zu werden, doch zu Sybilles stillem Ärger tat er nichts dergleichen. Sie ärgerte sich auch, daß sie die Frage nicht geklärt hatten, das Schicksal des Jungen lag ihr doch am Herzen. Um Matthies hatte sie weit weniger Sorge.
Auf der Insel gingen nur die beiden Freunde mit Helga an Land, Joachim sollte mit Sybille noch etwas hinaussegeln, der Überraschung wegen. Hiergegen war nichts einzuwenden.
»Joachim!« sang der Wind, und »Sybille!« plätscherten die kleinen Wellen unter dem Kiel. Sie schlossen die Augen und vergaßen einander, schlugen sie auf und entdeckten sich neu.
»Dein Mund, so frech!« murmelte sie und nahm seine Lippe zwischen die ihren.
»Und der Wirbel hier auf der Stirn ist zahm, wie?« erkundigte er sich, sobald er frei war. Auch das angewachsene Ohrläppchen hatte es ihm angetan. »Joachim!« sang der Wind, »Sybille!« plätscherten die kleinen Wellen unter dem Kiel.
Als sie endlich in den kleinen Inselhafen einliefen, dämmerte es schon stark. Aus dem Garten des Gasthauses lohte Feuerschein hoch; sobald sie sich zeigten, stürzte ihnen Matthies entgegen und umtanzte sie aufgeregt: »Zigeunerbraten – ernste Sache! Geht gleich los!«
Es war eine Grube ausgehoben, in der aus einem dicken Haufen Holzglut eben die letzten Flammen züngelten. Matthies ergriff den Bratspieß, auf dem Scheiben von Speck und Rinderfilet abwechselnd aufgereiht und mit Draht festgebunden waren, zeigte ihn feierlich bei den Festgenossen herum und legte ihn in die beiden Astgabeln, die an den Schmalseiten der Grube eingerammt waren. Gleich darauf machte sich ein durchaus angenehmer Geruch von geröstetem Fleisch bemerkbar.
Matthies begann zu drehen, ließ sich aber bald von Othegraven ablösen, da er noch nach dem ersten Gang, einer Fischsuppe, sehen wollte, die er nach »ganz tollem« Rezept bestellt hatte. Als er nicht gleich wiederkam, machte sich Helga unauffällig davon.
Sobald sie mit Othegraven allein waren, fing Joachim unvermittelt an: »Mein Bruder hat ein kleines Weingut da oben, im ehemaligen Steiermark, fünf, sechs Autostunden von hier. Um der ewigen Wasserkalamität ein Ende zu machen, will er einen Windmotor aufstellen, den er alt gekauft hat. Er muß beim Verkäufer abmontiert und bei meinem Bruder ausgestellt werden. Mein Bruder versteht selbst allerhand davon, und Taglöhner sind auch genug da, aber er hätte gern noch einen deutschen Werkstudenten zur Hilfe, der sich bei bezahlter Reise einen kleinen Ferienverdienst schaffen möchte. Weißt du jemand? Oder hättest du selbst vielleicht Lust? Gold und Silber ist ja nicht zu spinnen – eine nette Abwechslung eben, und vielleicht von längerer Dauer, es sind noch andere Pläne in Schwebe … Was sagst du?«
Othegraven mußte genau auf den Braten achten, damit er nicht anbrannte: darum konnte er nur die eine Hand über den gesenkten Kopf heben und nach Joachim angeln. Und unterdessen beugte sich Sybille über den Knienden und drückte ihm einen Kuß auf die Schläfe.
Matthies und Helga kehrten zurück und trugen zwischen sich ein gewaltiges Servierbrett, auf dem große henkellose Tassen mit der Fischsuppe standen, dazwischen eine Weinkaraffe mit Gläsern.
Auf den ersten Umtrunk folgte die Suppe und ein zweiter Umtrunk. Inzwischen war das Fleisch gar geworden, wurde vom Spieß gestreift und auf Brotschnitten ausgeteilt: es hatte alle Kraft und Würze des lebendigen Elements, der rauchige Saft quoll von den Lippen.
»Hm?« machte Matthies, mit einem Turm aus Brot, Fleisch, Speck und Brot zwischen den Zähnen. »Hm!« antwortete es in allen Tonlagen um ihn her.
Als sie nach einem weiteren Umtrunk wieder über Sprache verfügten, warf Joachim hin: »Müssen wir uns eigentlich trennen? Othegraven fährt mit Sybille und mir hier in die Nähe auf das Weingut meines Bruders. Habt ihr nicht Lust, mitzukommen?«
Helga hatte es sehr eilig mit der Antwort: »Ich kann ja vorläufig hier nicht weg, ich will doch mein Geld wiederhaben, heute ist ja nichts damit geworden!« Dabei sah sie wie zufällig zu Matthies hin und gleich wieder weg. Der trank bedächtig, ehe er antwortete: »Es ist sehr nett, daß du den Vorschlag machst, alle Hochachtung! Aber seid mir nicht böse, vor allem du, Heinz, wenn ich nicht mittue, ich muß hier am Meer arbeiten, wer weiß, wann ich wieder herkomme, und überhaupt …«
»Schade!« sagte Sybille und stieß mit ihm an.
»Ja, nicht wahr?« bestätigte Helga, es klang nicht ganz überzeugend. Dann machte sie sich mit Matthies ans Abräumen. Othegravens Hilfe wurde abgelehnt, so blieb er mit Sybille und Joachim sitzen, die Eisbombe aber, die Matthies versprochen hatte, kam lange nicht. Endlich erschien sie doch, von Waffeln umstarrt, gespickt mit Pistazien, Zitronat und allerlei Dunstobst. Ehe er sie anschnitt, verlangte Matthies, daß der Rest des ersten Weines ausgetrunken wurde, für nachher sei andres geplant.
Als sie sich genug daran getan hatten, das sahnige, strähnige Eis auf der Zunge zergehen zu lassen, entkorkte Matthies eine dickbauchige Flasche, aus der es rot in die Kelche schäumte. Plötzlich gab er die Flasche an Helga und rief zu Sybille hin: »Ich habe ja was für dich, darf ich vorlesen?«
Sybille dachte wohl an ein Festgedicht und nickte. Matthies hob sofort an:
»Da Verhaftung und Zwangsvorführung vermieden, vertraue ich Deiner Lebenserfahrung und erbitte mündliche Bekanntgabe des Hochzeitstages. Glückwunsch und Grüße Onkel Hagen.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt, Ekel?« rief Sybille, sobald sie sich vom ersten Schreck erholt hatte. Matthies grinste zurück: »Ihr habt ja ein ganzes Leben Zeit, euch zu freuen, aber die Bombe hätte nicht länger warten können, die wäre zergangen. Na, ich denke, darauf können wir eins trinken!«
Und das taten sie denn auch.