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Schaaper hatte sich in Wien nur ganz kurz aufgehalten und war dann nach Baden weitergefahren, wo er seither im Kasino mit wechselndem Glück spielte. Noch überwogen die Gewinne, aber sie waren im Abnehmen, auch sonst schien einiges nicht zu stimmen, es sollte einen häßlichen Auftritt im Spielsaal gegeben haben, eine Begegnung mit einem »früheren Bekannten«, wie Frau Edda es schonend ausdrückte. Sie schien aufzublühen, seitdem die Möglichkeit einer endgültigen Trennung von Schaaper nahegerückt war, und begegnete Sybille mit einer demütigen Dankbarkeit, die nicht immer leicht zu ertragen war. Sybille empfand einen haßvollen Abscheu vor Schaaper und seiner Welt; ohne den Trotz gegen die vorlaute Einmischung eines gewissen jungen Menschen wäre es ihr sehr hart angekommen, das Frau Edda gegebene Versprechen zu erfüllen; schon darum wollte sie nicht bedankt sein, aber es wurde ihr auch täglich unbegreiflicher, wie Frau Edda Jahrzehnte hindurch eine noch so lose Beziehung zu diesem Mann hatte ertragen können; die Frau Edda jener ersten Wochen hatte nichts gemein mit dem Weibchen, das so unterlegen war. Und sicher fühlte sich Frau Edda auch jetzt noch nicht, das war deutlich zu merken, sie zitterte davor, mit dem Mann allein gelassen zu werden, über dessen Jämmerlichkeit ihr doch gar kein Zweifel geblieben war: Sybille hatte das Gefühl, als müßte sie selbst um aller Frauen willen den bösen Bann zu brechen suchen.
So blieb sie, die Tage vergingen. Schaapers »befreundeter Notar« hatte sich übrigens als ein finsterer Winkeladvokat erwiesen, der im vierten Stock eines Hinterhauses zwei kümmerliche Stübchen bewohnte. Er strotzte von lächerlichen Ticks, die er in regelmäßiger Reihenfolge zeigte, als lebender Anschauungsunterricht für Psychiater: erst ließ er alle Finger einzeln knacken, klappte dazu mit den Augendeckeln, kicherte auf eine unmenschliche Art ein heiseres »Kch! Kch! Kch!«, bleckte darauf die Zähne, soweit sie noch da waren, häßliche, gelbe Hauer, und zupfte abschließend die ausgefransten Rockärmel über die Handgelenke. Er versäumte es nie, die Gesprächspausen mit diesen Darbietungen zu füllen oder sie auch an besonders wichtigen Absätzen einzuschalten. Notar war er natürlich nicht, auch nicht Anwalt, das Blechschild an der Tür nannte ihn »Rechtsberater«.
Das erstemal war Frau Edda mit Schaaper allein da gewesen und hatte den Eindruck mitgebracht, daß Schaaper die in Danzig gemachten Zusagen erfüllen und sich großzügig zeigen wollte.
Zu einer zweiten Besprechung war Frau Edda allein geladen worden, hatte aber so lange gebeten, bis Sybille mitgekommen war. Herr Kestranek, der Rechtsberater, hatte die beiden Damen mit vollem Orchester begrüßt, bald aber verschiedene Bedenken geltend gemacht – eine Verpflichtung zu weiterem Unterhalt dürfte Herrn von Schaaper nicht zugemutet werden, eine Verpflichtung, wohlgemerkt, doch sei die Munifizenz seines Herrn Klienten ja hinlänglich bekannt …
Sybille hatte sich schweigend verhalten, zu Hause aber gegen Edda kein Hehl daraus gemacht, daß sie irgendeine Sicherung für unerläßlich hielt, und Edda schien es eingesehen zu haben.
Seither aber hatte sie Herr Kestranek noch zweimal zu sich gebeten, und jedesmal war das Entgegenkommen fühlbar eingeschränkt worden. Zuletzt war es so weit, daß für die bisherige Rechtsberatung, die Beschaffung der Papiere und die Einleitung des Scheidungsverfahrens ein vorläufiger Kostenvorschuß verlangt wurde, der ziemlich das Doppelte des Betrages ausmachte, den Herr von Schaaper in Danzig so großmütig gegeben hatte. Auf Sybilles Zwischenfrage, woher denn Frau Edda dann das Geld nehmen und wovon sie leben sollte, hatte Herr Kestranek – Kch, Kch, hehehe – erwidert, dafür werde wohl von derselben Seite gesorgt werden, von der auch der Anstoß zu der ganzen Scheidungssache gekommen sei. Da war Sybille Frau Eddas wortloser Verwirrung mit der Erklärung beigesprungen, es sei wohl ein Fehler gewesen, Herrn Kestraneks Dienste überhaupt in Anspruch zu nehmen, ein Versuch, die klare Rechtslage zu verwirren, könne nicht geduldet werden.
Bei der Rückkehr von dieser letzten Unterredung gab es im Hotel eine scharfe Auseinandersetzung, die sich aber fast ganz zwischen Schaaper und Sybille abspielte; Frau Edda saß merkwürdig unsicher und schweigsam dabei. Sogar auf Schaapers höhnische Frage, ob Sybille denn gar keine eigenen Sorgen hätte, um die sie sich statt der fremden kümmern könnte, hatte Frau Edda nur ein mattes »Aber, aber, ich bitte dich …«, so daß Sybille, ernsthaft wütend, erklärte, sie wolle sich ganz gewiß nicht weiter einmengen, das Ehepaar möge die Sache doch unter sich ausmachen. Damit rannte sie in ihr Zimmer hinüber, ohne daß Frau Edda den geringsten Versuch gemacht hätte, sie zurückzuhalten.
Sobald Sybille allein war, machte ihre Wut einer tiefen Niedergeschlagenheit Platz, sie empfand die ganze Tragweite der Niederlage, in die sie verblendet hineingerannt war. Erst Homilius, dann Schaaper, dazwischen dieser blonde Joachim. O Gott! Das Leben spielte Fangball mit ihr, es ließ sich nicht bestreiten.
