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Der Waldhofer schwang sich in den federnden Sitz der Mähmaschine, schnalzte, und die Pferde zogen an. Nach wenigen Schritten senkte er den Schneidbalken, die Zähne griffen ein, und das Messer flitzte haarscharf durch das erste junge Gras im Obstgarten. Einstellung, hoch und tief, Ausschaltung – alles arbeitete tadellos. Der Bauer fuhr noch eine zweite und dritte Proberunde, dann hielt er vor dem Schuppen an, kletterte aus dem Sitz und sagte zu Othegraven, der ihm beim Ausschirren half: »Dös hätt i net denkt, daß So dös G'raffl no amal zsammbringen! Alle Achtung!«
Othegraven lächelte nur, Matthies aber, der nahebei die Fensterladen strich, blökte ein selbstbewußtes »Hö!«, das noch viel glanzvollere Leistung in Aussicht stellte.
Einfach war es aber wirklich nicht gewesen, die halbverbrannte Maschine nochmals in Gang zu bringen – Deichsel und Zugscheite verkohlt, von den Eisenteilen aber viele so ausgeglüht, daß sie keine Form mehr hielten. Othegraven hatte in bet kleinen Feldesse geschmiedet, gebogen und gehärtet und schließlich mit den inzwischen besorgten Ersatzteilen alles wieder zusammengebaut. Für den Waldhofer war es eine große Erleichterung, eine neue Maschine hätte er vorläufig nicht kaufen können. Auch der Schlepprechen und der Heuwender waren in Gang gesetzt, Othegraven stand groß da.
Matthies wieder arbeitete mehr fürs Auge. Der Neubau mit seinen hell gefirnißten Balkenwänden leuchtete stattlich genug – der wahre Glanz war aber doch erst darüber gekommen, seit die Fensterladen grün mit weißer Einfassung und die Türen braun mit Schwarz gestrichen waren. Die paar bunten Bauernblümchen auf der Innenseite der Laden machten sich übrigens ausgezeichnet, eine rechte Augenweide. Auch Matthies also wurde hochgeschätzt.
Am schwersten natürlich hatte es Sybille gehabt, ihr Bleiben war anfangs sogar zweifelhaft erschienen. In Bruck hatte sie sich ein derbes Arbeitsgewand und einen Rucksack besorgt, um nicht gar zu damenhaft mit dem Handtäschchen auftreten zu müssen. Auch hatte sie eingewilligt, sich als Othegravens Schwester einführen zu lassen, sehr erfreulich war es ja nicht, aber es vereinfachte vieles. Doch die fromme Lüge und aller gute Wille hatten zunächst vor dem Mißtrauen der Altbäuerin nicht bestehen wollen: ein Frauensleut, das so mit Burschen herumzigeunerte, konnte »nix G'naus« sein. Schließlich war knurrig ein Versuch bewilligt worden, mehr der beiden Burschen wegen, die sofort gezeigt hatten, daß sie »ihr Sach« wirklich verstanden.
Weiberarbeit gab es genug – Bettbezüge zu nähen, Laken zu säumen, Leibwäsche zu schneidern. Auch eine Nähmaschine war da, kein Prachtstück, sie hakte gern, Othegraven hatte sie schnell instand setzen müssen. Als dann die ersten Säume in dem schweren Hausleinen gelungen waren, hatte sich die Stimmung etwas gehoben, und Sybilles Geschick im Zuschneiden hatte ihr den endgültigen Sieg verschafft – keinen billigen Sieg, denn Rücken und Beine schmerzten von dem langen Sitzen an der Maschinenarbeit, und das Hantieren mit dem groben Leinen kribbelte in den empfindlichen Fingerspitzen nach. Überdies gab die scharfe Überwachung einen ganz anderen Begriff von Arbeit, die Altbäuerin belauerte jeden falschen Stich, hier ging es um Geldeswert, ganz anders als in der Nähstunde.
Von den beiden Jungen hatte sie anfangs, außerhalb der gemeinsamen Mahlzeiten, wenig gesehen. Sehr bald nach dem Abendessen gab der Bauer das Zeichen zum Schlafengehen, es wäre unnütz aufgefallen, wenn sie noch mit den beiden zusammengeblieben wäre, auch waren sie alle so herzlich müde, daß niemand auch nur eine Viertelstunde Schlaf hätte hergeben mögen. Die Jungen schliefen in der Sattelkammer, sie selbst in einem winzigen Raum neben der Küche. Der harte Strohsack und die rauhe Pferdekotze hatten ihr zunächst übel behagt, aber es war ja beschlossen, daß sie alles durchhalten wollte, sie hatte ihren Stolz darangesetzt.
Später jedoch, wenn es ihr wirklich einmal gar zu einsam werden wollte, war immer einer der Jungen zur Hand, mit einem aufmunternden Blick oder Wort, sie fühlte sich treulich gehalten in einer Gemeinsamkeit, die ihr bisher fremd gewesen war.
