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II

Peschke, der alte Diener des Justizrats Hagen, schob sich lautlos in das verdunkelte Schlafzimmer. Es gehörte zu seinen Pflichten, unter allen Umständen um halb acht Uhr morgens zu wecken. Das tat er im Sommer, indem er die Vorhänge hochzog, das Gartenfenster weit aufschlug und, wenn Licht und Vogelruf nicht wirkten, durch ein Hüsteln, einen Gruß und die Wettermeldung nachhalf. An diesem regnerischen Herbstmorgen befolgte er schon das Winterzeremoniell, demzufolge nach dem Hochziehen der Vorhänge beide Fenster ganz geschlossen und die Heizkörper angedreht wurden. Hüsteln, Gruß und Wettermeldung blieben gleich.

Seine Wettermeldungen schöpfte Peschke aus geheimen Quellen, ohne Rücksicht auf die amtlichen Verlautbarungen. Hoch und Tief und das sonstige atmosphärische Allerlei hatten für Peschke kein Gewicht, wohl aber die Feuchtigkeit des Tafelsalzes, das Reißen in Zehen, Beinen oder Hüften bei ihm selbst und einigen seiner Vertrauenspersonen, endlich das Verhalten der Vogelwelt, das Tschirpen der Spatzen und Meisen vor allem.

Peschke, eingefleischter Stadtmensch, glaubte begründeten Anspruch auf gutes Wetter zu haben und hielt Regentage für einen Eingriff in ererbte Rechte. Deswegen versäumte er es nie, die Anzeige von Regenwetter mit einem gekränkten Seufzer zu begleiten, zum Zeichen, daß er es nicht verhindern, aber auch ganz bestimmt nicht gutheißen konnte, was da geschah. Zu dieser Haltung zwangen ihn neben dem Wetter auch manche andere Ereignisse; er hatte sich ein eigenes Weltbild geschaffen, das schlechthin bis zur Vollendung hinaufgeschraubt war, ohne alle Widrigkeiten; Peschke empfand es als Unbill, wenn die Wirklichkeit davon abwich, er schätzte Ruhe und Gleichmaß über alles, jede Aufregung war ihm verhaßt. Kam derlei an ihn heran, so war die erste erkennbare Wirkung, daß das »Bittä«, mit dem er willkürlich seine Sätze zerhackte, noch häufiger wurde und eisigen Abstand schuf.

Mundartliche Gründe bestanden dafür nicht, Peschke hatte die Redewendung einfach aus Stilgefühl übernommen und ausgebaut. Wenn er, lang und dürr, immer glattrasiert und das schneeweiße Haar zu kurzer Bürste geschoren, dastand und die vielen »Bitte« seiner Rede mit ruckhaften kleinen Verbeugungen begleitete, dann konnte er wie ein fabelhaft menschenähnlicher Automat wirken, ein Zauberdiener: jawohl, »bittä«.

Justizrat Hagen ließ seinen Diener gewähren, er war ritterlich genug, fremde Schrullen zu schonen, da er sich selbst ausgiebig damit gesegnet wußte. So hatte er den Ehrgeiz, jedes Jahr mindestens eine Fliege durch den Winter zu bringen, er hielt es für glückbringend; das wurde zum ernsten Problem für die Lüftung, Peschke hatte Gelegenheit zu Vorwürfen, die er hinter vielem »Bittä« versteckte: »Bittä, es ist eine ganz eingesperrte Luft im Zimmer, bittä, das kommt von der Fliege, bittä, sie möchte ja die Kälte nicht vertragen, bittä.« Dann mußte unter Umständen die Fliege ins Nebenzimmer gescheucht werden, bis das Schlafzimmer gut gelüftet und wieder angewärmt war. Nein, Justizrat Hagen hatte auch seine Eigenheiten, er kannte sie und wünschte nicht zu richten.

Peschke also hat die Vorhänge hochgezogen, die Fenster geschlossen, die Heizung angedreht, hält sich seitlich zwischen Bett und Fenster, hüstelt und spricht in die Luft: »Schönen guten Morgen, bittä. Es ist eine häßliche Witterung, von Sonne keine Spur, dafür Regen und Wind, bitte, wir müssen uns gefaßt machen, bitte. Jawohl, bitte.« Und als sein Herr ein erstes Zeichen des Erwachens gibt, wiederholt er einfach: »Bitte!«

Der Justizrat kennt Peschkes Art, er weiß sofort, daß außer dem Wetter verschiedenes nicht stimmt, Peschke ist offenbar tief gekränkt.