Was sollte nun werden? Es blieb kein andrer Ausweg, als sich reumütig an Onkel Hagen zu wenden, damit sie von hier weg und die Sache mit der Vorladung ins Lot kam, diese letztere mußte geklärt sein, ehe sie nach Deutschland zurückging. Aus dem Hotel mußte sie augenblicklich fort, das war klar, mit den Schaapers wollte sie nicht noch einmal zusammentreffen. Von dem Geld, das sie Frau Edda in Krummhübel gegeben, hatte sie noch nichts zurück; einmahnen wollte sie es nicht, nun schon gar nicht, es wäre ein zu häßlicher Abschluß gewesen, lieber gab sie es verloren. Dann aber war sie selbst recht knapp, war erst die Hotelrechnung bezahlt, so blieb ihr eben noch genug, daß sie in irgendeinen billigen Bergwinkel fahren und dort abwarten konnte, bis Onkel Hagen Entsatz schickte, ja, so weit hatte sie es gebracht. Sie wollte nichts beschönigen, es war ihr, als baute sie eine Brücke zu dem Warner in Danzig, wenn sie die eigene Torheit offen eingestand.
Hier weg also, dies vor allem; irgendein Nest im Wiener Wald nannte ihr der Portier; von dort wollte sie dann in Ruhe an Onkel Hagen schreiben, es war undenkbar, daß er unversöhnlich blieb, sie fühlte sich so voll der besten Vorsätze, gewiß würde sie auch ihn überzeugen können, daß sie von der blinden Abenteuerlust fürs erste geheilt war. Und dann galt es ein Arbeitsfeld zu finden, sie durfte nicht länger steuerlos bleiben, alles Zickzack kam daher. Ein Hauch jenes unvergeßlichen Erlebnisses unter dem Säulenwald der Marienkirche wehte sie an.
Nach einigen Augenblicken sprang sie entschlossen auf und machte sich ans Umkleiden und Einpacken. Sie wollte im Berggewand, nur mit dem Notwendigsten losfahren, der Koffer mit allem Überflüssigen konnte solange im Hotel bleiben, sie holte ihn dann auf der Rückreise ab. Sie besaß eine Handtasche von den Ausmaßen eines Wochenendköfferchens, am Arm zu tragen, die genügte wohl für die Berge.
Das Packen war schnell vorbei, nun blieben noch ein paar Abschiedsworte an Frau Edda zu schreiben, es war nicht zu umgehen, sie mußte ihr mitteilen, daß sie sich ihres Versprechens ledig fühlte. Sie setzte sich an den kleinen Schreibtisch und suchte nach Briefpapier. Die Schublade klemmte, bei dem Versuch, sie aufzureißen, stieß sie mit der Armbanduhr an die Kante und brach das Glas. Sie schickte ihm ein Kernwort nach, dann suchte sie nach einer Zigarette, um sich für den Brief an Frau Edda anzuregen. Aber sie fand die Dose nicht und erinnerte sich sofort, daß sie sie drüben in Frau Eddas Zimmer gelassen haben mußte, dort hatte sie zuletzt geraucht. Die Dose mußte sie wiederhaben, es war ein liebes Stück, ihr Vater hatte sie schon getragen. Nun, das war im gleichen Brief zu erledigen: »Liebe Frau Edda«, schrieb sie, »Du bist wohl mit mir der Meinung, daß wir nach der Unterredung von vorhin nicht länger zusammenbleiben können. Ich mußte mich davon überzeugen, daß Du wegen Deiner nächsten Zukunft keineswegs fest entschlossen bist, und die Verantwortung, Dich dabei etwa zu beeinflussen, erscheint mir zu schwer. Ich wünsche Dir von Herzen, daß Du Dein Glück finden mögest, und werde den schönen Stunden, die wir verleben konnten, eine dankbare Erinnerung bewahren.
Mit herzlichem Gruß
Sybille Wohlbrink.
P.S. Meine Zigarettendose, die ich in Deinem Zimmer liegenließ, schick mir bitte durch das Mädchen zurück!«
So, das war getan, Sybille läutete dem Stubenmädchen, um den Brief gleich besorgen zu lassen. Inzwischen legte sie da und dort letzte Hand an, schnallte die Kofferriemen fest, rückte vor dem Spiegel das Hütchen zurecht – es war das kecke grüne, das niemals sitzen wollte –, zog die Handschuhe an, das Mädchen erschien nicht. Sybille läutete ein zweites, bald auch ein drittes Mal und trat endlich auf den Gang hinaus, um dort Ausschau zu halten. Dabei sah sie, wie ein halb Dutzend Türen weiter weg Frau Edda mit ihrem Mann herauskam und der Treppe zuging. Auf der obersten Stufe drehte sich Schaaper um, während seine Frau schon hinunterging, und blickte zurück. Sybille konnte trotz der Entfernung deutlich das Wolfsgrinsen sehen, mit dem er sie erkannte. Dann verschwand auch er.
Das Mädchen kam nicht, Sybille entschloß sich, den Brief selbst in die Zimmertür zu stecken, und ging rasch hinüber. Die Außentür war nur angelehnt, sie trat in die breite Füllung und wollte den Umschlag in den Spalt der Innentür schieben – da sprang auch diese auf, das Zimmer lag offen vor ihr, sie sah von der Schwelle aus ihre Zigarettendose auf dem Mitteltisch liegen. Schnell trat sie vor, kritzelte auf die Rückseite des Umschlags: »Habe die Dose soeben zurückgeholt«, nahm die Dose vom Tisch und ließ sie in die Tasche gleiten. Dabei rannte sie aber, gerade in der Tür, fast mit dem Stubenmädchen zusammen, das den Gang entlang gerannt kam und nach ihren Wünschen fragte; sie sei leider etwas aufgehalten worden.