In der zweiten Woche, als alles schon mit mehr Ruhe im Geleise lief, hatte sie einmal während einer kurzen Feierabendrast das Gewissen gedrängt, Othegraven geradezu anzugehen, sie wollte, wenn es ging, keine Unklarheiten mehr, keine falschen Voraussetzungen: »Was seid ihr eigentlich so nett zu mir, beide? Habt mich hierher mitgenommen, und überhaupt … es könnte euch doch egal sein, was mit mir wird?«
Othegraven hatte sein Liedchen zu Ende gesummt und dann ganz obenhin erklärt: »Wenn man sieht, daß ein Mensch, noch dazu ein so verwöhntes Kind wie du, sich Mühe nimmt und sein Leben ehrlich anfassen will, da muß man helfen, das ist Ehrensache, besonders wenn man es einmal am eigenen Leibe erfahren hat, was so ein bißchen Hilfe ausmachen kann …«
»Ist es dir so schlimm gegangen?«
Doch darüber ließ sich Othegraven niemals aus, auch von Matthies war nichts zu erfahren. Sybille drängte nicht, sie selbst hatte ja ihre Vorgeschichte auch für sich behalten, dies schweigende Geltenlassen war gerade das Schöne an ihrer Kameradschaft. »Landsmännin« redete sie Matthies gern an, mit der spaßigen Feierlichkeit, die ihm eigen war, es berührte sie jedesmal ganz stark; daß sie sich einmal, wenn auch in höchster Not, Amerikanern gegenüber zu einer Art von Zugehörigkeit bekannt hatte, kam ihr unvorstellbar fremd vor. Und manchmal, ehe sie auf ihrem harten Lager in Schlaf versank, bedachte sie voll einer neuen Dankbarkeit, wie sie gerade durch die Fassung, die die Mutter ihrem letzten Wunsch gegeben hatte, zu dem Erlebnis der Heimat hingeführt worden war.
Eines Abends riefen die beiden Jungen sie beiseite und eröffneten ihr, sie wollten nun weiter, sonst werde ihnen die Zeit für die Adria zu kurz; hier auf dem Hofe sei es mit der Arbeit so ziemlich vorbei, zu nähen allerdings gäbe es noch einige Zeit – was Sybille denn nun im Sinne habe?
Und Sybille sagte ohne jedes Zögern: »Ja, ich denke, ich gehe mit euch – wenn ihr mich mitnehmt?« Das wollten sie gern und waren von der Bereitwilligkeit hocherfreut, wiederholten auch gleich den Reiseplan: in Graz das Visum besorgen, dann wandern bis zur Grenze und darüber hinaus, soweit deutsche Bauern saßen; dabei mußten sie so viel erübrigen, daß sie die Strecke durch den Karst in einem durchfahren konnten.
Sybille mußte an ein Kärtchen denken, das sie, getreulich aufbewahrt hatte und auf dem eine Adresse in Memel verzeichnet stand, eine in Jugoslawien.
»Kennt ihr Mavrana?« fragte sie plötzlich. »Bei St. Roch? Kommen wir da vorbei?«
Aber keiner der beiden wußte etwas davon, sie hatten nur die engste Umgebung der Hauptstrecke im Kopf, das wahre Ziel war ja die Adria. Matthies dehnte sich in Vorfreude: »Dort können wir baden, dann fahren wir mit den Fischern hinaus und fangen uns unsere Mahlzeiten selbst …« – »Und was uns übrigbleibt, verkaufen wir und bauen uns ein Haus!« ergänzte Othegraven. Ja, es konnte herrlich werden.
Nach Mavrana würde man unterwegs immer noch fragen können.
*
Beim Abschied von dem schönen Bauernhaus lernte Sybille das Gefühl kennen, das nur von gemeinsamer Arbeit gegeben wird und mit keiner andern Scheidestimmung zu tun hat: ein Stück Stolz ist darin und viel Trost, weil das getane Werk als ein Denkmal zurückbleibt; nun geh du deinen Weg, wie ich den meinen, wohin uns jeden die Arbeit ruft, doch bei der neuen Arbeit wird jeder von uns des alten Kameraden gedenken.
Der Hof lag licht und bunt in der Sonne, als sie zum letztenmal zurückblickten. Die zurückgeschlagenen Fensterladen zeigten ihre Blümchen, im offenen Schuppen sah man die hergerichteten Maschinen stehen, auf dem Bleichplan lag die neue Wäsche ausgebreitet – so hatte jeder der drei das seine vor Augen.
Die schöne Geborgenheit des Hofes rührte sie an, doch ihre starke Jugend ließ keine Wehleidigkeit aufkommen. Die Menschen dort waren in stolzer Selbstbescheidung abseits geblieben, während der Lockteufel Maschine viele andre vom Boden weg in die Steinwüste geholt hatte. Nun, da durch die Wendung der Dinge die uralte Lebenshaltung neu bestätigt war, half es nicht, zu trauern oder gar zu beneiden; die Ballung von Mensch zu Mensch hatte sich nicht bewährt, es galt, über den Boden, über die Arbeit, über das Volk einander zu finden, den Ausgleich zwischen Kopf und Hand mußte jeder für sich zu schaffen suchen.
»Hinter dem Bildstöckl rechts halten!« rief der Bauer hallend herauf, und sie winkten zurück. Er hatte ihnen einen Abkürzungsweg über das Vorgebirge gewiesen, der sie schneller nach Graz bringen sollte. Dabei kamen sie über die Laguder Alm, die der Waldhofer mit drei andern Bauern gepachtet hatte, dort war ein Wasserrad eingerichtet, das das große Butterfaß trieb, Othegraven sollte es nachsehen. Allerlei Reste von Pfosten und Brettern würden sie im offenen Stadel finden, Säge, Axt, Bohrer und Nägel in der Hütte, deren Schlüssel ihnen der Bauer mitgegeben hatte. Am nächsten Tage, einem Sonntag, wollte er nachkommen und die Arbeit übernehmen.
Der Weg war steil und steinig, bald brannte auch die Sonne herunter und strahlte von den letzten Schneebrettern zurück, zum Reden blieb nicht viel Atem. Othegraven führte, man hätte ihm den Flachländer nicht angemerkt, so stetig war sein Schritt.
