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XII

Das Boot lag still im Windschatten der Insel, wie festgenagelt von der Sonne auf die erzene Scheibe des Meeres.

Ganz im Bug lehnte Othegraven, von der Ruderbank halb hinabgesunken; in der Mitte lag Sybille, lang ausgestreckt, Matthies aber kniete im Heck und beugte sich über ein Gerät, dessen Zweck nicht ohne weiteres erkenntlich war. Sie hatten es zugleich mit dem Boot geliehen – eine alte Karbidtonne, deren Boden herausgeschnitten und durch fingerstarkes Glas ersetzt war; drückte man die unter Wasser und hielt den Kopf hinein, dann konnte man bis in einige Meter Tiefe klar sehen – Fische, Krabben, Seesterne und Quallen auf dem felsigen Grund, alles in leuchtenden Schein getaucht.

Der Fischer nützte das Gerät nicht zum Zeitvertreib, sondern zur Jagd auf den Polypen, den verhaßten Feind, der die Netze plünderte und gelegentlich auch einen Schwimmer ertränkte, indem er ihn zäh am Bein festhielt. Da ging es an faulen Tagen zum Polypenfang hinaus. Ein Mann ruderte das Boot vorsichtig vom Bug aus, mit dem Heck voran, der andre spähte kniend durch die Tonne nach dem Polypen aus, der gern in seichtem Wasser lauerte, in zwei, drei Meter Tiefe auf steinigem Grund. War ein solcher Bursche gesichtet, dann hielt der Mann im Heck mit einem Wink das Boot an und ließ an starker Schnur einen groben, vierfachen Haken zu Wasser, hart an den Polpo hin, und riß heftig an, oft mit Erfolg. War der Polyp aber in seiner Lieblingsstellung, mit ein oder zwei Fangarmen an einen Steinbrocken geklammert, dann mußten andre Kniffe her, das Anreißen nützte nicht; dann also wurde zugleich mit dem Haken ein Säckchen mit Kupfervitriol hinuntergelassen; das Vitriol löste sich und verdarb dem Polpo das Wasser, so daß er den Stein losließ, um fortzuschwimmen – da mußte ihn der Haken fassen.

Die drei führten das Fanggerät mit sich, sie liebten den Polypen gewiß nicht, er war so ungeheuer widerlich, auch eine Gefahr beim Schwimmen, nein, an ihn war jedes Mitgefühl verschwendet; aber die Jagd war doch zu aufregend, schließlich blieb es immer dabei, daß sie abwechselnd das Leben unter Wasser beschauten, das kühle, traumhafte Geheimnis. Von den beiden andern konnte einer überhaupt ruhen, während der im Bug das Boot in leisem Gleiten erhalten sollte, aber auch der tat meistens nichts, lag rücklings da, wie nun Othegraven, sah in die Wolken hinauf, die über den Himmel hinsegelten, oder auf ihr Abbild in den Wellen, bis wieder die Reihe an ihn kam, den Platz an der Tonne einzunehmen.

Geruhsame Stunden zwischen Traum und Wachen, das leise pulsende Wasser unter dem Boot, die Wolken über ihnen verschmolzen in eins, sie fühlten sich schwerelos durch den Raum gleiten.

Zu Hause versuchte Matthies mitunter das Geschaute festzuhalten, doch weder Öl noch Aquarell konnten den farbigen Schein wiedergeben, der über den Dingen der Tiefe lag. Aber der Wirt, bei dem sie wohnten, hatte ihnen die Wände der großen Gaststube zur Bemalung freigegeben, hier auf dem frischen Verputz gelang es besser, die Farben leuchteten und brachten das Wogen, das Gleiten und Schweben schön heraus. Während Matthies malte, trug Othegraven nebenan den Verputz auf, den Sybille mischte und heranschleppte. Die Zusammenarbeit war genau abgestimmt, sie wählten immer die Vormittage dafür, um stets das gleiche Licht zu haben. Den frühen Morgen, die Nachmittage und Abende behielten sie für sich. Der Wirt drängte sie nicht, er war stolz auf den einzigartigen Schmuck seines Besitztums, von dem er sich starke Anziehungskraft versprach. Nur einmal äußerte er schüchtern den Wunsch nach etwas mehr Geschehnis und Bewegung: »Passirn sullt bissl wos«, sagte er in dem alten Armeedeutsch, das er zur Verständigung gewählt hatte. »Boot mit Fischer, Segel, bissl Sturm, einer fallt im Wasser, vielleicht …«

Das war nicht von der Hand zu weisen, Matthies gestaltete die eine Schmalwand zum wüsten Meerstück um; ein schwanker Nachen mit zerfetztem Segel kämpfte gegen Wogenberge, die ihn von allen Seiten umdrängten; eben ging der Steuermann über Bord, die Zurückgebliebenen reckten ihm ohnmächtige Arme nach. Hier kargten der Wirt und seine Gäste, fast durchweg Fischer, nicht mit Lob, sie sahen die Gefahren ihres harten Berufs gehörig vor Augen gestellt.