»Schon erledigt«, sagte Sybille, »Sie sollten nur einen Brief hierherbringen, ich habe ihn inzwischen selbst besorgt.«
»Aber wie hat denn die Dame ins Zimmer hinein können, die Herrschaften sind doch weg?«
»Die Tür war offen«, sagte Sybille und ging hastig davon, weil sie zu ihrem Ärger merkte, wie sie rot wurde.
Unten in der Halle verlangte sie die Rechnung und merkte zu ihrem Schreck, daß sie mit dem verschiedenen Nebenher und den vielen Trinkgeldern wesentlich höher war, als sie erwartet hatte; nun blieb ihr herzlich wenig Geld, es konnte peinlich werden. Als sie nach Bergdörfern fragte, schien es ihr plötzlich verräterisch, die Billigkeit gar zu sehr zu betonen, das gab einen Vorgeschmack. Man nannte ihr auch nur Bergpaläste und drückte ihr ein Bündel Werbeschriften in buntem Tiefdruck in die Hand. Nein, das half ihr nichts, sie erkundigte sich nach dem nächsten Uhrmacher und ging.
Sie geriet an einen netten alten Meister, der seinen Arbeitstisch gleich im Verkaufsraum stehen hatte und mit der horngefaßten Lupe im Auge zu ihr aufsah. »Natürlich, die jungen Damen«, brummelte er, während er das Ührchen entgegennahm und nach einem passenden Glas zu suchen begann, »immer resch, immer schneidig – dös halt't a so a Glasl net aus! Und de Zeiger, natürli, in 'n Jackenärmel eing'hakt und ganz verbog'n – i sag's ja!«
Sybille sah den sanften, geschickten Fingern zu, die mit kleinen Pinzetten die Zeiger geradebogen, dann das eingesetzte Glas und gleich auch das Goldgehäuse blank rieben.
»A fein's Ührl«, sagte der Alte, während er es Sybille wiedergab, »dös hat sei' Geld kost't!«
»Ich weiß es nicht, es ist ein Geschenk!«
»Unter Hundertfufz'g Schilling krieget ma's net, a Schweizer Werk, und Feingold …«
Sybille hatte einen jähen Einfall, ihrer Kassenebbe aufzuhelfen. »Wieviel könnte ich dafür bekommen?« fragte sie. Der Meister sah sie überrascht an: »Wollen S' es denn verkauf'n? Dös werd a schlecht's G'schäft, getragene Uhren gelten nix! Wann sich net grad a Gelegenheit trifft a stierer Göd …«
»Was fürn Ding?« fragte Sybille verblüfft. »Stierer Göd?«
»Ein Firmpate, der wo kein Geld nicht hat, eine neue Uhr zu kaufen«, erklärte der Alte im Zwangsdeutsch. »Bei der Firmung wern immer Uhren g'schenkt, i waß selber net, warum.«
»Würden Sie andern Schmuck kaufen?« beharrte Sybille; da nun die Frage einmal angeschnitten war, wollte sie nicht vorschnell ablassen. Doch der Alte schüttelte bedauernd den Kopf: »Net recht gern, Fräul'n! Dös san kane G'schäft für mi! Gib i Eahna z'weni, san Se de Wurz'n, und gib i z'viel, bin i's selba – na, des is nix, san S' mir net bös!«
»Schön, es war nur eine Frage«, brachte Sybille heraus, mit ihrer Entschlossenheit war es vorbei. Sie zahlte und ging.
Im Hotel fuhr sie nochmals in ihr Zimmer hinauf, um in Ruhe die vielen Prospekte durchzulesen, vielleicht war doch etwas Erschwingliches dabei. Dem Liftboy trug sie auf, den Hausdiener um das Gepäck heraufzuschicken.
Während sie dabei war, die Preise von Rax, Hochschneeberg, Wechsel und Semmering gegeneinander abzuwägen, klopfte es, überlaut, nach der Art schneidiger Hausburschen. Sie rief ein etwas ungnädiges Ja, fuhr aber gleich darauf in die Höhe, denn statt des Mannes in grünem Schurz glitt Schaaper herein, schloß die Tür hinter sich und blieb mit bösem Grinsen davor stehen.
»Was wollen Sie?« herrschte ihn Sybille an. »Verlassen Sie augenblicklich mein Zimmer!« Er grinste ungehemmt weiter und hob beschwichtigend die Hand, es sah nach Verbrecherfilm aus: »Halb so wild, schönes Kind, bei mir verfangen die großen Töne nicht!«
Sybille überlief es kalt, vielleicht stand der Mensch unter einem Rauschgift oder er war überhaupt verrückt; sie mußte sich auf alles gefaßt machen, ohne sich etwas merken zu lassen. »Nur ruhig!« sagte sie sich unablässig vor, biß dabei die Zähne zusammen und straffte Fäuste und Beine, um zu Abwehrstößen gegen jeden plötzlichen Angriff bereit zu sein.
Doch Schaaper rührte sich nicht von der Tür weg, körperlich hatte er wohl nichts im Sinn, nur sein Wolfsgrinsen verriet Arges.
»Sie waren im Zimmer meiner Frau?« fragte er plötzlich, und Sybille maß ihn erstaunt, ehe sie mit einem Kopfneigen bejahte.
»Sie wurden beobachtet, wie Sie im Hinausgehen etwas zu sich steckten!« Sybille wollte auffahren, bezwang sich dann aber und zog es vor, den Kopf halb zu wenden, so daß sie Schaaper nur noch aus dem Augenwinkel zu sehen brauchte. Sein Grinsen vertiefte sich, als er nun sagte:
»Oh, das Fräulein hat es nicht nötig zu antworten, das Fräulein spielt die große Dame! – Ich möchte aber doch raten, die Mätzchen schleunigst sein zu lassen, meine Geduld reicht nicht mehr lange!«
Nun stand Sybille auf und ging auf ihn zu, innerlich entschlossen, sich den Ausgang, notfalls mit Gewalt, zu erzwingen. Sie sah starr auf den gelbhäutigen Adamsapfel, ja, dorthin wollte sie ihm die Handkante schlagen, wenn er nicht augenblicklich, augenblicklich …
»Halt!« sagte Schaaper ohne besonderen Nachdruck und hielt ihr einen Browning entgegen. »Ich stehe mit dem Rücken gegen die Klingelknöpfe – wenn Sie noch einen Schritt machen, alarmiere ich das ganze Hotel, und Sie werden verhaftet!«
»Sie sind verrückt!« rief Sybille und wollte vorwärts, da schrillte er: »Verhaftet, jawohl – als Diebin!«
Sybille schwankte wie unter einem Stoß, machte eine halbe Wendung und ließ sich schwer in den Stuhl zurückfallen, aus dem sie aufgesprungen war.