Nach der zweiten Stunde hielten sie kurze Rast. Die Gruppe der Einödhöfe, von der sie kamen, war längst überriegelt, sie standen in der Höhe des letzten Waldgürtels, aus dem ringsum, so weit sie sehen konnten, die Almwiesen aufstrebten; weit vom Westen blinkten Hochgrate im ewigen Schnee.
Da standen die drei Menschen aus der Ebene, befangen in dem zwiespältigen Gefühl des Bergsteigers, dem Stolz auf die erzwungene Höhe und der Demut vor der aufwärts weisenden Begrenzung.
»Bei uns hat man's leichter«, meinte Othegraven, »am Meere ist dein Kopf mit eins neunzig Seehöhe schon der höchste Punkt!«
»Ja, ja – aber der Himmel ist weiter, manchmal liegt er mit allem Gewicht auf dir«, gab Matthies zurück.
»Ich glaube gar nicht, daß Berge und Ebene allein den Unterschied machen, ein Schwede oder Norweger wäre hier sicher auch fremd«, wandte Sybille ein. Othegraven nickte zustimmend: »Denen hier wächst alles leichter zu, Wein und Obst, die Sonne ist gnädiger!«
»Was bei uns kantig, ist bei denen rund«, schloß Matthies und malte Formen in die Luft, als stände er vor der Staffelei.
Dann stiegen sie weiter, gingen im Mischwald eine breite Mulde aus und kamen auf der jenseitigen Lehne langsam ins Freie; der schüttere Wald war nicht mehr durchforstet, aus Büscheln hatten sich immer die Stärksten hochgekämpft, die Gefährten verkümmerten zu ihren Füßen; wo aber, knorrig und windverdreht, ein Großer endlich gefallen war, da hatte sich gierige Jugend über ihn gestürzt und lebte von seiner Verwesung. Auf den Blößen moderten braun die Lattichblätter vom Vorjahre, von Schmelzwasser überrieselt. Das zottige Beerendickicht an den Rändern stand noch kahl, aber seine feinen Spitzen glühten schon zum Platzen von unverwüstlichem Lebenswillen. So viel schöne Freude war in der Luft, die drei jungen Menschen gingen wie verzückt.
Endlich lag inmitten der sonnigen Halde die Hütte vor ihnen. An den langgestreckten Stall aus Trockenmauer schloß sich ein winziger Vorbau aus wetterharten Balken.
Ein paar rauhe Steinstufen führten zu dem kleinen Söller vor der Tür hinauf, die außer ihrem Kastenschloß noch zwei Vorhängeschlösser an starken Eisenbändern verwahrten. Othegraven hatte lange zu rütteln und zu drehen, bis die rostigen Sperren nachgaben.
Dann kamen sie in den Wirtschaftsraum, Wohnküche, Käserei – alles in einem. Neben dem winzigen Kochherd war eine offene Feuerstätte, über der noch die rußigen Haken für den Käsekessel baumelten; noch ein Stück weiter trauerte verwaist der Betonsockel, auf den sommerüber die Zentrifuge aufgeschraubt war, Altes und Neues reichten sich die Hand.
Nebenan die Schlafkammer der Sennerin, ein Schrägen mit Strohsack unter dem vergitterten Fensterchen, mehr hatte darin nicht Platz.
Aus der Küche führte eine Tür in den Stall, es war mehr ein Unterstand für schlechte Tage, ohne Krippen und Ringe. Über der niedrigen Decke lag der Heuboden, zu dem ganz im Hintergrund eine Leiter hinaufführte. Othegraven stieg schnell hinauf und stellte befriedigt fest, daß noch genug altes Heu für ein Nachtlager da war.
Im Stall fanden sie auch die Rinne mit dem Wasserrad, offenbar für den Winter da eingestellt. Draußen mußten sie erst eine Weile suchen, bis sie die Anlage erkennen konnten: Von der Halde hinter der Hütte sprang ein Quellbächlein herunter, wurde durch einen hohlen Baumstamm nochmals hochgezwungen und sprudelte in den großen Trog, der als Viehtränke und Waschbütte diente. Ziemlich weit oben, etwa in der Höhe des Hüttendachs, war im Hang ein kleines Staubecken aus Rohsteinen eingebaut, mit zwei Auslässen, deren einer jeweils durch eine daumendicke Schieferplatte verschlossen werden konnte. Dort wurde die Rinne aus halben, flach ausgehöhlten Baumstämmen angesetzt, bog an der Hütte ab und führte unter dem Dach bis zu dem Wasserrad, dessen lange Welle durch ein Loch in der Mauer quer durch die Küche reichte. Der Stößel des großen Standbutterfasses brauchte nur oben in die Kröpfung eingehängt zu werden, dann tat das Wasserrad alles weitere.
»Ein uraltes Ding«, sagte Othegraven und stocherte mit dem Taschenmesser in dem bemoosten Holz, um die verfaulten Stellen herauszufinden. »Aber viel fehlt nicht, wir können es bestimmt bis morgen mittag schaffen.«
Matthies sah es mehr vom künstlerischen Standpunkt, ihm gefiel es, wie bescheiden da vom goldenen Überfluß gerade nur der Bedarf abgezweigt war und wie selbstverständlich sich die alte Technik in die Landschaft fügte: »Das butternde Wasserrad, das laß ich gelten, das verdirbt nichts! Aber wenn sie erst den Bach in Beton fassen und durch Eisenrohre herüberleiten, damit ja kein Tropfen verlorengeht, dann durch eine Turbine jagen und eine Dynamo dranhängen und die Sennerin liest bei elektrischem Licht Romane, während die Melkmaschine surrt – brrr! Dann ade, Almenrausch!«
»Noch ist es nicht soweit!« tröstete Sybille und holte sie in die Küche. In der Tür blieben die beiden Jungen andächtig stehen und genossen das hausfrauliche Walten: im offenen Kamin prasselte ein Feuer, Othegravens Feldkessel hing darüber und sang; darunter, auf eisernem Dreifuß, brutzelten Eier auf Speck in einer gewaltigen Pfanne. Auf dem Holztisch lagen die Vorräte bereit, die ihnen der Waldhofbauer zum Abschied mitgegeben hatte, ein Steinguttopf mit Butter und ein knorriges Schwarzbrot, ein Stück Geselchtes und eine Dauerwurst – es wirkte gewaltig, der Hunger sprang noch einmal verzweifelt auf, weil er sein Ende nahe sah. –
»Die gute alte Holzschnittmanier!« sagte Matthies verträumt und kürzte die Wurst um eine Handbreit.