Zur Belohnung wurden die drei zu einer Ausfahrt des großen Hochseebootes eingeladen, das außerhalb der Küstengewässer in vier bis fünfhundert Meter Tiefe mit Legangeln fischte. Das Boot und ein Teil des Geräts gehörte dem Wirt und seinem Bruder, welch letzterer das Steuer führte; die acht Mann der Besatzung brachten ihre Arbeitskraft und noch einige Körbe mit Legschnüren ein, danach wurden die Anteile am Fang berechnet, es ging nach Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln, und doch ganz friedlich, sie waren ja aufeinander angewiesen, der Wirt konnte ohne Bemannung nichts anfangen, die Ruderer nichts ohne Boot.

Das Boot war ein gewaltiger Kasten, gut zwölf Meter lang, die acht Mann saßen zu zweit nebeneinander an den schweren Einzelrudern, die drei Gäste durften sich neben den Steuermann drücken.

Im ersten Morgenschimmer ging es hinaus, das Meer lag glatt, erst weit draußen, jenseits des Windschattens der letzten Insel, zeigte sich der dunkle Strich einer Brise.

Die Männer hielten guten Schlag, auf das Knarren der Dollen folgte jedesmal ein stöhnender Laut, der aus dem Boot selbst zu kommen schien, doch waren es die Männer, die alle zugleich den Atem ausstießen.

Draußen stand der Wind von Norden, quer auf das Boot, eine leichte Bora. Sie setzten aber keine Segel, weil sie sie später für das Auslegen der Schnüre doch nicht brauchen konnten. Nun hatten es die Ruderer schwerer, der Steuermann mußte ständig ausgleichen. Die Schläge wurden kürzer und schneller, das Stöhnen gejagter; Othegraven und Matthies boten sich zur Ablösung an, aber der Bootsmann grinste nur und schüttelte den Kopf, nein, mit der Mannschaft würden sie doch nicht mithalten können. So mußten sie müßig bleiben, bis nach gut anderthalb Stunden die Fischgründe erreicht waren. Dort wurde damit begonnen, die beköderten Schnüre achteraus zu werfen, das mußte schnell und genau gehen: wenn auch nur mit halber Kraft gerudert wurde, so bekamen die Schnüre doch schon von der Wassertiefe starken Zug und flitzten nur so über Bord; es hieß von den Haken klar bleiben, sonst könnt es böse Risse geben; der Steuermann wies ihnen eine Narbe, die sich wie ein heller Strich durch die ganze Länge seiner teerschwarzen Innenhand zog. Einmal sollte sogar ein armer Teufel an den Kleidern gefaßt, über Bord gegangen und jämmerlich ertrunken sein, ehe sie das Boot gestoppt und die Schnur wieder eingeholt hatten. Nein, das war keine Arbeit, die jeder so zum Spaß mittun konnte, hinter der scheinbaren Leichtigkeit der Fischer steckte voller Ernst.

An jede ausgeworfene Schnur wurde die nächste angeknüpft, das Boot beschrieb unterdes einen weiten Bogen, so daß sie mit der letzten Schnur so ziemlich wieder an die Korkboje kamen, die den Anfang bezeichnete. Kaum war das Ende mit einem dicken Stein in die Tiefe gesaust, da wurden die Riemen eingeholt, die Körbe sauber verstaut und die Vorräte ausgepackt: Thunfisch in Öl, in den sich jeder eine gute Handvoll rohe Zwiebeln schnitt, Brot und ein Rotwein, der sich kühl und milde trank, dann aber nachglühte.

Und wieder die Sonne dieses Mittagsmeeres, eine Sonne auf dem Scheidewege nannte sie Matthies, weil sie steiler zu steigen, unhemmbarer zu leuchten schien als jenseits der Berge und doch noch nicht zum gefräßigen Tagesgespenst geworden war wie tiefer im Süden.