»Sie dachten wohl nicht, daß es so schnell herauskommen würde, wie? – Nicht sehr talentiert gemacht übrigens, die ganze Sache, richtige Anfängerarbeit! – Na, nun wollen wir zu einem Ende kommen, Sie scheinen ja die vornehme Pose ablegen zu wollen!« Damit angelte er sich mit dem Fuß einen Stuhl heran und setzte sich vor die Tür, behielt aber den Browning in der Hand und spielte damit. »Über die Tatsache des Diebstahls brauchen wir nicht weiter zu reden, die ist ja wohl zugegeben, nicht wahr?« meinte er und fuhr auf Sybilles entrüstetes »Nein!« fort: »Nicht? Na, dann darf ich Ihnen vielleicht auseinandersetzen, wieviel Ihnen das Leugnen helfen wird: Meine Frau hat mit mir das Zimmer verlassen; unten auf der Straße fällt ihr ein, daß sie ihre Platinbrosche nicht weggeschlossen und die Zimmertür nicht versperrt hat; sie bittet mich zurückzugehen.
Ich finde die Tür versperrt, lasse mir vom Zimmermädchen aufschließen und erfahre dabei, daß Sie inzwischen im Zimmer waren und beim Verlassen etwas zu sich gesteckt haben. Ferner finde ich auf dem Mitteltisch diesen Brief mit einem Vermerk von Ihrer Hand über eine Zigarettendose – die Platinbrosche aber ist vom Toilettetisch verschwunden!«
Nochmals fährt Sybille mit einem »Nein!« auf, aber ihr Widerstand ist plötzlich sehr knieweich, sie erschrickt selbst darüber. Schaaper hat wieder die kleine, beschwichtigende Handbewegung: »Lassen Sie das dumme Nein – es verfängt gar nicht! Tatsache ist ja, daß Sie wenig Geld haben, mit Ihrem Vormund entzweit sind und zunächst nicht nach Deutschland zurück können. Durch die Wendung in der von Ihnen betriebenen Scheidungsangelegenheit zwischen meiner Frau und mir sind Sie auch der Hoffnung beraubt, an einer baldigen Erbschaft meiner Frau zu partizipieren …«
Wieder strafft sich Sybille zu einem »Nein!«, aber es kommt nicht mehr laut heraus, steht nur in ihren Augen. Schaaper grinst ungerührt: »Daß meine Frau demnächst einen todkranken Onkel in Rotterdam beerben wird – davon wußten Sie natürlich nicht, haben die Scheidung und alles aus reiner Freundschaft angezettelt, nicht wahr? Ja, ja! Und als sich herausstellte, daß Frau von Schaaper an ihrem Mann eben doch fester hing als an einer hergelaufenen Zufallsbekanntschaft – da wollten Sie sich, in aller Unschuld natürlich, an der Platinbrosche schadlos halten! Nicht übel!«
Sybille sprang auf und stampfte mit dem Fuß, es machte sie rasend, zu sehen, wie sich in dem Kopf drüben ihr Tun und Lassen verzerrte. Doch ehe sie ein Wort sprechen konnte, stand auch Schaaper auf und sagte in einem Ton, dessen Kälte äußerste Entschlossenheit verriet: »Lassen Sie die Komödie! Ich habe genug davon! Um meiner Frau den Skandal zu ersparen, bin ich bereit, von einer Anzeige abzusehen, wenn Sie den Schmuck ersetzen!«
»Ich habe ihn nicht!« schrie Sybille und brach mit einer Handbewegung nach ihrem Gepäck ab, weil sie sich ihrer Stimme nicht mehr sicher fühlte. Schaaper hatte nur ein Grinsen für den Einwand und sprach weiter: »Ich glaube gern, daß Sie ihn nicht mehr haben, darum schenke ich mir auch eine Durchsuchung Ihres Gepäcks, die Sie vorzuschlagen scheinen. Denn wie ich ebenfalls feststellen konnte, haben Sie sich gleich nach dem Diebstahl unten beim Portier nach einem Uhrmacher erkundigt, sind tatsächlich dort gewesen und haben den Mann gefragt, ob er Schmuck kaufen wolle …«
Er ließ sich Zeit, die Wirkung der letzten Sätze zu beobachten, und war offenbar zufrieden damit; sein Grinsen vertiefte sich. Sybille saß plötzlich da wie ein junges Tier in der Falle, in ihren unsteten, fahrigen Blicken spiegelte sich Verzweiflung; Schaaper ersah den Augenblick für den Gnadenstoß: »Sie sehen, die Kette ist geschlossen, es bleibt kein Ausweg! Wenn Sie nicht als Hoteldiebin verhaftet werden wollen, dann ersetzen Sie den Wert des Schmucks – zehntausend Schilling!«
Er betonte die Zahl nicht sonderlich, warf sie hin wie einen Einsatz beim Roulette, es hätte ebensogut das Vielfache wie ein Bruchteil sein können. Und doch hatte er sich nicht genügend in der Gewalt, es war ihm nicht der Mühe wert gewesen, das eiserne Spielergesicht aufzusetzen, der Triumph über das verhaßte Bürgermädel machte ihn hemmungslos: so blitzte über sein Gesicht einen Augenblick lang das Eingeständnis des ganzen traurigen Manövers – Sybille, die bei Nennung des Phantasiepreises aufgesehen hatte, erkannte es genau und schlug sofort wieder die Augen nieder. Nichts mehr von zerfahrener Angst – das junge Wildtier hatte begriffen, wo die Falle aufging, und spannte nun alle Kräfte, um jäh vorschnellen zu können.