»Klein, aber mein!« flüsterte Othegraven und schädigte das Geselchte.
»Gott segne es euch – aber es muß drei Tage reichen!« gab Sybille zu bedenken, während sie aus dem Feldkessel Tee einschenkte.
»Verschiebe nie auf morgen …«, meinte Othegraven mit vollen Backen. »Das gilt auch für die Sättigung!«
Matthies gackerte schallend, um die Eier mit Speck an sich zu locken: »Putt, putt, putt, putt! – Arme Dingelchen!« seufzte er dann wehleidig. »Hätten so süße kleine Kücken werden können! – Na, ist ja auch so ganz schön!«
Schließlich mahnte Othegraven zum Aufbruch. Sie hatten zu dritt fest anzupacken, um die klobige Rinne auf den gekreuzten Stangen hochzukriegen und das Wasserrad in Stellung zu bringen. Dann wurde, nachdem die schadhaften Stellen bezeichnet waren, alles wieder abmontiert und mit der Ausbesserung begonnen. Othegraven machte sich an das Wasserrad, dem einige Schaufeln fehlten, Matthies und Sybille aber sollten ein paar trockene Derbstangen spalten und die Hälften mit dem krummen Schnitzmesser aushöhlen. Das Spalten ging, beim Schnitzen aber mußten der Ehrgeiz und alle guten Geister helfen. Sie hatten das Werkstück mit schrägen Keilen auf einem Block festgeschlagen, dahinter saß Sybille und klemmte es krampfhaft zwischen Fäusten und Knien, doch der Span wollte meistens anders als das Messer.
»Ach, wäre mein Papa doch Wilder geblieben und hätte mich gelehrt, den Einbaum mit Feuer zu höhlen!« stöhnte Matthies und schlenkerte die Hand, an der er sich eben eine Blase aufgedrückt hatte. Langsam aber kamen sie voran; bei der zweiten Hälfte hatte Matthies den Einfall, den Kern zuerst herauszustemmen, dann griff das Messer leichter. Gegen Abend hatten sie vier neue Rinnenstücke und Othegraven sein Schaufelrad fertig, für den nächsten Tag blieb nur das Zusammenpassen.
Es wurde ein richtiger Feierabend, sie saßen vor der Hütte und sahen schweigend in die unendliche Klarheit, die oben in den felsigen Graten verglühte. Erst als die ersten Sterne aufglommen und der Feuerschein aus der offenen Küchentür hinter ihnen ihre Schatten tanzend ins Dunkel zu werfen begann, gingen sie in die Küche zurück und hielten ihr Mahl.
Danach setzten sie sich um das offene Feuer. Als der Teekessel zum erstenmal geleert war und Sybille den zweiten aufsetzen wollte, gebot ihr Matthies Einhalt und holte eine flachbauchige Flasche hervor, die er mit zärtlicher Gebärde beklopfte, ehe er sie reihum gehen ließ. Es war ein herrlicher alter Apfelschnaps, mild und glühend, der sofort den ganzen Raum mit dem Duft von überreifem Obst erfüllte. Der Bauer hatte ihn Matthies im letzten Augenblick zugesteckt, gegen die Nachtkälte! »Warum hast du denn nichts davon gesagt?« wollte Othegraven wissen, und Matthies verteidigte sich gekränkt: »Ich hatte genug zu tun, mich selbst zu beherrschen – aber ihn auch noch gegen euch verteidigen? Nein, das wäre über meine Kraft gegangen!«
Nach dem zweiten Umtrunk wurden sie schweigsam und sahen den Flammen zu, die mit wilder Beharrlichkeit die Wurzelkloben zerfraßen. Da ragte ein astiges Ende aus der Glut, dachte sich wohl zu retten, denn der Zug ging von ihm weg, doch ein Irrlicht und noch eins überliefen es züngelnd, das dritte biß sich schon einen Augenblick fest, ehe es verging, dem nächsten aber war der Ast verfallen, sie rissen ihn zu sich in die Schwerelosigkeit.
Othegraven, in der Mitte, saß tief versunken, Sybille sah, wie Matthies ihm die Hand auf die Schulter legte, als wollte er ihn aus einem Bann lösen. Doch es schien nichts zu fruchten, Sybille wußte längst, daß Othegraven viel Dunkles mit sich herumtrug, das ihn gelegentlich überfiel. In einer plötzlichen Eingebung, um sich selbst vor einem Druck zu retten, wie er schon auf Othegraven lastete, begann sie die Geschichte jener Nacht in der Jagdhütte zu erzählen, nicht als eigenes Erlebnis, nur so als ein Beispiel schicksalhafter Verkettung.
Matthies wurde sehr unruhig beim Zuhören und versuchte immer wieder sich mit Othegraven durch Blicke zu verständigen. Der aber starrte weiter in die Flammen, nur an der merkwürdigen Unbeweglichkeit seiner Haltung war die innere Spannung zu erkennen.