Der Justizrat blinzelt zum Fenster hin, sieht die kahlen, nassen Äste schwanken, hört die peitschenden Regenschauer und ist sofort schlechter Laune. Er ist, wenn auch durchaus kein Freiluft-Fanatiker, doch sehr abhängig vom Sonnenschein, hierin begegnet er sich völlig mit Peschkes Weltanschauung. Er sieht Peschke vielsagend an, und der bestätigt mit leichter Verbeugung: »Jawohl, bitte.«

Man muß sich also wirklich gefaßt machen.

»Meine Nichte schon auf?« fragt der Justizrat, es ist ihm nicht sehr wichtig, ihm fällt nur eben nichts andres ein. Aber er merkt sofort, daß er auf einen wunden Punkt getroffen haben muß, denn Peschke meldet tief beleidigt: »Das gnädige Fräulein, bitte, sind morgens nach Hause gekommen, bitte, zugleich mit den Frühbrötchen, bitte«, dies sehr abgesetzt und betont, »durch und durch naß, die Schuhe ganz zerweicht, bitte, der Mantel zum Auswinden, bitte, jawohl, bitte.«

Nun ist der Justizrat sehr übler Laune, hier ist irgend etwas geschehen, er wird Stellung nehmen müssen, das liebt er keineswegs. Aber Peschke ist ja noch nicht fertig, er hat nur eine Kunstpause gemacht und fährt nun fort:

»Das gnädige Fräulein, bitte, haben sofort ein heißes Bad bestellt, bitte, haben dann gefrühstückt und sind schon wieder weg, bitte.«

Pause. Dann wuchtig in der Anklage: »Mit einem Koffer, bitte!« Und wieder Pause. Endlich der Höhepunkt: »Und haben einen Brief hinterlassen, bitte. Für den Herrn Justizrat, bitte.«

»Hä!« macht der Justizrat und fährt im Bett auf. Da hält ihm Peschke schon auf silbernem Tablett den dicken blauen Umschlag entgegen: »Bitte! Das Papiermesser, bitte!« und zieht sich zurück. Von der Tür her meldet er noch: »Herr Gottfried Homilius hat angerufen, bitte, er möchte den Herrn Justizrat unbedingt heute vormittag sprechen, bitte, ich soll Bescheid geben, bitte!«

»Soll gleich kommen«, knurrt der Justizrat, noch damit beschäftigt, das sperrige Leinenpapier aus dem gefütterten Umschlag zu ziehen.

»Jawohl, bitte«, sagt Peschke und ist draußen. Er ruft bei Gottfried Homilius an, prüft danach nochmals die Temperatur des Badewassers, legt verschiedenes neu zurecht und wartet darauf, wieder ins Schlafzimmer gerufen zu werden. Doch das geschieht nicht, es bleibt still drinnen, unheimlich still.

Nach geraumer Zeit entschließt sich Peschke, doch nochmals nachzusehen, es kann alles mögliche geschehen sein, Überraschungen liegen in der Luft, so ein Brief kann Schlimmstes bewirken, wer will das wissen? Bitte?

Peschke, dies muß noch gesagt sein, hat einen Riß in seinem Seelenleben, er ist nicht nur, wie sein Herr, eingefleischter Junggeselle: die Frauen sind ihm geradezu verhaßt, er versieht sich aller Übel von ihnen; wie er dahingekommen ist, erzählt er nicht, es muß einmal eine Enttäuschung gegeben haben, doch vor langer Zeit; in den zweiunddreißig Jahren, die Peschke nun beim Justizrat dient, ist nichts ruchbar geworden. Genug, er haßt die Frauen; als Sybille Wohlbrink nach ihrer Mutter Tode in das Haus ihres Vormunds ziehen sollte, hatte Peschke sich verbissen dagegen gewehrt, auf seine Art natürlich, mit ungezähltem »bitte«, drei Morgen lang hatte er sogar die gewohnte Wettermeldung unterlassen, das war, als offene Meuterei, nicht ohne Eindruck geblieben, der Justizrat hatte mit dem Gedanken einer Trennung gespielt. Aber soweit war es dann doch nicht gekommen, wie denn auch, Peschke und der Justizrat gehörten einfach zueinander, hier konnte von Kündigung nicht mehr die Rede sein. Der Justizrat hatte kein Geheimnis in seinem Leben, keine Enttäuschung, keinen großen Kummer: er war von je sehr stark und ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, das ließ für anderweitige Erlebnisse keinen Raum, und niemand verstand es so gut wie Peschke, dieses andere fernzuhalten, hierin lag seine Unentbehrlichkeit.