Eine Stunde hielten sie Rast. »Fisch' müssen Zeit habn zum Anbeißen!« meinte der Bootsmann. Sybille griff es ans Herz, daß, während sie hier oben sich der Sonne ergaben, tief unter ihnen für Geschöpfe jener leuchtenden Welt Qualen und Todeskampf begannen. Sie flüsterte es den Freunden zu, und die nickten beide, ja, auch sie empfanden es bedrückend. Als Sybille prüfend über die Fischer in ihrer unbekümmerten Ruhe hinblickte, sagte Othegraven leise: »Für die ist es anders, die zahlen mit Arbeit!« – »Aber wir sind Zaungäste, das ist der Unterschied«, ergänzte Matthies.

Auf einen Ruf des Steuermanns fuhren die Schläfer auf, machten klar Schiff und legten die Riemen wieder ein. Mit einem Bootshaken wurde die Boje an Bord geholt, dann glitt das Boot mit dem Heck voran langsam weiter, während zwei Mann die Schnur einholten; sie trugen dicke Lederfäustlinge, sonst hätte der Zug ihnen die Finger durchschnitten. Jetzt kamen die ersten Haken, leer, leer, unberührt, abgebissen – halt! Nun lief ein Zittern hoch, wenn man sich über Bord beugte, konnte man es tief unten silbern aufleuchten sehen, noch einmal, und wieder …

Dann ging es schnell, der große Fischkasten füllte sich. Fast alle kamen tot herauf, der Aufstieg aus der großen Tiefe nahm ihnen schon unter Wasser das Leben.

Sybille kam von der vorigen Stimmung nicht mehr los, sie begann es zu bedauern, daß sie mitgetan und Dinge gesehen hatte, die kein Schauspiel sein durften, für die man mit Arbeit zahlen mußte, Matthies hatte es richtig erfaßt.

Endlich war die letzte Schnur eingeholt und sauber aufgeschossen, nun wurden an den zwei Masten die rostbraunen Segel gesetzt, und vor der im Sonnenglast langsam abstauenden Brise glitten sie in die Bucht zurück.

Die Küstenberge standen nah und dunkel gegen einen diesigen Himmel; vom Meer trieb ein Dunststreifen herein. Othegraven wies kopfschüttelnd auf die bösen Anzeichen, der Steuermann sah es ihm an den Augen ab und bestätigte: »Wind schlagte um, Schluß mit schön Wetter!«

Die drei nahmen es nicht tragisch, sie hatten alle drei in der Stadt zu tun und waren es zufrieden, wenn sie dafür keinen Sonnentag hatten.

»Mein Paß!« sagte Sybille. »Es wird höchste Zeit, seit gestern ist er abgelaufen. In Graz wollten sie ihn ja nicht verlängern, weil noch drei Wochen fehlten. Nun bin ich eigentlich vogelfrei, o Gott!«

»Wenn dat man god geiht!« meinte Matthies besorgt. »Früher stand auf so was die standesamtliche Hinrichtung!«

Nun ja, es mußte gewagt sein. Übrigens hatte Matthies Farben und Pinsel nachzukaufen, Othegraven wollte bei der Generaldirektion eines Überlandwerkes um die Erlaubnis zur Besichtigung ansuchen. So fuhren sie am nächsten Morgen zusammen los.

Gleich am Hafen trennten sie sich, nachdem sie noch als Treffpunkt das große Café Stella gegenüber dem Landungssteg verabredet hatten.

Sybille ging ohne Hast durch Gassen, die dunkel zwischen hohen Häuserfronten lagen, vielleicht, daß einmal während der Mittagsstunden die Sonne bis auf den Grund der Schächte drang. Oben in der Luft wimpelte Wäsche an Schnüren, die im engen Zickzack über die Straße liefen, Nachbarinnen hielten ihren Tratsch von Fenster zu Fenster, eine Frau an der Waschbütte sang ein wehes Lied, das Leben hatte sie wohl enttäuscht; und überall Kinder, schmutzig, halbnackt und sehr vergnügt, manche standen einfach in den Türen der muffigen Treppenflure und schrien in die Luft, daß ihnen die Adern an den kleinen Hälsen quollen, sie übten sich, wie junge Hähne im Krähen.

Sybille zog in fremden Städten immer die Seitengassen den Prunkstraßen und Paradeplätzen vor, sie fand dort mehr vom unverhüllten Wesen der Bewohner. So schlenderte sie langsam dahin und beobachtete mit allen Sinnen, schmeckte die fremden Gerüche, horchte auf die fremden Laute. Sah …

Ja, was sie da plötzlich sah, zog ihr fast die Augen aus dem Kopfe, ein wilder Fliehtrieb durchzuckte sie, aber die Glieder gehorchten nicht, sie konnte eben noch in den nächsten Hausflur treten und von dort weiterspähen.