Sybille erzählte weiter, es war ihr plötzlich ein Ehrgeiz, Othegraven aus seiner Abgeschlossenheit zu locken, sie fand bewegliche Töne für die Not des Mädchens. Matthies zwinkerte ihr heimlich zu, vielleicht meinte er, sie sollte es gnädig machen, aber sie achtete nicht darauf, zielte nur auf Othegraven. Der zuckte nicht mit der Wimper, schließlich mußte sie sich besiegt geben mit einem ärgerlichen: »Aber wozu erzähle ich euch das – ist ja alles Unsinn!«
Eine Weile saßen sie stumm, Sybille innerlich böse, Matthies besorgt, da fing Othegraven, ohne seine starre Haltung zu ändern, langsam zu reden an, es klang seltsam unwirklich, wie aus dem Schlaf oder als spräche er zu den Flammen:
»Es ist alles Unsinn – das kann stimmen, aber anders, als du meinst … Was weißt du von den beiden, die da gejagt wurden – waren sie wirklich Verbrecher, Mörder – beide, oder einer von ihnen? Für so ein behütetes Bürgermädchen war es ja ganz schlimm, in die Sache überhaupt hineinzugeraten, das läßt sich denken – aber wie war es um die zwei bestellt, die Gejagten?«
Nun kam die Starrheit über Sybille, sie wagte sich nicht mehr zu rühren; über Othegravens vorgebeugten Rücken weg hielt Matthies die Augen auf sie gerichtet, in dringender Mahnung. Die langsame Stimme klang weiter:
»Wer waren die zwei? Da gibt es viele Möglichkeiten, zum Beispiel die, daß der eine, der wirklich Gejagte, an der Tat, für die man ihn verfolgte, vielleicht ganz unschuldig war. Aber der alte Mann, der da ermordet war, konnte sein Feind gewesen sein, ein Wucherer vielleicht, der Mensch hatte ihn im Zorn bedroht, vielleicht hatte er noch andere Beweise gegen sich, die Stimme des Volkes vielleicht, die ja nicht immer Gottes Stimme ist. – Der Mensch war gar nicht im Ort, als es geschah – auf Arbeitssuche vielleicht, oder zum Markt, auf Handelschaft, zwei, drei Tage weg. Da steht er feinen Steckbrief angeschlagen, 200 Mark Belohnung, vielleicht hatte er sein Mädel bei sich, das sich plötzlich versucht fühlte, das schöne Stück Geld zu verdienen. – Und im ersten Schreck ist der Mann geflohen, es kann wohl sein, daß ein einfacher Mensch gar nicht auf den Gedanken kommt, einen Irrtum der Behörden etwa zu widerlegen, nein, er denkt nur an Verhaftung, Handschellen und Ketten, an Verhör und Gefängnis. Da flieht er blindlings, trotz seiner Unschuld.«
Othegraven brach ab, es gab eine atemlose Pause, sogar das Feuer schien leiser zu brennen, dann sprach er weiter:
»So kann das mit dem einen Mann gewesen sein, den sie wegen Mordes suchten. Und der andre? Der, auf den kein Fahndungsbefehl paßte, wie der Wachtmeister sagte? Ein junger Mensch, nicht wahr? Wie konnte er nur so tief sinken, in Gesellschaft eines flüchtigen Verbrechers fremde Jagdhütten unsicher machen … ein finsterer Junge war es wohl.
Aber vielleicht war er gar nicht so schlecht, auch hier gibt es Möglichkeiten. Wie ist es denn, wenn über eine gute Bürgerfamilie, über eine altehrwürdige Kaufmannsfamilie, plötzlich der Ruin hereinbricht?«
Sybille zuckte zusammen, nun wußte sie, woher ihr der Name Othegraven so bekannt war, oh, der Othegraven-Skandal hatte Staub genug aufgewirbelt, sie mußte sich auf die Lippen beißen, um einen Ausruf zu unterdrücken, Matthies runzelte heftig die Brauen. Doch Othegraven schien nichts zu merken, er sprach weiter:
»Solange es Börsen gibt, werden auch Termingeschäfte gemacht, man kauft oder verkauft auf lange Sicht, aber der beste Weitblick kann ja trügen, schließlich ist es doch Glückssache. Der Chef einer alten Firma hat Pech gehabt und zu teuer eingekauft, einmal, zweimal. Da steht er die Möglichkeit, mit einer neuen Spekulation alles hereinzubringen, eigentlich dürfte es nicht sein, die Deckung fehlt – aber wie oft ist es so gemacht worden, wie oft wird es täglich gemacht! Wenn es gut geht, hört man eben nichts davon, das ist es. Geht es aber schlecht … Nun, es heißt ja, eine Krähe hackt der andern kein Auge aus – aber das ist auch nur so ein Sprichwort, ah! Und wie sie sich hacken! Da hat einer das gleiche getan wie tausend andre vor, neben, nach ihm – aber ihm ist es mißlungen, und schon sind sie über ihm, und das eigene schlechte Gewissen macht sie erst recht unbarmherzig … Hm! Das hat an sich nichts mit der Jagdhütte zu tun, natürlich nicht. Aber dieser verunglückte Kaufmann, dieser Bankrotteur, diese verfemte Krähe kurzum, kann doch einen Sohn gehabt haben, einen einzigen Sohn, für allen Glanz des alten Hauses erzogen … wie ist es mit dem? Die Mutter lange tot, gottlob, der Vater im Gefängnis, bei Verwandten und Fremden verschlossene Türen oder das gewisse kalte Mitleid, Gott schütze uns! Ein Weltuntergang im kleinen, so ein Junge kann wohl in Wut und Haß dahin kommen, daß er einfach lostippelt, die Straße lang. Unter seinesgleichen ist er verfemt, Geld hat er nicht, zum Auswandern etwa – was bleibt ihm viel?