Aber bei Sybille hatte ja eine Ausnahme gemacht werden müssen, das Vermächtnis des toten Jugendfreundes hatte den Justizrat zum Vormund bestimmt, das wäre nie abzulehnen gewesen. Sybilles Mutter wiederum hatte auf dem Totenbette den Wunsch geäußert, Sybille bis zu deren Volljährigkeit ganz in das Haus des Vormunds aufgenommen zu sehen; von diesem Wunsch der Sterbenden wußten außer Sybille und dem Justizrat auch der Arzt, der Pastor, die Pflegerin, das Hauspersonal; seine Nichterfüllung hätte, da Sybille einverstanden war, den Justizrat in der Öffentlichkeit schwer belasten müssen – so hatte sich eines aus dem andern ergeben, Peschkes Widerstand hatte sich nicht durchsetzen können, Sybille war ins Haus gekommen.

Nun aber hatte sie, in Peschkes Augen, den großen, unverzeihlichen Fehler begangen, sich nicht in das Bild einzufügen, das Peschke sich von einer harmonischen Welt gemacht hatte und unverbrüchlich im Herzen bewahrte. Niemand wußte allerdings, wie dieses Bild beschaffen war, Peschkes Vorstellungskraft war mehr kritisch als schöpferisch; vielleicht schwebte ihm ein Schattenwesen vor, das alles Blendwerk des Geschlechts abgeschworen hatte, das keine fremden Wohlgerüche ins Haus brachte, keine läppische Buntheit an Blumen und seidigen Sächelchen, das auch nicht im Badezimmer oder sonst einmal ungehörig trällerte, keine unnötigen Botschaften am Telephon empfing oder verlangte … ah, es gab viele Angriffspunkte, hier fehlte es von Grund auf.

Doch Peschke stand allein mit der spartanischen Strenge seiner Ansichten über die Erziehung junger Mädchen. Die Köchin, lächerliche Donnerpute, wie das Stubenmädchen, welch letzteres eigens für das junge Fräulein eingestellt worden war, hatten sich beide nicht entblödet, in eine Hingabe zu verfallen, die jeden sittlichen Halt vermissen ließ: Sybille konnte von ihren unkontrollierbaren Ausflügen zu jeder Tages- und Nachtzeit heimkehren – immer fand sie irgendeinen Imbiß und eine hilfsbereite, wenn auch mitunter übernächtigte Dienerin ihrer harrend. Das konnte nicht guttun, es mußte einem so jungen Ding den Kopf verdrehen. Die starke Hand fehlte.

Ja, sie fehlte, der Justizrat besaß sie nicht – wobei es dahingestellt bleiben mag, ob sie gegen Sybille wirklich so dringend nötig gewesen wäre, wie Peschke meinte. Sybille war gewiß nicht schwieriger als andere Mädchen ihres Alters und gewiß nicht so schwierig, wie sie es nach dem Zusammentreffen unglücklicher Umstände in ihrer Kindheit hätte sein dürfen. Sie hatte nur den frühen Scharfblick einsamer Kinder und war dahin gekommen, sogar Peschkes stumme Ablehnung der völligen Gleichgültigkeit vorzuziehen, die sie an ihrem Onkel erkannt hatte.

Liebenswürdig, gelegentlich sogar scharmant, dann wieder etwas wehleidig – im tiefsten Grunde aber immer gleichgültig gegen das fremde Schicksal und nur auf das eigene eingestellt, das war Onkel Fritz, der Justizrat. Sybille hatte oft insgeheim gewütet gegen ihn, weil er ihr viel zu früh die Verantwortung für ihr Tun und Lassen aufgebürdet hatte, ohne zu fragen, ob sie sich reif genug dazu fühlte – einfach weil es ihm selbst so am bequemsten gewesen war. Ja, damals hatten ihr Peschkes stumme Vorwürfe mehr Führung geboten als des Justizrats ständige Mahnung, sie sollte sein Vertrauen nicht enttäuschen. Nun war aus dieser Auflehnung längst eine nachsichtige, fast mütterliche Duldung geworden, die gesunden Frauen ja so viel näherliegt: Onkel Fritz durfte nicht behelligt werden, es ging ihm alles so nahe, er hatte übergenug mit sich selbst zu tun, netter alter Herr. Zwischen Erlaubt und Verboten, den starren Gegenpolen, gab es ein Stück Niemandsland, wo man die Grenzen ertasten mußte: Peschkes besonders eisiges »Bitte!« zeigte ihr, daß sie sich zuviel erlaubt hatte; stellte ihr aber die Köchin Blumen ins Zimmer, hatte dazu Seufzer, wehmütige Blicke, ein Tränchen vielleicht, dann hatte sie sich zuviel versagt.