Der Mann, der wenige Schritte vor ihr an der jenseitigen Häuserreihe entlang ging, war Schaaper, ohne Zweifel, dieses spitze Teufelsohr unter dem schiefgesetzten Hut gab es kein zweites Mal. Er sah noch böser aus als früher, ausgemergelter, Ohr und Wangenansatz knitterten wie Handschuhleder. Im Gehen spähte er an den Häusern hoch, plötzlich drehte er sich ganz um, daß Sybille atemlos einen Schritt weiter ins Dunkel zurückwich. Als sie sich wieder vorwagte, war Schaaper verschwunden, er konnte nur in das Haus gegangen sein, vor dem er stehengeblieben war; die Tür zuvor lag Sybilles Versteck fast gegenüber, hier hätte sie ihn sehen müssen, die nächste jenseits und diesseits waren zu weit ab, als daß er sie hätte in dem kurzen Augenblick erreichen können.

Sybille beschloß versteckt zu bleiben, bis Schaaper wieder fort war; gewiß, das konnte lange dauern, wer mochte wissen, was er in der Mietkaserne für Geschäfte hatte.

Ja, was mochte es sein? Bei aller Angst fühlte sie eine feindselige Neugier, Sauberes war ihm ja nicht zuzutrauen.

Ein kahles Haus unter vielen andern, drei, vier Stockwerke hoch, Frauenstimmen, Kinderstimmen, Wäsche … im Erdgeschoß ein Trödelladen, die Fenster dienten als Auslagen für allerlei Kram.

Das Warten zerrte an ihren Nerven, die Luft der Steintreppen, kühl und modrig, legte sich um sie wie ein feuchtes Gewand, nun wurden auch Kinder auf die fremde Besucherin aufmerksam, standen und schauten, gellten andre herbei, eine Mutter kam nachgelaufen, noch eine …

»Auto!« jappte Sybille und drückte dem erstbesten Jungen ein Geldstück in die Hand. Als er weitergaffte, begann sie zu deuten, holte mit dem Arm weit aus (der Junge duckte sich vorsichtshalber, er schien nicht unerfahren) und wies dann mit gerecktem Zeigefinger vor ihre Füße: hierher! »Auto, Auto!« wiederholte sie dabei, bis der Junge plötzlich begriff und heulend absauste, es war, als risse sein eigenes Geschrei ihn davon.

Die Zurückbleibenden teilten sich in zwei Lager: die Tätigeren sprangen auf die Gasse hinaus, vielleicht sogar einige Schritte hinter dem Boten her, brüllten Anfeuerung und schwenkten die Arme; die Beschaulichen starrten weiter Sybille an, die Kleineren hatten die Finger im Mund, die Größeren in der Nase.

Sybille zitterte vor Ungeduld – wenn nun Schaaper drüben herauskam, den Auflauf bemerkte und nach der Ursache sah? Sie hier entdeckte – was dann? Um ihre Angst bei dem bloßen Gedanken ein wenig zu beruhigen, fingerte sie eine Zigarette aus der Handtasche, zündete sie an und tat ein paar Züge, doch das war ganz verfehlt, die Kinder wiesen mit Fingern auf sie, ein kleines Mädchen warf sich vor Lachen strampelnd auf den Rücken.

Da bewegte sich drüben etwas, sie sah schärfer über die Köpfe weg: Schaaper stand in der Tür und sicherte herüber, Sybille machte sich bereit, einfach die Treppen hochzurennen, irgendwo Einlaß zu verlangen – da sah sie ihn auf die Gasse heraustreten und mit einem schiefen Seitenblick vorübergehen, wahrhaftig, er ging vorbei, ohne sich umzuwenden, und verschwand am Ende der Gasse im gleichen Augenblick, als das Auto mit dem immer noch brüllenden Jungen auf dem Trittbrett einbog.

Sybille ließ den Fahrer kaum halten, sprang in den Wagen und winkte ein stürmisches »Weiter!« Erst als sie die Gasse hinter sich hatten, nannte sie das deutsche Konsulat als Ziel.