Dann ist er irgendwo auf den Gejagten gestoßen, und der, selber voll Angst und Haß, hat doch noch ein echtes Mitleid für den Jungen aufgebracht, ein Erbarmen, Herrgott! – So haben die zwei da in der Hütte gehaust, immer auf der Lauer zwar, aber es war doch ein gewaltiger Trost für jeden, daß er nicht mehr allein war. Daß sie dem reichen Jagdherrn von den vielen Vorräten was nahmen, beschwerte sie nicht – ihnen hatte man mehr genommen, zu der Logik kommt man schnell, wenn einem Unrecht geschehen ist. Und was weiter mit ihnen werden sollte, das fragten sie sich lieber nicht, Geld hatten sie nicht, Arbeit gab es nicht …
Und dann brummt eines Nachts ein Auto an, sie hören Stimmen, ein Mädel dabei, nein, Polizei ist das nicht. Da springen sie aus dem Fenster, wie es längst besprochen war für solche Fälle, und wie sie das einsame Auto finden, kommt dem einen der Gedanke: Damit könnten wir heute nacht noch an der Grenze sein! Der Zündschlüssel steckt, sie fahren los, kurz vor der Grenze kommen sie an einen tiefen Tümpel, einen ersoffenen Steinbruch. Dort lassen sie den Wagen mit festgebundenem Steuerrad hineinfahren, damit er ihre Spur nicht verrät, und im ersten Morgengrauen schleichen sie sich über die Grenze und weiter ins Land …
Ja, so kann das gewesen sein. Und nach Wochen und Wochen, die sie sich mit allerlei Gelegenheitsarbeit durchgeschlagen haben, finden sie ganz zufällig in einer Zeitung eine kurze Notiz, daß der wahre Mörder jenes alten Mannes entdeckt und nach hartem Widerstand festgenommen wurde. Da lachen sich die zwei halb zu Tode, denn nun haben sie ja doch den Hütteneinbruch auf dem Gewissen und den Autodiebstahl – das hängt an ihnen, ganz ehrlich können sie nicht mehr werden!«
Als Othegraven verstummt, spricht Sybille unvermittelt weiter, sie ist erschüttert von der Doppelgesichtigkeit der Ereignisse und möchte das Bild vollenden, auch sie hat nun die entrückte Stimme: »Der Hütteneinbruch wurde sicher nicht angezeigt, das Mädchen sollte ja geschont werden. Das Auto war versichert und ist längst ersetzt, vielleicht könnte man später einmal die Versicherungsgesellschaft entschädigen. Das alles ist nicht der Rede wert.«
»Vielleicht nicht«, sagt Othegraven langsam. »Aber wenn so viel geredet ist, soll auch das noch gesagt sein: ob die zwei aus der Hütte angezeigt, erwischt, überführt werden oder nicht, das ist ganz einerlei: das Bewußtsein, daß sie einmal in der verbissenen Abwehr gegen die Gemeinschaft waren, das werden sie doch nicht mehr los. – Vielleicht waren das Mädchen und ihr Ritter doch in sehr ernster Gefahr, vielleicht haben die zwei Verfolgten einen Augenblick eine Versuchung gefühlt … Und das wird ja wohl der Haken sein, dieses grausige Erlebnis für Leute, die sich immer zu den Gerechten gezählt hatten, gefeit gegen jede verbrecherische Regung … na, und nun wissen sie doch beide, wie wenig der schöne Kitt zusammenhält, wenn es drauf ankommt …«
Da aber setzte sich Matthies zurecht und erklärte mit Würde: »Ich verstehe die beiden, das will ich bloß gesagt haben, und wer es ehrlich meint, der trinkt darauf eins mit mir!« Damit hob er die Flasche, trank und hielt sie vor sich hin. Sybille griff eilends danach, als könnte sie es nicht erwarten, die gute Meinung zu bekräftigen, tat ihren Zug und hielt sie Othegraven hin mit einem bittenden Blick. Und Othegraven tat ihnen Bescheid. Matthies rief ihm zu: »So ist's recht – und jetzt schnell noch einen Sonderschluck auf Scheherazade! Fang an!« Da blinzelte Othegraven über die Flasche weg zu Sybille hin, daß ihr ganz leicht und froh ums Herz wurde. Matthies warf Späne und Tannenzapfen ins Feuer, es prasselte auf und gab hellen Schein. Sybille sah bei einem flüchtigen Umwenden, wie ihre drei Schatten über die Hüttenwand wuchsen und geisterten, doch es blieb ein nichtiges Spiel ohne Drohung.
Gespräch kam danach keines mehr in Gang. Als das Feuer so weit heruntergebrannt war, daß es nur noch still glühte, ohne Flammen und Funkenwurf, da verwahrten sie es unter dicker Asche und wünschten einander gute Nacht. Sybille in ihrem Kämmerchen hörte die beiden oben sich in das Heu einwühlen, von dem hastigen Hin und Her rieselte feiner Staub herunter, manchmal drang auch der Lichtkegel einer Taschenlampe durch die Fugen der Decke. Doch nicht das leiseste Flüstern war zu hören, vielleicht wollten sie es dem Mädchen nicht antun, daß sie heimlich, nur zu zweit, die Geschichte durchsprachen.