Der Justizrat wollte nicht enttäuscht werden, Peschke war nicht zu enttäuschen, weil er ohnehin das Schlimmste erwartete, die Köchin nicht, weil sie alles verzieh und entschuldigte, sonst war kaum jemand da, den sie ernsthaft gelten ließ, kaum jemand außer Gottfried, der sich ja aber die volle Geltung erst hätte verdienen sollen. Ach ja, Gottfried, der sollte lieber bei sich selbst anfangen!

Das bißchen Verkehr zählte nicht, es waren immer dieselben Bürgerhäuser, in denen eine ältere Generation, an den eigenen Werten irre geworden, der Jugend den Willen ließ oder durch starres Festhalten an den Gesetzen des Vorgestern Haß und Heimlichkeit gegen sich schuf. Tennis, Auto und Wochenende – das war das Leben nicht. Dorthin aber, wo das Leben nackter sich offenbarte, wo aus tiefer Not sich eine neue Glut entzündete, dorthin führte kein Weg, nicht für eine Wohlbrink, die im Hause des Justizrats Hagen lebte.

Dies also mußte gesagt werden, um die Spannungen aufzuzeigen, die an jenem Morgen zur Entladung drängten. Peschke, kalten Triumph im Herzen, betritt zum zweitenmal das Schlafzimmer und findet seinen Herrn immer noch im Bett, eben dabei, nach dem Brief zu angeln, den ein Luftzug oder eine ärgerliche Hand auf den Fußboden geworfen hat.

Der Justizrat spricht nicht, aber Peschke hat ihm längst alles vom Gesicht abgelesen und wagt es, das mit einem hingesagten »Jawohl, bitte!« einzugestehen. Dabei hat er sich schon gebückt, den Brief aufgegriffen und zugereicht. Der Justizrat spricht immer noch nicht, und Peschke schweigt. Hat er es nicht immer gewußt und auf seine Art auch angedeutet, daß die Sache mit diesem Mädchen schlecht enden würde? Soll er etwa jetzt, wo er so schaurig recht behalten hat, frohlockend nach Einzelheiten fragen, die doch gänzlich belanglos sind? Nein, darüber ist Peschke erhaben. Zu hoffen bleibt, daß dieses Mädchen nicht Schande über ein hochehrbares Haus gebracht hat. Im übrigen – Strich darunter!

Da sagt der Justizrat – er spricht im Liegen zur Decke hinauf, ohne Peschke anzusehen: »Meine Nichte ist auf einige Zeit verreist – es war schon länger besprochen!«

Sofort ist Peschke ganz ungeheuer beleidigt; eben noch war er bereit, die Sache stillschweigend auf sich beruhen zu lassen – nun aber diese faustdicke Unwahrheit anhören müssen? Nein, das ging zu weit, das durfte nicht von ihm verlangt werden! Peschke tut, was er noch nie gewagt hat: er geht stillschweigend zur Tür und schickt sich an, das Zimmer zu verlassen. Ihm ist nicht ganz wohl dabei, er weiß, es ist ein starkes Stück. Doch welche Gegenwehr bliebe ihm sonst? Da ist die Tür – wird er sie durchschreiten dürfen, ohne angerufen zu werden?

Tatsächlich – er kommt unangefochten hinaus. Peschke ertappt sich dabei, wie er im Nebenzimmer steht und stumm den Kopf schüttelt über den Lauf der Welt. Dann faßt ihn scharfer Zorn gegen die Verworfene, die all das verschuldet hat; nun gibt es keinen Zweifel mehr, daß Endgültiges im Anzug ist, ein Kind wahrscheinlich … Ha!