Dort fand sie den Warteraum ziemlich voll, der Diener meinte achselzuckend, sie müßte sich wohl auf ein Stündchen gefaßt machen. Doch das schreckte sie nicht, hier war sie ja vor Schaaper geborgen und hatte Zeit, sich ein wenig zu sammeln, ehe sie wieder in die Straßen hinausging und eine nochmalige Begegnung wagte.

Weiter unten an der Küste, in Ragusa oder Gravosa, wurde gespielt, davon hatte sie gehört; vielleicht war er unterwegs dahin, oder er kam schon zurück und wollte über Italien an die Riviera hinüber? So oder so – hier blieb er keinesfalls lange, die Stadt war nichts für ihn.

Wenn er aber Bekannte hier hatte, mit denen er gerade abseits der großen Karawanenstraße zusammentreffen und weiß Gott was aushecken wollte? Nun – mittags fuhren sie auf die Insel zurück, dorthin kam er sicher nicht.

Wer das Wiedersehen hatte doch alles wieder aufgewühlt, es brannte sie tief, daß sie dem Schuft aus dem Wege gehen sollte, ohne ihn anpacken und auf seine Gaunerei festnageln zu können. Sie biß die Zähne aufeinander, daß die Kiefer schmerzten, und ließ sich einen Augenblick lang von ihrer Wut schütteln. Das Sitzen im geschlossenen Raum wurde ihr plötzlich unerträglich, sie wollte im Treppenflur oder im Vorgarten ein paar Schritte auf und ab gehen, um ruhiger zu werden, der Diener konnte sie ja rufen, wenn sie an der Reihe war.

Sie sah ihn im Vorraum einer Besucherin Auskunft geben, trat näher, um ihren Wunsch vorzubringen, und hörte den Mann eben noch sagen: »Rücktransport in die Heimat kann nur der Herr Generalkonsul persönlich entscheiden, die Angaben müssen geprüft werden – wo kämen wir sonst hin?«

Ehe Sybille zurücktreten konnte, wandte sich die Fragerin zum Gehen, Sybille sah in ein blasses, verweintes Gesicht mit Augen, die vor Verzweiflung halbirre schienen. In einer plötzlichen Regung hielt sie die Fremde an mit der leisen Frage: »Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?« Ein müder, ungläubiger Blick kam zurück, der nichts Gutes erwarten wollte, um nicht ein letztes Mal enttäuscht zu werden.

Sybille prüfte die Fremde mit ein paar schnellen Blicken: das blonde Mädchen war kaum älter als zwei-, dreiundzwanzig, sympathischer Kleinstadttyp, etwas zu arglos wohl für das Ausland, daher nun die große Enttäuschung. Rücktransport in die Heimat, auf Konsulatskosten? Nein, das mußte ihr erspart werden, sie empfand es als Schande, das Bitten siel ihr bitter schwer. Armes Ding.

»Hören Sie«, begann Sybille und genoß innerlich die Freude ihres Helfenwollens, es war nichts von Wohltätigkeit dabei, Sache des Scheckbuchs, nein, sie hatte es nun ja selbst erfahren, wie es tut, allein und mittellos in der Fremde zu stehen. »Hören Sie, bitte! Vielleicht können wir Ihnen doch helfen? Wir sind ein paar junge Deutsche hier, mit wenig Geld, aber wir arbeiten uns so durch, das Leben ist ja sehr billig. Wenn Sie mittun, könnten Sie vielleicht etwas Zeit gewinnen, das wäre doch schon etwas, nicht? – Ich will mich natürlich nicht aufdrängen!« setzte sie hinzu, als nicht gleich Antwort kam. Zu ihrem Schreck fing da die Blonde zu weinen an, die Tränen sprangen ihr nur so aus den Augen, das nasse Taschentüchlein half nichts mehr.

Sybille hatte für weinende Mädchen früher nicht viel übrig gehabt, sie war mehr für Schlucken und Kopf hoch, aber nun war es doch so, daß sie selbst an einem Abend losgeheult hatte, vor einer fremden Frau, Herrgott ja, es war lange, lange her, aber es zeigte doch, daß es Augenblicke gab …

Die Blonde wollte davon, immer noch weinend, doch Sybille ließ es nicht zu, sie merkte, daß dem Weinen jeder Widerstand fehlte, das Mädchen war reif für Unwiderrufliches, man durfte sie nicht sich selbst überlassen. Darum flüsterte sie schnell dem Diener zu, sie käme bald wieder, hakte dann die Blonde einfach unter und führte sie in den Vorgarten hinaus. Zwischen Haus und Nachbarmauer gab es einen Laubengang, der sie den Blicken entzog; dort gingen sie einige Male auf und ab, bis der Ausbruch vorüber war. Dann begann Sybille vorsichtig zu fragen, stutzte schon bei den ersten Antworten, fragte schneller, eindringlicher weiter, atemlos zuletzt …