Zehntausend Schilling! Sybille kannte Frau Eddas Platinbrosche genau, Edda selbst hatte ihr die Geschichte erzählt: in einer ihrer peinlichen Geldklemmen hatte sie das echte Stück verkauft und in platiniertem Silber mit falschen Steinen nacharbeiten lassen. Das echte Stück mochte vielleicht ein Zehntel der jetzigen Summe wert gewesen sein, die Nachahmung aber war mit einem Hundertstel, mit hundert Schilling also, bestimmt weit überzahlt. Betrug also, Erpressung – die Falle! Sybille verwarf den Gedanken, Frau Edda als Zeugin aufzurufen, sofort, sie scheute neue Enttäuschungen, vielleicht war Frau Edda mit im Bunde, nun war alles möglich. Nein, diese Sache mußte sie allein durchstehen, auch die Polizei war keine Hilfe, Sybille wußte durch Onkel Hagen genug vom Indizienbeweis und seinen Tücken. Alle Wahrscheinlichkeit sprach gegen sie, das war ihr klar; schlug Schaaper Lärm, dann wurde sie unweigerlich verhaftet und hatte zumindest einige Wochen Untersuchungshaft, wenn nicht gar eine Verurteilung vor sich.
»Wo soll ich das Geld hernehmen?« fragte sie verzweifelt, es galt ja vor allem, Schaaper nichts merken zu lassen. Sein Grinsen wurde fast wohlwollend: »Muß ich Ihnen wirklich erst die Adresse Ihres Vormundes nennen? Sie werden ihn antelephonieren, und zwar sofort, von hier aus, und ihn um telegraphische Überweisung bitten: sobald das Geld da ist, sind Sie frei!«
Sybille überwand die Versuchung, ihm den Irrsinn ins Gesicht zu schreien, daß ein Mädchen, das auf Fernruf zehntausend Schilling haben konnte, den Gedanken gehabt haben sollte, falschen Schmuck zu stehlen! Hier ging es ja nicht um Irrsinn oder Vernunft, hier ging es um Beweise, um die Tatsachen, die ihre eigene Sprache redeten. Der Mann dort an der Tür hatte die Wahrscheinlichkeit für sich und daher die Macht, öffentliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie aber stand allein, ihre Gegenbeweise brauchten Zeit, wer weiß, ob sie überhaupt gelangen.
»Wenn ich meinem Onkel die Wahrheit sage, dann schickt er das Geld bestimmt nicht, sondern kommt selbst her, er ist doch Rechtsanwalt!« flüsterte Sybille und merkte unter gesenkten Lidern mit Entzücken, daß Schaaper den Einwand nicht zu entkräften wußte. Er mußte einen Augenblick suchen, ehe er auf die alte Drohung zurückgriff: »Dann wird er sie eben im Polizeigefängnis besuchen müssen!« – »O Gott!« Sybille schlug die Hände vors Gesicht und stöhnte darunter hervor: »Wenn er sich von meiner Schuld überzeugt hat, dann tut er nichts, um mich vor Strafe zu schützen, oh, ich kenne ihn!«
Diesmal war Schaaper ernsthaft bewegt, es dauerte lange, bis er sprach – dann aber war es ein neuer Ton, leise, verbindlich, fast eine Bitte um Entgegenkommen: »Was schlagen Sie vor?«
Sybille zögerte nicht, sie hatte ihren Plan, vor allem ging es darum, aus diesem Zimmer hinauszukommen, dann war noch Hoffnung. »Überlassen Sie es mir«, bat sie, »was ich meinem Onkel sagen soll, ich muß ganz unbefangen sein, sonst schöpft er Verdacht, dann ist alles verdorben. Von hier aus kann ich übrigens gar nicht sprechen, Überlandgespräche müssen unten persönlich angemeldet werden, es ist überall angeschlagen. Lassen Sie mich hinunter, ich bin ja ohne Geld, mein Gepäck bleibt hier – Sie haben mich wirklich in der Hand!«
Schaaper stand auf und rückte den Stuhl weg, mit der gefährlichen Drohung war es vorbei. »Jetzt einen Boxhieb!« dachte Sybille böse, »dann das Bündel Elend im Winkel liegenlassen und hinaus!« Doch sie überwand sich sofort, zu solcher Rache war nicht der Augenblick. So fragte sie nur mit einem Lächeln der Zerknirschung: »Wenn aber mein Onkel das Geld nicht über die Grenze schicken kann – würden Sie dann hinüberfahren und es selbst holen?«
Nun mußte Schaaper schlucken, ehe er zurückgab: »Ich erwarte, daß Sie Ihren Onkel dazu bestimmen, sein möglichstes zu tun. Hat er hier tatsächlich kein so hohes Devisenguthaben, dann wäre ich äußersten Falles mit einer Teilzahlung in bar und einer Schulderklärung für den Rest einverstanden!«
»Gehen wir!« sagte Sybille, nahm ihre Handtasche auf und wollte aus der Tür. Im letzten Augenblick hielt Schaaper sie noch auf mit einem gezischelten: »Vergessen Sie nicht: ich habe alle Beweise gegen Sie! Die Polizei kann ich Ihnen jeden Augenblick auf den Hals hetzen!« Ohne ihn anzusehen, flüsterte Sybille im Hinausgehen: »Dazu wird es nicht kommen!«
Auf dem Gang sah sie das Zimmermädchen von der Außentür weghuschen und von der nächsten Ecke her zurückschielen: das schuf ihr plötzlich wieder die Angst, die sie vor Schaapers Jämmerlichkeit fast schon überwunden geglaubt hatte. Diese schmutzige Neugier, das Belauertwerden ging über ihre Kräfte; das Frohlocken kam zu früh – sie war aus dem Zimmer, doch lange nicht in Sicherheit. So sehr sie in Gedanken alle Möglichkeiten überjagte – es zeigte sich kein andrer Ausweg, als den Justizrat um Hilfe zu bitten: er sollte im Flugzeug herkommen und mit Schaaper abrechnen. Alles in ihr wehrte sich dagegen, ihre Flucht so kläglich unter den schützenden Fittichen enden zu sehen – aber es mußte wohl sein, anders kam sie hier nicht los.