Sybille glaubte Othegraven vor sich zu sehen, wie er stolz und eigenwillig auf dem Rücken lag und in das Dunkel hinaufstarrte, während Matthies zu ihm hinüberhorchte, in der doppelten Sorge, keine unnütze Weichheit zu zeigen und doch den Freund nicht ohne Beistand zu lassen. Prächtige Jungen beide, wahre Freunde – aber es gab noch eine kräftigere Art, sich mit den Erlebnissen auseinanderzusetzen. Und Sybille in ihrer Kammer fühlte den leisen, heimlichen Mädchenwunsch, nicht ganz so treulich geborgen zu sein, sich ein klein wenig verteidigen zu müssen, wenigstens gegen die eigenen Gedanken. Aber die blieben wohl so ruhig, weil sie ihr Ziel in der Ferne hatten, weit weg, sonst … Und mit einem Gnomenkichern wandte Sybille sich zum Schlafen.
Nach einer Zeit – sie hatte das Gefühl, lange und tief geschlafen zu haben –, schreckte sie auf, Nacht, Kälte, Fremde sprangen ihr ins Bewußtsein, dann ein Geräusch, ein hingehaltenes Zischen, das sie sich nicht zu deuten vermochte, sie hörte eine Bedrohung heraus, die sie tiefer als nur am Leben treffen wollte, eine Gewalt, die aus den letzten Dingen kam.
Da sitzt dieses Mädchen Sybille frostklappernd in der schneidenden Morgenkälte, die durch das offene Fensterchen dringt, horcht verzweifelt und kämpft mit der Versuchung, die Kameraden zu rufen, Schutz bei ihnen zu suchen. Doch da ist ihr noch eine Erkenntnis beschieden, ganz überraschend ist sie nicht, sie hat sie insgeheim lang genug mit sich herumgetragen: sie sieht die Grenzen der Kameradschaft und die erste Pflicht, allein fertig zu werden, solange es geht. Die beiden dort oben sind Kameraden – solange sie es vermeiden kann, wird sie nicht nochmals hilfeheischend vor ihnen stehen. Anders wäre es mit Joachim – bei ihm hätte sie die Hemmung nicht, vor ihm würde sie ihre Angst sogar ein wenig übertreiben, damit er den rechten Fürchtenicht und Schlagetot spielen könnte … ach, Joachim, Grobian, Schuft … Dummkopf! –
Das geheimnisvolle Zischen ist Augenblicke lang verstummt, nun braust es durch die Luft, knapp vor dem Fenster, prasselt, poltert, das Zischen klingt wieder auf, aber nur kurz, wird von Lärm übertönt …
Sybille rutscht auf ihrem Bett kniend bis ans Fenster vor, sie ist nicht das Mädchen, das sich mit verhüllten Augen vom Verderben überraschen ließe, sie will sehen, was droht. Doch schon der erste Blick, den sie heimlich am Fensterbalken vorbeischickt, nimmt ihr alle Angst, sie sieht mit steigendem Entzücken zu, immer noch kniend, wie ein Kind, das die Heinzelmännchen belauscht.
Denn dort draußen auf der Almwiese, zwischen den Schneeflecken, tanzen sie wirklich, die guten Männlein, die schwarzen Flatterkittel sind mit Weiß verbrämt, von den Köpfen leuchten grellrote Röschen. Da tanzen sie, schleifen, springen hoch, überschlagen sich in der Luft, und das Zischen – Sybille lacht lautlos über ihre dumme Angst – ist die Begleitung zu ihrem Tanz, sie eifern sich an, jetzt stimmen sie ihren Trutzgesang an: Kurruh – kukullu – kukullu – kukullu.
Birkhahnbalz – Sybille kann sich nicht satt schauen an dem lustigen Minnespiel; die Hennen, unscheinbar an den Boden gedrückt, sind ganz Spannung und feuern mit ihrem Locken die Bewerber an, die letzten ihrer Künste zu zeigen. Und die Schwarzmännlein werden es nicht müde, blasen, schleifen, springen hoch, landen auf gefächerten Schwingen und füllen die Atempausen mit ihrem Glöckeln: Kukullu – kukullu – kukullu …
Sybille fühlt ihren Atem schneller gehen, fühlt sich mit erfaßt von der Gewalt, die aus der lenzigen Erde zu gären scheint; die Luft ist erfüllt von Locken und Werben, von brünstiger Sehnsucht nach Zweisamkeit, von glühendem Lebenswillen, von einem Bewußt-Sein in der Schöpfung, ohne Gedanken …
Da flitzt, im Morgenlicht kaum zu erkennen, ein langgestreckter Schatten hinter einem Felsblock vor, gedankenschnell auf die tanzenden Schwarzmännlein los; die eine Henne warnt schrill, hebt sich auf – schon prasselt die ganze Artusrunde hoch, Damen und Ritter, der Fuchs ist zu kurz gesprungen, rings um ihn wolkt es von stiebenden Federn, schwarz und weiß, doch kein Braten hängt daran. Er speichelt sich den Flaum aus dem Fang, löst sich wie ein Verbrecher und schleicht davon, verärgert und beschämt. Die Hähne haben auf Wettersichten aufgebaumt und schicken ihren Trutzgesang dem abziehenden Feinde nach.
Als auch die Sonnenbalz vorüber ist, der helle Gruß an den Tag, springt Sybille vom Bett. Sie ist klamm vor Kälte, doch dem ist abzuhelfen: in der Küche scharrt sie unter der Asche die letzte Glut hervor, wirft ein paar Handvoll Späne darüber und bläst sie an; dann greift sie nach einer Wurzelbürste und rennt zum Laufbrunnen hinaus. Kniebeuge, Rumpfbeuge, Handstand, Brücke – dann der Entschluß: weg mit den paar Fähnchen und mit der Wurzelbürste gerieben, von unten nach oben und umgekehrt; ein Guß Wasser nach und trockengerieben, dann krebsrot, dampfend vor Tatendrang, in die Kleider und zurück in die Küche, wo das Feuer schon hell brennt.