In diesem Augenblick rief sie der Diener, sie schluckte mit Mühe ein starkes Wort, aber sie lief doch ins Haus, der Paß mußte ja in Ordnung gebracht werden. Vorher drückte sie noch rasch die Blonde in eine Bank und ließ sie schwören, daß sie ganz, ganz bestimmt warten und keinesfalls weglaufen wollte. »Das Kind wollen wir schon schaukeln!« rief sie im Davonlaufen und lachte grimmig.

Als sie nach kurzer Weile zurückkam, fand sie die Blonde tatsächlich noch auf der Bank, etwas getröstet, aber doch unsicher. Sybille, wie auf Stahl gezogen, wippend vor Spannkraft, blieb vor ihr stehen und redete in einem heftigen Flüstern auf sie ein: »Lassen Sie sich sagen, Fräulein … Fräulein …« »Helga Büttner«, schob die Fremde ein, Sybille nahm es nickend zur Kenntnis und nannte ihren eigenen Namen, ehe sie fortfuhr: »Lassen Sie sich sagen: ich glaube nicht, nein, ich weiß, daß Sie unschuldig sind, daß Sie betrogen wurden – wir werden es beweisen!« Der gezischte Siegesruf riß Helga hoch, sie war wie verwandelt, kein Stahlbogen, das war ihr nicht gegeben, doch ein zuverlässiger Pfeil dazu. Ein wackeres Mädchen, nur etwas aus dem Lot geraten, Sybille hatte sie richtig beurteilt.

Nun galt es schnellstens die beiden Freunde zu erreichen, für zwei Mädchen allein (anderthalb eigentlich, dachte Sybille) war nichts zu machen. So wurde ein Auto genommen, heute war ja der Tag der großen Ausgaben.

Als die Freunde, die vor dem Café im Freien saßen, sie vorfahren sahen, zog Othegraven sich ein Kreuzchen vor die Stirn, während Matthies mit Erziehergeste die Hand im Gelenk schlenkern ließ: strafwürdiger Wahnwitz! Sybilles Augenwink aber und die Gegenwart der Fremden überzeugten sie schnell, daß Besonderes geschehen sein mußte.

Sybille machte mit Helga bekannt und verlangte, daß sie aus dem Vorgarten in einen Winkel im Innern übersiedelten, wo sie ungestörter waren. Kaum hatte sie der Kellner verlassen, da steckten sie über den duftenden Mokkatassen die Köpfe zusammen und hörten Sybilles geflüsterten Bericht:

»Dieses Mädel Helga hier, Schlesierin nebenbei, hat ein Stück Welt sehen wollen und hat in ihrer letzten Stellung als Erzieherin irgendwo in Österreich so lange gespart, bis sie hier herunterfahren konnte; hier würde sich schon was finden, hatte sie gemeint – ganz couragiert soweit.

Und es hat sich auch was gefunden – ein Posten als Gesellschafterin bei einer älteren Dame. Erstes Hotel, großer Stil, alles ganz schön. Der Mann …«

»Der Mann auch ganz schön?« fragte Matthies in das kurze Schweigen. Sybille schüttelte den Kopf: »Der kommt noch! Kurz und gut: Eines Tages, gleich in der zweiten Woche, große Aufregung, hochnotpeinliches Verhör – ein Schmuck fehlt, kostbares altes Stück, unschätzbar! Nach Lage der Dinge kann ihn nur Helga hier genommen haben, einzig sie, in der kurzen Zwischenzeit war niemand sonst im Zimmer. Sie leugnet natürlich, aber durch die Beweise wird sie mürbe, es spricht tatsächlich alles gegen sie. Weil sie gar so verzweifelt ist, soll die Anzeige gnadenweise unterbleiben – wenn sie den Schaden ersetzt! Sie verzichtet also auf den rückständigen Lohn und gibt überdies noch ihr ganzes Geld her, bis auf den letzten Pfennig, es ist nur ein Bruchteil des angeblichen Wertes, aber der Mann erklärt sich, wieder gnadenweise, damit zufrieden … Nun habe ich sie auf dem Konsulat getroffen, wie sie auf dem Schub nach Hause wollte!«

Sybille brach lauernd ab, doch die Freunde sagten nichts und sahen nur Helga an, die in größter Verwirrung dasaß; ohne Sybilles Hand auf der ihren wäre sie wohl davongerannt.