Der Portier in der Halle empfing sie mit unveränderter Höflichkeit, für ihn war Sybille durch das gute Trinkgeld bei Bezahlung der Rechnung unwiderruflich unter die feinen Herrschaften aufgenommen; vielleicht wußte er auch noch von nichts – jedenfalls notierte er die Anmeldung eifrig und gab sie mit Nachdruck weiter.
Während Sybille wartend in der Nähe der Sprechzelle saß, sah sie eine amerikanische Familie die Treppe herunterkommen, die sie vom Sehen kannte, die Mutter, eine feine weißhaarige Dame mit noch jugendlichem Gesicht, und die drei erwachsenen Kinder, zwei Töchter von sehr gehaltener Eleganz und ein Sohn, Harvardstudent allem Anschein nach. Nun trugen sie alle Autodreß, Mäntel und Kappen aus Leder, in gedämpften Farben, die Mutter ein dunkles Olivgrün, die eine Tochter Meergrün, die andere Weinrot, der Sohn ein verwaschenes Naturbraun.
Als sie an der Loge vorbeikamen, schoß der Portier hervor und fragte mit ehrfürchtiger Verbeugung: »Wohin darf ich den Herrschaften die Post nachsenden?« Es gab einen kurzen Familienrat, dann wandte sich der Sohn, als der beauftragte Sprecher, dem Portier zu, machte mit seiner knochigen Sporthand eine Bewegung, die völlige Ungebundenheit verlangte, und näselte: »Well, wir wissen noch nicht, wo wir haltmachen – wir geben Nachricht!«
Sybille hörte die breite Mundart des Mittelwestens wie eine Botschaft aus dem Jenseits; auch ihre Mutter hatte so gesprochen. Zugleich hatte sie eine Eingebung, der sie unverweilt folgte: sie erhob sich, trat auf die alte Dame zu und sagte leise, doch mit einer unwiderstehlichen Bitte im Ton: »Oh, bitte, nehmen Sie mich mit, fort von hier, tun Sie es!«
Die alte Dame wandte sich ihr überrascht zu: »Sie sind Amerikanerin, oder nicht?«
»Meine Mutter war es«, flüsterte Sybille. »Ich will Ihnen alles erklären – später – bitte, helfen Sie mir!«
Die Dame umfaßte Sybille mit einem prüfenden Blick und war rasch entschlossen: »Nun gut, kommen Sie, ich vertraue Ihnen!« Dann wandte sie sich ihren Kindern zu: »Dieses Mädchen fährt mit uns, richte das ein, Bob!«
Bob schien nicht unangenehm überrascht, er machte sofort den Vorschlag, die Fremde vorn neben sich zu nehmen, damit sie, ohne Ledermantel, wenigstens hinter der Windschutzscheibe etwas Deckung fände. Die Mutter nickte sofort Zustimmung, die Schwestern aber hatten einiges zu tuscheln, ehe sie sich zu dritt mit der Mutter auf dem breiten Rücksitz zufrieden gaben. Bob wollte behilflich sein und seiner Mutter die Füße in Decken wickeln, aber sie drängte ihn mit einem hastigen: »Los, los, mein Junge, fahren wir!« Da sprang er in den Führersitz, schaltete und gab Gas. Der schwere Sechszylinder, im Leerlauf angewärmt, zog weich und willig an, Sybille wagte nicht den Kopf zu wenden, sah aber gerade im Losfahren, wie zu den betreßten Verbeugern vor dem Hotelpersonal ein Bote herausgesprungen kam und dem Portier etwas zurief, worauf dieser die Arme hochwarf, als wollte er Halt winken. Doch Bob schien nichts gesehen zu haben, er drehte unbekümmert auf, und der schwere Roadster schob sich in stetig wachsendem Tempo aus dem Ort hinaus.
Gesprochen wurde nichts, der Märzwind pfiff ihnen eisigkalt entgegen. Sybille begann nicht unbedenklich zu frieren und wunderte sich, wie es die drei, trotz Leder, auf dem offenen Rücksitz aushalten konnten. Der Frost schüttelte ein gut Teil Zuversicht aus ihr heraus, sie erkannte plötzlich, daß sie sich durch diese Flucht Schaaper gegenüber böse ins Unrecht gesetzt und ihm einen weiteren Schuldbeweis geliefert hatte. War sie übrigens, wie es bei der Abfahrt geschienen hatte, beobachtet worden und würde nun verfolgt und eingeholt, so mußten sich die schlimmsten Folgen für ihre Helfer ergeben: böser Dank für ein gutes Werk!
»Gott, was bin ich elend!« klapperte Sybille zwischen den Zähnen vor sich hin. »Nur nicht heulen, o Gott, nur das nicht!«
Bob schielte sie einigemal von der Seite an, griff dann plötzlich unter seinen Sitz und zog eine Decke hervor, die er geschickt mit einer Hand entfaltete und ihr um die Schultern warf, während er mit der andern in unvermindertem Tempo weitersteuerte. Sybille dankte ihm mit einem Lächeln, das ihn zu bezaubern schien, er beantwortete es mit einer Grimasse der Ergebenheit, die ihm aber vom Rücksitz her ein warnendes Räuspern eintrug. Da duckte er sich mit einem heimlichen Schuljungengrinsen über das Steuerrad, Sybille aber hatte an der einen Warnung genug und vermied gewissenhaft jede neue Anknüpfung.