Die beiden Jungen haben wahrhaftig alles verschlafen und müssen geweckt werden. Sybille stößt den Besen gegen die Decke, bis es oben lebendig wird. Dann stolpern sie die Leiter herunter, durch die Hintertür zum Brunnen hinaus, jammern und prusten, Matthies besonders verflucht jeden Morgen die Reinlichkeit, aber er wäscht sich doch. Und schließlich stürmen zwei krebsrote, heißhungrige Menschen in die Küche, wünschen guten Morgen und viel Frühstück.
Als Sybille ihnen von den Birkhähnen erzählt – nicht von der Angst beim Erwachen –, fragen sie betrübt, warum sie nicht geweckt wurden. »Ich wußte ja nicht, wie lange es dauern würde«, verteidigt sich Sybille. »Ich konnte mich einfach nicht losreißen, es war zu himmlisch!«
»Wenn das kein Wort ist!« brummt Matthies. »Himmlische und irdische Liebe!« Sybille läßt sich nicht beirren: »Und der verdammte Fuchs!« sagt sie.
Aber da hakt Othegraven ein: »Verdammt – warum? Der tut genau so seine Pflicht wie deine schwarzen Ritter! Werden und Vergehen, das eine kann ohne das andre nicht bestehen, was nicht leben kann, muß sterben!«
»Wer beim Balzen nicht aufpaßt, wird gefressen«, übersetzte Matthies.
Sybille saß mit schiefgehaltenem Kopf da und dachte nach, es siel ihr nicht ganz leicht, den Fuchs gelten zu lassen, mehr noch, auch ihn mit der gleichen Liebe zu umfassen. Matthies schien ihre Zweifel zu erraten, er fragte plötzlich: »Oder soll der Fuchs dir zuliebe Vegeterianer werden?« Da lachten sie alle zusammen.
Nach dem Frühstück wollte Othegraven gleich an die Arbeit, der Bauer konnte bald da sein und sollte wenn möglich alles getan finden. Matthies aber hielt ihn zurück und wollte noch etwas beschlossen haben, solange sie allein waren: Er sehnte sich nach seiner eigentlichen Arbeit, der Malerei, das Tippeln und Gelegenheitsarbeiten war wohl lustig, aber auf die Dauer kein Lebenszweck. Leinwand, Staffelei und Farben hatte er nach Graz vorausgeschickt, er wollte sie schleunigst beheben und dann durchfahren bis ans Meer hinunter, und wenn der letzte Pfennig vom Waldhofer dabei draufginge – ob sie nun da alle beisammenbleiben wollten?«
»Was fängst du noch mal davon an, Quatschkopp?« fragte Othegraven milde. »Es ist ja längst alles besprochen!«
»Ich meinte mehr dieses Mädchen hier, das Sonderpläne zu haben scheint«, deutete Matthies. Sybille wurde rot, der Junge entwickelte manchmal einen unheimlichen Scharfblick. Den Gedanken an Mavrana hatte sie wirklich mit keinem Hauch erwähnt. Darum widersprach sie auch mit Nachdruck jeder Trennung, nein, nein, natürlich wollten sie beisammenbleiben. Insgeheim fürchtete sie dabei ein wenig, mit der halben Lüge das Schicksal herausgefordert zu haben, doch schnell war die Zuversicht wieder da, die sie seit Tagen erfüllte, die ruhige Gewißheit, daß zwischen ihr und diesem verrückten Joachim noch alles gut werden würde, ja, daß die Lösung nahe sei.
Matthies faßte das Ergebnis der Besprechung zusammen: »Wenn der Bauer uns dabehalten oder zu Fremden weiterschicken will – da wird nichts draus! Wir marschieren kerzengrad nach Graz und von dort heidi! Abgemacht?«
»Abgemacht!« bekräftigten die andern und hielten sich dran. Als der Bauer eine Stunde später auftauchte, fand er seine Wasserkunst fertig zusammengebaut und im besten Gange. Sobald er sie lobend abgenommen hatte, wurde sie wieder im Schuppen verstaut.
Darüber war es Zeit zu einem Mittagmahl geworden, das der Waldhofer vorsorglich mitgebracht hatte, auch war da ein Himbeergeist, der ernste Beachtung verdiente; Sybille schloß sich freiwillig davon aus, der Duft allein stieg ihr zu Kopfe. Schließlich brachte sie der Bauer noch auf den Kamm hinauf, zeigte ihnen auf der jenseitigen Lehne die Hütte, in der sie die Nacht verbringen sollten, und wiederholte genau die Richtung für den folgenden Tagesmarsch.
Als dann das letzte Lebewohl unwiderruflich da war, ging es doch viel schneller damit, als sie alle gefürchtet hatten, zwischen dem Seßhaften und den Fahrenden mußte ja geschieden sein. Matthies hatte, bei aller Herzlichkeit, schon den Blick ins Weite, ihm brannten die Finger nach dem Handwerkszeug; aber auch die beiden andern verhehlten nicht die Vorfreude auf das Meer, es war nicht ganz die Besessenheit der Welschlandfahrer, die hätte sich Sybille kaum gestattet, eher der Sieg vertrauter Gewohnheit, die Berge waren auf die Dauer doch zu fremd.
Matthies reckte im Gehen drei Finger hoch: »In drei Tagen – paßt mal auf: sechs Stunden Arbeit, sechs Stunden Schlaf, die andern zwölf fischen, segeln, schwimmen, essen natürlich – ein Leben, sage ich!«
Hoch über ihnen pfiff der Wind in den Schrofen, doch sein Wehen drang nicht bis zu ihnen. Sie entliefen dem Berg.