Da läutet es an der Haustür; als Peschke öffnet, steht Gottfried da, Herr Gottfried Homilius jun. Auch ein weniger scharfer Beobachter als Peschke müßte sehen, daß der junge Herr seine Nerven nicht ganz in der Gewalt hat, er ist blaß und fahrig, seine Stimme klingt gepreßt. Als Peschke ihn ins Wohnzimmer führt und zu warten bittet, der Herr Justizrat, bitte, sei ausnahmsweise etwas verspätet, bitte – da rennt Gottfried wütig auf und nieder, verlangt einen Kognak und zündet sich unterdes eine Zigarette an, ohne daß Peschke dazu käme, Feuer zu reichen … Hier also lagen geheime Fäden offen zutage, Peschke gestattet sich ein wissendes Lächeln, während er mit einigen »Bitte!« der Tür zustrebt.

Nun aber kommt das Schwerste für Peschke: zum dritten Male das Schlafzimmer zu betreten, das er an diesem denkwürdigen Tage schon zweimal verlassen hat. Peschke horcht an der Tür des Badezimmers: das Brausen und Plätschern ist in vollem Gange, dies ist nicht der Augenblick für die Anmeldung. Dann läßt ihn eine Überlegung zusammenzucken: wenn der Justizrat badet, muß er rasiert sein; da Peschke ihn nicht rasiert hat, muß er sich selbst …

Da schweigen die Wasser, Peschke schiebt sich ins Schlafzimmer und durchquert es hastig, denn von nebenan dringt ein heiseres Stöhnen …

Der Justizrat steht eingeseift vor dem Spiegel und müht sich mit dem Rasierhobel; das Hochhalten beider Arme macht ihn stöhnen. Peschke ist ergriffen, aber er behält freien Kopf. Er rückt den Korblehnstuhl zurecht, murmelt ein beschwörendes »Wenn ich bitten darf – bitte!« und atmet erlöst auf, als der Justizrat sich wortlos setzt. Der Schaum ist zu weich, es muß nachgeseift werden, die Klinge ist nicht abgezogen, das wird blitzschnell nachgeholt, dann gleitet das Messer in langen, sanften Strichen seine Bahn. Danach … ja, hier wäre eine Frage am Platze, gemeinhin folgt auf das Rasieren das Bad, dann erst die heiße und kalte Kompresse, Kölner Wasser, Stein und Puder. Heute aber hat ja das Bad bereits stattgefunden, zur demütigenden Strafe, heute also müßte …

Peschke fragt nicht, er tupft die Seifenreste mit dem Schwamm fort, legt die heiße Kompresse auf, die kalte danach, von dem Bad ist nicht weiter die Rede. Der Justizrat schweigt, läßt sich Wäsche, Anzug, Schuhe zureichen – Peschke hat, um etwas Farbe in den grauen Tag zu bringen, für ein warmes Braun entschieden, mit gedämpfter Buntheit in Hemd und Binder. Als alles vollendet ist, bringt Peschke seine Meldung vor: »Herr Gottfried Homilius, bitte – er wartet im Wohnzimmer, bitte!«

Der Justizrat nimmt es schweigend zur Kenntnis und will sich zum Gehen wenden. Aber er zögert, nimmt den Brief vom Nachttisch, als wollte er ihn einstecken, legt ihn dann wieder hin, mit einem leisen Nachdruck: hier, und geht. Peschke hat eben noch Zeit, die Türen bis zum Wohnzimmer zu öffnen und hinter seinem Herrn wieder zu schließen. Sofort geht drinnen ein halblautes Gespräch hin und her, der Justizrat antwortet einsilbig auf Herrn Gottfrieds atemlose Fragen, so hört es sich an.

Peschke horcht nicht, das wäre weit unter seiner Würde. Er hat ja auch noch einen Fingerzeig zu befolgen, den ihm sein Herr eben erst, deutlich genug, gegeben hat. So gleitet er ins Schlafzimmer zurück und nimmt den bewußten Brief auf – es ist kein Vertrauensbruch, nein, er fühlt sich durchaus ermächtigt, auf diesem Wege von Ereignissen Kenntnis zu nehmen, über die nicht zu sprechen ist.

Peschke hat seine Brille nicht bei sich, er schickt sich seufzend an, das Blatt abwechselnd nahe an die Augen zu halten und weit weg, mit Bewegungen, die den Weitsichtigen mit Posaunenbläsern gemeinsam sind.