Bei sinkender Nacht hielten sie vor einem der großen Hotels am Nordhang des Semmerings. Die Wahl war rein zufällig, die Lage hatte es den jungen Damen angetan: nahebei schoß ein Gießbach durch eine Schlucht herunter, der Bergwald stand blauschwarz im Mondlicht und schien in das milchige Weiß der Halden zu versickern. Die jenseitige Lehne stieg mit schroffen Felsen weit in den Nachthimmel. Als der Wagen vorfuhr, geisterte eben ein Zug wie ein Glühwurm über die Flanke des Berges. »Wollen wir doch hierbleiben, es ist so romantisch, nicht?« riefen die Fräulein, die Mutter nickte, und Bob hielt an und verhandelte mit dem Portier, der eilfertig herausgestürzt kam. Sobald die Zimmerfrage zur Zufriedenheit gelöst war, schälten sich die Damen aus ihren Decken, stiegen aus und gingen langsam die Treppe hinauf, während hinter ihnen Bob für das Gepäck und den Wagen sorgte.
Im ersten Stock wandte sich die alte Dame Sybille zu: »Sie werden sich etwas herrichten wollen – lassen Sie sich ihr Zimmer zeigen, und wenn Sie fertig sind, kommen Sie, bitte, zu mir!«
Sybille gehorchte mit sehr unamerikanischem Knicks und folgte etwas beklommen dem vorangehenden Kellner, der ihr ein Zimmer neben denen der Amerikanerinnen anwies, mit eigenem Bad, wie Sybille erschreckt bemerkte. Kaum war sie allein, so stürzte sie auf das Preistäfelchen neben der Tür und erbebte: der Zimmerpreis betrug mehr als das Doppelte der Summe, die sie während der Wartezeit für den vollen Tag auszugeben gedacht hatte. Doch es mußte wohl erlitten sein, ihre Rettung war nicht zu teuer damit bezahlt.
Herzurichten hatte sie nicht viel, die kleine Handtasche, die sie als einziges Stück gerettet hatte, bot wenig Möglichkeiten. Sie konnte sich die Haare bürsten und ein buntes Halstuch von andrer Farbe umlegen, mehr nicht. Anstandshalber wartete sie aber eine Viertelstunde, ehe sie an Mrs. Burnhams Tür pochte. Den Namen hatte sie inzwischen festgestellt, Mrs. Ethelred A. Burnham mit Tochter Helen E. A. und Sohn Robert A. Burnham; das zweite Fräulein war Miß Alice Clark, nicht ihre Tochter, offenbar nur deren Freundin.
Mrs. Burnham hatte sich wohl umgezogen, doch nicht für großes Dinner, Sybille empfand gleich beim Eintreten das einfache Hauskleid als ein besonders gütiges Entgegenkommen. Als die alte Dame sich auf die Couch niederließ und ihr zuwinkte, sich neben sie zu setzen, durchzuckte sie die Erinnerung an einen andern Abend, an ein erstes Gespräch mit einer fremden Frau, in der sie die ersehnte mütterliche Freundin gefunden zu haben wähnte. Nun war alles weniger zwanglos, aber doch soviel wärmer, sie tat ein stummes Stoßgebet, daß keine neue Enttäuschung vor ihr liegen möchte. Als Mrs. Burnham ihr sagte: »Nun erzählen Sie, Kind, was Ihnen geschehen«, da wagte sie doch nicht mit der nackten Feststellung zu beginnen, daß sie unter Diebstahlsverdacht entflohen war, sondern sie schickte eine gedrängte Schilderung voraus, wie ihre Beziehung zu Frau Edda begonnen und welche Wendung sie durch ihre eigene Hilfsbereitschaft genommen hatte.
Die alte Dame hörte unbewegt zu, es war nicht zu erkennen, wie sie über den Fall dachte. Auch als der Bericht zu Ende war, saß sie noch einige Augenblicke schweigend da, Sybille kam sich vor wie ein Angeklagter, der auf sein Urteil wartet, und hörte schließlich zu ihrer wahren Erlösung Mrs. Burnham sagen: »Nun, mein Kind, ich glaube Ihnen; ich bedaure es nicht, Ihre Bitte erfüllt zu haben. Aber – es war ein sehr häßliches Erlebnis für Sie, lernen Sie ein für allemal daraus, daß man die Berührung mit zweifelhaften Leuten am besten ganz vermeidet. Dieser Mister Schaaper – hieß er nicht so? – war sehr zweifelhaft, ich weiß noch, wie erstaunt ich war, als ich Sie in seiner Gesellschaft sah. –
Nun, genug davon! Sagen Sie mir, was Sie jetzt tun wollen?«
Das gab eine neue Erzählung, Sybille mußte wohl oder übel erklären, warum es ihr, selbst als letzter Ausweg, so drückend war, die Hilfe ihres Onkels anzurufen. Mrs. Burnham sah sie nachdenklich an und sagte: »Sie sind ein richtiges Unglückskind, scheint mir! Diese Mordsache im Wald ist ja ganz schlimm! Nun, ich werde darüber nachdenken!« Dabei erhob sie sich, ging zur Tür und drückte den Klingelknopf. Sybille nahm es als Zeichen zum Aufbruch und wollte sich verabschieden, wurde aber zurückgehalten: »Bleiben Sie, ich habe für uns beide Dinner hierher bestellt, ich dachte, es würde Ihnen lieber sein!«
Das war der Freispruch, Sybille beugte sich in glückseliger Rührung über die Hand der alten Dame. Mrs. Burnham strich ihr mit beiden Händen vom Scheitel über die Wangen und geleitete sie zur Couch zurück.
Das Essen wurde von zwei Kellnern aufgetragen, nicht ohne Festlichkeit, das Haus wollte beweisen, wie sehr es ausländischen Ansprüchen gewachsen war: Hühnerbrühe, Forellen mit Kräuterbutter, Schnepfen auf Toast, Malakoff-Creme und Obst, dazu ein linder, kühler Vöslauer.