Doch da sagte Othegraven: »Da muß doch ein Schwindel dabei sein?« Matthies nickte auffordernd zu Sybille hin mit einem kurzen: »Na, klar doch!« Und Helga sah wie erlöst aus. Sybille aber machte noch eine Effektpause, ehe sie die Bombe platzen ließ: »Es ist auch ein Schwindel, ein elender Gaunertrick! Mir selbst ist es vor knapp zehn Wochen ebenso gegangen! Mit dem gleichen Mann!«

Das schlug ein, die Wirkung war fabelhaft. Helga klammerte sich aufgeregt an Sybilles Arm, Othegraven schlug auf den Tisch, daß der Kellner gerannt kam, und Matthies bestellte eine Runde Sliwowitz und lachte dazu wie ein Irrer.

Sybille fauchte ihn böse an, es sei gar nichts zu lachen, vorläufig bestimmt nicht, dieser Herr von Schaaper sei ein aalglatter und höchst gefährlicher Bursche, gar nicht scherzhaft. Sie fügte einen kurzen Steckbrief an und schloß mit der Erklärung, wenn die Männer mithelfen wollten, so müßten sie sich vorher verpflichten, alles nur in gemeinsamem Einverständnis und ja nichts eigenmächtig zu tun, jede Übereilung könne eben doch noch den Skandal entfesseln, der ja vermieden werden sollte.

Matthies wurde sofort ernst und erklärte sich, ebenso wie Othegraven, zu allem bereit. Nach Sybilles Plan sollte Othegraven ins Exzelsiorhotel gehen und dort näheres über Schaapers Reisepläne zu erfahren trachten. Sie selbst wollte mit Matthies in dem Hause nachforschen, in das Schaaper morgens verschwunden war. Helga aber sollte im Café, das zum Hauptquartier ernannt wurde, Verbindungsoffizier spielen.

Sybille mühte sich, ihren Zufallsweg vom gleichen Morgen wiederzufinden; zweimal bog sie vom Korso in falsche Gassen ein, die dritte aber war die richtige. Nach kurzer Beratung beschlossen sie, daß Matthies allein ins Haus gehen, Sybille aber wieder gegenüber warten sollte, Schaaper konnte ja nochmals unterwegs sein. Die Neugier der Kinder mußte eben ertragen werden.

Matthies ging auf das Haus zu und begann damit, die Auslagefenster genau zu studieren, ehe er in der Tür verschwand. Sybille, sofort heiß umlagert, hatte den genialen Einfall, sich an einen vorübergehenden Graubart zu wenden: »Nix daitsch?« Als der Alte mit einem freundlichen »Bissl – was wollens?« stehenblieb, drückte sie ihm eine größere Summe in die Hand und bat ihn, den Auflauf zu zerstreuen, sie habe hier zu warten. Der Alte lachte, sobald er seine Aufgabe begriffen hatte, ein böses Rattenfängerlachen, rief den Kindern ein paar Sätze zu, höchst verlogene Versprechungen wohl, und die ganze Schar zog wirklich hinter ihm drein, ein paar Nachzügler setzten sich brüllend in Galopp.

Da trat drüben Matthies aus dem Haus, winkte kurz in die Richtung, aus der sie gekommen waren, und ging entgegengesetzt davon. Sybille ließ ein paar Augenblicke vergehen und schlenderte dann möglichst unbefangen zum Korso zurück. In der nächsten Quergasse sah sie aber schon Matthies, der im Laufschritt einen Bogen geschlagen haben mußte, winkend auf sich zukommen. Sobald sie ihn erreicht hatte, kicherte er ihr händereibend zu: »Hihi, mein Köpfchen, huhu, haha!« Als Sybille ziemlich nachdrücklich mehr zu wissen verlangte, legte er hastig los: »Der Trödler verkauft auch Gold- und Silberwaren! Ich das sehen – und schon einen Genieblitz haben, war eins! Das Aas hat den Schmuck selbst gestohlen, seiner eigenen Frau gestohlen und heimlich verkauft, nachdem er das arme Mädel ausgenommen hatte! Ich also 'rin zu dem Trödler und den Burschen in die Zange genommen, erst ganz leise – Schmuck kaufen, kann schon was Besseres sein, kommt mir nicht drauf an … er zeigt mir dies und das, jämmerliche Ladenhüter, ich war ganz groß! Endlich rückt er mit einem Ding heraus, das er soeben erst hereinbekommen hat, ›Anhänger in Tiroler Arbeit‹ mit Saphiren, Smaragden, Rubinen, was weiß ich – das sollte es doch sein? Ich sah ihm nur in die Augen, denn es waren Halbedelsteine und die Fassung Silber vergoldet, das konnte ein Blinder greifen, überdies war ich ja durch dich gewarnt. Und der Kerl – sieht übrigens aus wie der Schneider Meck, wirklich wie zu Fleiß – windet sich und gibt zu, na ja, ganz echt sind die Steine nicht, alle wenigstens nicht, aber die Arbeit ist doch sehr schön, und alt, mindestens so alt wie er selbst. Na, und eins zum andern, ich hab' das Ding gekauft und zwanzig Dinar angezahlt, mehr hatte ich ja nicht bei mir. Hier ist die Quittung. Dann habe ich ihn noch ein wenig gekillert und eine beiläufige Personenbeschreibung des Besitzers herausbekommen – es ist bestimmt unser Mann, darüber ist kein Zweifel!«