Aber die Entzifferung der klaren, festen Schrift macht wenig Mühe, die alten Augen gleiten rasch genug über die Zeilen:

Lieber, guter Onkel Fritz!

Hoffentlich hat Dich Peschke ein wenig vorbereitet und Du hast Dich nicht gar zu sehr erschreckt. Und sei, bitte, nicht böse, daß ich so ohne Abschied wegfahre. Aber ich sah ja keine Möglichkeit, Dir Dinge zu erklären, über die ich mir eben selbst noch nicht im klaren bin.

Lieber Onkel Fritz, ich möchte Dich beruhigen: es ist ganz sicher nichts geschehen, was das Licht zu scheuen hätte, ich habe Dein Vertrauen nicht enttäuscht. Ich wurde nur plötzlich vor eine merkwürdige Frage gestellt und brauche nun etwas Zeit und Ruhe, um entscheiden zu können, ob meine Antwort richtig war.

Darum fahre ich auf etwa zwei Wochen ins Gebirge, um ganz allein und ungestört zu sein. Bitte, sorge Dich nicht. Es ist wirklich kein Anlaß dazu. Mit einem herzlichen Kuß bleibe ich

Deine stets dankbare Nichte

Sybille.

Peschke legte den Brief zurück mit einem bösen Lächeln auf seinem Mimengesicht und einigen Kopfrucken, die wohl ein mehrmaliges stummes »Bitte!« andeuten sollten: ein echt weibliches Lügengespinst, der ganze Brief, er glaubte natürlich kein Wort davon! In zwei Wochen zurück? Haha!

Doch wahr oder unwahr tat ja nichts zur Sache – zu glauben und festzuhalten war die vom Justizrat ausgegebene Lesart: Fräulein Sybille hat eine längst besprochene kurze Erholungsreise angetreten! Peschkes Lächeln vertieft sich, wird geradezu teuflisch bei dem Gedanken, wie er diese Auskunft zunächst einmal dem Weibsvolk in der Küche hinwerfen wird wie einen Gnadenbrocken: so, davon wußtet ihr gar nichts? Ehem!

Dann verläßt er das Schlafzimmer und streicht nahe genug an der Wohnzimmertür vorbei, um feststellen zu können, daß das Gespräch immer noch weitergeht. Durch die Türritzen ist deutlich Zigarettenrauch zu spüren – wo doch der Herr Justizrat den Rauch vor dem Frühstück so schlecht vertrug! Ein verrückter Tag! Inzwischen wird der Haferbrei unscheinbar geworden sein, der geröstete Speck hart oder kalt – oder beides, solche Dinge war diese Köchin imstande! Noch dazu heute, wo sie sicherlich heftig an Tränen zu schlucken hatte.

Peschke horcht nicht, darüber ist er erhaben, um so mehr, als die Angelegenheit ja tatsächlich erledigt ist – längst besprochen! So geht er in die Küche hinunter, um nach dem Frühstück zu sehen, zuckt aber doch zusammen, als ihn, schon auf der Treppe, zwei Sätze einholen, die sehr laut gesprochen, ja, man könnte sagen geschrien sind, von Herrn Gottfried Homilius jun.: »Ich ertrage es nicht – ich werde verrückt!«

Peschke hüstelt vor Schreck ein »Jawohl, bitte!« vor sich hin, dann eilt er ins Erdgeschoß hinunter. Dinge waren das, Dinge! Ein Herr Gottfried Homilius jun., ein Knabe, genau genommen, schrie Justizrat Hagen Überspanntheiten entgegen? Wohin sollte das führen?

Das fragte sich der Justizrat wohl selbst, während er wehmütig vor seinem Schreibtisch saß und vergebens versuchte, den aufgeregten Jüngling im Auge zu behalten, der das Zimmer nach allen Richtungen durchquerte. Justizrat Hagen, äußerst untadelig in Braun und gedämpftem Rot, herrlich rasiert und gescheitelt, ein Bild gereifter und beherrschter Lebensfreude, zeigte doch leise Abspannung – am frühen Morgen! Aber wer war denn auch solchen Aufregungen – vor dem Frühstück, ich bitte sehr! – gewachsen? Dieser junge Fant durfte mit unpassend lauter Stimme erklären, er ertrüge es nicht – wer aber fragte nach dem Hausherrn?