Während des Essens plätscherte die Unterhaltung harmlos hin, dabei maßen sich aber beide Frauen mit schnellen, verstohlenen Blicken, und beide schienen erfreut von dem Ergebnis: keine Geheimsprache verrät ja so untrüglich wie die Tischmanieren alles Wissenswerte über Herkommen und Stand. Mrs. Burnham gehörte nicht zu den Emporkömmlingen, denen ewig und allerorts die Konservenbüchsen nachzuklappern scheinen, auf denen sie ihre gesellschaftliche Stellung aufgebaut haben, sie stammte aus einer der May-Flower-Familien, ihr Mann war hoher Richter, mit gegründeter Aussicht, bald in Washington zu landen; die Blüte Amerikas also. Sybille empfand es mit doppelter Genugtuung, und ihre Dankbarkeit vertiefte sich. Mrs. Burnham aber schien erfreut über den eigenen Scharfblick, da sie nun ihr erstes Urteil über den fremden Gast bestätigt fand.
Bald nach dem Kaffee erhob sich die alte Dame und meinte, sie wolle noch unten im Speisesaal nach ihren Kindern sehen. Sybilles Bitte, sie für heute zu entschuldigen, wurde gern gewährt, mit einem unmerklichen Augenwink, der ihren Takt lobte: Mrs. Burnham sollte Gelegenheit haben, den Fall mit ihren Kindern ungestört zu besprechen.
In ihrem Zimmer stand Sybille lange am offenen Fenster und sah in die Bergnacht hinaus. In einer bitteren Wallung erkannte sie die Sinnlosigkeit des Schicksals, sich immer wieder in Rücksichten und Verpflichtungen zu verstricken und doch nicht zu der klaren, hohen Pflicht zu finden, die noch den Fehlschlag adeln müßte.
»Warum kommt das Leben immer als Zufall zu mir?« dachte sie, und Tränen verdunkelten ihr das Licht der Sterne. »Warum kann ich es nicht greifen und lenken wie andre?«
Doch der Nachtwind nahm ihr die Tränen von den Wimpern, sein Brausen klang zusammen mit dem Gießbach in der Schlucht, und während Sybille noch in wehmütiges Schauen verloren stand, begann sie aus dem fernen Brausen den Atem des Lebens herauszuhören und fühlte beglückt, wie ihre Sehnsucht mit hineingerissen wurde in das ewige Strömen.
»Bewähre dich!« klang es ihr aus der Nacht entgegen, und sie gab erschauernd ein Gelübde zurück.
In ihren Träumen aber wandelte sich das Brausen von Wind und Wasser zu dem des Fliegers, das ihr durch eine andre Nacht zugeklungen war wie eine Verheißung.
*
Beim Frühstück am nächsten Morgen traf sie mit der Familie im Speisesaal zusammen. Die alte Dame begrüßte sie mit ruhiger Herzlichkeit, Sohn und Tochter mit unverkennbarer Freude, nur Miß Alice zeigte einige Zurückhaltung und hielt ein wachsames Auge auf jeden Blick und jedes Wort zwischen Sybille und Bob.
Man beschloß, noch einen halbstündigen Rundgang zu tun und dann weiterzufahren. Sybille sah zu Mrs. Burnham hinüber, ungewiß, ob sie sich jetzt schon verabschieden sollte. Aber die alte Dame nickte ihr beruhigend zu und nahm beim Verlassen des Hotels vertraulich ihren Arm, während die drei Jungen wie auf Verabredung vorausgingen. Sybille ging mit gesenkten Augen; nach wenigen Schritten hörte sie die gütige Stimme sagen: »Es wäre wirklich nett, wenn Sie diese kleine Reise mit uns machen wollten! Niemand von uns spricht eine fremde Sprache, das merkt man gelegentlich doch! Und dann sind meine Kinder so schrecklich selbständig und lassen mich oft allein – ich wäre froh, wenn jemand zu bemuttern da wäre! Hätten Sie Lust?« Sybille fand kein Wort zu sagen, sie hatte Mühe, Fassung zu bewahren. Mrs. Ethelred zwang sie mit einem linden Druck ihres Armes zum Weitergehen und sprach dabei: »Wir wollen bis nach Neapel hinunter, dann über Nizza und Südfrankreich nach Paris, zum Abschluß wieder nach Deutschland, weil wir etwa im Juni von Bremen aus heimreisen wollen – da könnten wir noch vorher bei ihrem Onkel Besuch machen und Sie vielleicht ganz mit hinübernehmen, ins Land Ihrer Mutter. Das wollen Sie doch?«
Nun war es eine andere Ergriffenheit, von der Sybille sich am Sprechen gehindert fühlte, der Schlußsatz galt nicht mehr für sie, die Frage, welchem Land sie angehörte, war entschieden, Amerika war es nicht. Das zu erklären, war nicht der Augenblick, es unausgesprochen zu lassen, drückte wie eine böse Heimlichkeit; sie versuchte vergebens über ihre Verwirrung wegzukommen, das Kinn begann ihr zu schlottern, sie mußte den Kopf senken. »Nun, nun!« mahnte Mrs. Ethelred neben ihr, machte sich vorsichtig frei und sah über das Weggeländer in die Schlucht hinunter. Sybille verstand den Wink, atmete krampfhaft tief ein und aus, zwei-, dreimal, fuhr sich mit dem Taschentuch über Augen und Nase, räusperte sich – so, nun ging es schon mit dem Sprechen. Mit zwei Schritten war sie neben Mrs. Ethelred und sagte: »Sie sind sehr gütig, ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll …« Da mußte sie wieder abbrechen.
Die alte Dame überzeugte sich, daß die Einbuchtung des Weges, an der sie standen, von keiner Seite eingesehen war – die Stelle war gut gewählt –, legte einen Arm um Sybilles Schultern und drückte ihr einen Kuß auf die Stirn. »Willkommen unter Ihren Landsleuten, mein Kind!« sagte sie leise und übersah es taktvoll, daß Sybille dabei fassungslos aufschluchzte.