Sybille siel ihm fast um den Hals vor Freude. Sie rannten ins Café zurück und fanden dort Helga mit Othegraven, dem die Freude aus den Augen glitzerte: »Ich hab' mir einen Liftboy gekauft«, erklärte er, »und einiges erfahren. Heut und morgen kommt uns der Gauner nicht aus, er sitzt mit der Rechnung fest! Solange er weg war – in Ragusa, zum Spielen, du hattest recht! –, ließ die Frau die Rechnung anstehen, aber als er wiederkam, konnte er auch nicht bezahlen, nun mußten sie aus den teuren zwei Vorderzimmern in eine Hinterkammer übersiedeln und werden vom Boy bis zum Portier hinauf überwacht, damit sie nicht türmen!«

»Wußten Sie das, Helga?« fragte Sybille, und als die Blonde nickte: »Und sind Sie denn da nicht stutzig geworden?«

»Ach nein, mir hat die Frau so leid getan, sie war doch recht elend!«

Ehe Sybille in einem jähen Mitleid weiterfragen konnte, fuhr Matthies dazwischen: »Sie glauben auch, daß die Frau an dem Schwindel nicht beteiligt ist?«

Helga nickte ernsthaft: »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß sie davon weiß, sie ist ja so unglücklich über das Leben mit dem Mann! …«

Matthies hörte es nicht ungern, das Mädchen Helga gewann in seinen Augen, weil sie seine Meinung bestätigte. Er wiederholte den Bericht über seinen Erfolg, dann begann der Kriegsrat.

Sybille, die sich längere Zeit schweigsam zurückgehalten hatte, platzte mit dem Entschluß heraus, sie wollte einen Bekannten herbitten, der Schaaper von früher kenne. Sie seien ja alle vier etwas gehemmt, aus verschiedenen Gründen – dies mit einem guten Blick auf Othegraven –, auch hätten sie nicht einmal Geld genug, das angezahlte Beweisstück, den Schmuck, auch wirklich zu kaufen, bei Schaaper könne man überhaupt nicht vorsichtig genug sein …

Matthies und Othegraven sahen einander an, senkten die Blicke und stimmten zu, kaum daß sie etwas knurrig waren; gute Kameraden, wahrhaftig, sie hatten begriffen, Sybille quoll das Herz vor Dankbarkeit, sie drückte ihnen unter dem Tisch die Hände. Helga natürlich war mit allem einverstanden.

So wollten sie also heute abend zur Insel hinüberfahren, morgen früh zurückkommen und hier im Café auf den neuen Bundesgenossen warten, dabei auch Schaaper und den Trödler im Auge behalten. Auf dem Wege zum Bootssteg rannte Sybille in ein Postamt und kritzelte ein Telegramm an Joachim Gottarp, Mavrana bei St. Roch, nieder:

»Vorhersage eingetroffen stop Prophet reumütig um Hilfe in großer Not gebeten stop Bitte herkommen oder Absage an Café Stella.«

Es dauerte lange, bis sie dem Beamten den schwierigen Text vorbuchstabiert hatte. Die beiden Freunde saßen mit Helga schon im Boot, als sie hinauskam. Sobald sie am Steuer saß, stießen sie ab, nach ein paar Ruderschlägen setzte Othegraven das Segel, und Sybille, des Doppelsinnes glücklich bewußt, hielt auf den Hafen zu.


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