Justizrat Hagen bedauerte sich lebhaft. Das pflegte ihm sofort Erleichterung zu schaffen – diesmal aber schien es nicht helfen zu wollen. Der Fall war ja auch zu außergewöhnlich – nach allem, was der junge Homilius erzählte, war aus einem dummen Scherz ein recht unangenehmer Ernst geworden, durchaus nicht so harmlos, wie Sybille es in ihrem Brief hatte glauben machen wollen. Überhaupt dieser Brief! Angesichts der Tatsachen erschien er geradezu unverständlich! Daß Sybille mit dem Jungen auf Wochenendbesuch zu den Godewinds auf das Gut gefahren war – gut, mochte hingehen! Daß der Junge sie auf dem nächtlichen Heimweg in den Bergwald gelockt hatte, um ihr in der Jagdhütte ein wenig Abenteuer vorzuspielen, das war ein richtiger dummer Ulk – aber Sybille hätte es nie so weit kommen lassen dürfen, dann wäre ihr auch die unendlich peinliche Verwicklung erspart geblieben. Nun war sie heillos kompromittiert – von Polizei nachts in einer Jagdhütte mit einem jungen Mann überrascht! Gewiß, der Junge wollte sich sofort mit ihr verloben – aber war denn das zu verantworten? Ganz und gar unfertig, der Junge, wenn auch großjährig; dazu der sehr unsichere Stand der Bank, an dem auch Sybilles Vermögen wenig ändern würde, die Verpflichtungen gingen ja in die Millionen; nein, zur Kapitalsanlage war die Bank mit gutem Gewissen nicht zu empfehlen, bis auf weiteres jedenfalls nicht.

Unterblieb aber die Verlobung, und Sybille mußte wegen des Wagendiebstahls oder sonstwie als Zeugin vor Gericht – wie war dann ihre Anwesenheit in der Hütte zu rechtfertigen? Wer würde an den »Scherz« glauben wollen oder gar daran, daß Gottfried sich in die nächste Nähe von seines Onkels Jagdhütte »verirrt« hätte? Und der Höhepunkt: Sybille wollte von einer Verlobung überhaupt nichts wissen, ihr schienen die Folgen gar nicht nahezugehen!

»Gib mir doch einen Rat, Onkel Hagen, ich beschwöre dich«, sagte Gottfried, und der Justizrat lächelte gekränkt: jetzt, natürlich! Hinterdrein, zum Ratgeber, waren die sonst so verspotteten Alten gut genug! Er setzte zum Sprechen an, räusperte sich dann aber nur und schwieg.

»Onkel Hagen!« drängte Gottfried und wollte schon wieder stürmisch werden. Der Justizrat hob die Hand, Gottfried zündete sich zapplig die zwanzigste Zigarette an, alle Aschenbecher lagen voll halblanger Stummel.

»Ja, hm!« machte der Justizrat, und Gottfried stürzte einen Kognak hinunter, es war auch bei weitem nicht der erste. »Hm!« wiederholte der Justizrat, als Gottfried sich sofort nachgoß. Aber es verfing nicht, Gottfried stürzte auch dieses Glas hinunter, während er mit der Linken die eben angerauchte Zigarette ausdrückte.

Nun stand der Justizrat auf und trat zwei Schritt vor, Gottfried mußte Haltung annehmen. Der Justizrat schrieb im Sprechen die einzelnen Absätze mit spitzen Fingern in die Luft: »Hier ist nichts zu raten! Ich werde zu erreichen versuchen, daß von einer Zeugeneinvernahme Sybilles Abstand genommen wird. Sie ist zur Erholung auf zwei Wochen ins Gebirge gefahren, das war längst besprochen. Im übrigen: strengstes Stillschweigen und abwarten! Das ist alles!«

»Aber …«, wollte Gottfried einwerfen.

»Das ist alles!« wiederholte der Justizrat und zog einen Strich durch die Luft. Zugleich tastete er auf den Klingelknopf unter dem Schreibtisch, und im Augenblick stand Peschke im Zimmer. Der Justizrat drückte Gottfried die Hand und sah ihm kurz in die Augen, dann überantwortete er ihn mit kurzem Wink Peschke zur weiteren Behandlung. Gottfried drehte sich vor Verlegenheit einmal um sich selbst und ging. Ehe er ihm durch die Tür folgte, wandte sich Peschke zurück und deutete seinem Herrn durch einen Kopfruck, daß das Frühstück bereitstand.

Und der Justizrat machte sich, sobald er allein war, mit einem Seufzer auf den Weg ins Eßzimmer.


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