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Wie für seinen sonstigen Tageslauf hatte Justizrat Hagen auch für seine einsamen Mahlzeiten ein festes Zeremoniell entwickelt, das mit Sybilles Abreise sofort wieder in Kraft getreten war. Mittags nach dem Obst servierte Peschke zugleich mit der Mittagszeitung eine ausgewählte Virginia auf silbernem Tablett und goß, während sein Herr sein Augenmerk zwischen Politik und Zigarre teilte, den Mokka ein. Dieser Mokka – ungezuckert, bitte! – mußte in der Tasse langsam erkalten, bis die Zeitung durchflogen und die Virginia halb geraucht war. Dann wurde die Tasse auf einen Zug geleert und niedergesetzt; Zeitung und Zigarre übernahm Peschke und trug sie beiseite. Der Justizrat nämlich war der Überzeugung, daß nur die erste Hälfte einer Virginia rauchbar sei; Peschke teilte diese Ansicht nicht, ließ sie aber schweigend gelten, weil er die bewußte zweite Hälfte während der Mittagsruhe seines Herrn selbst zu rauchen pflegte. Zigarren – oder sonstiges – nehmen kam für Peschke natürlich nicht in Frage. Abgelegte Zigarren aber, Stummel sozusagen – ich bitte sehr! Übrigens benutzte Peschke seine eigene Bernsteinspitze dazu.
Ausgehen allerdings sollte sie nicht, denn eine kalte Virginia, nochmals angezündet, schmeckte natürlich ganz anders als eine einfach weitergerauchte. Darum war es wichtig, daß der Justizrat mit dem Schluck Mokka auch gleich ins Schlafzimmer ging, um sich dort hinzulegen. Peschke begleitete ihn, deckte ihn sorgfältig zu, nahm etwaige Weisungen entgegen und kam gerade rechtzeitig ins Eßzimmer zurück, um die Virginia auf ihrem kleinen Silberträger noch qualmend vorzufinden.
So sollte es sein – ein Verstoß gegen diese Ordnung wurde von den Beteiligten geradezu als ein Riß im Weltgefüge angesehen.
Eine Woche etwa nach Sybilles Abreise gab es einen solchen Riß: sobald der Justizrat die geleerte Mokkatasse niedergesetzt hatte, meldete Peschke tief gekränkt: »Es ist, bitte, der Herr Homilius hier. Er wartet drüben im Wartezimmer, bitte. Schon eine ganze Weile, bitte.« Und nach einer Pause tiefsten Schmerzes noch den Nachsatz: »Ich wollte, daß der Herr Justizrat noch in Ruhe speisen kann, bitte. – Jawohl, bitte.«
Der Justizrat stieß ärgerlich die Virginia in die Aschenschale, daß die schöngepflegte Glut zerstob. Peschke sah es und wurde davon nicht freudiger. Auf den fragenden Blick seines Herrn erwiderte er im Grabeston: »Es wird wegen der Vorladung sein, bitte.«
»Vorladung?« schnaubte der Justizrat. »Was für eine Vorladung?«
»Die für das gnädige Fräulein gekommen ist, bitte. Vielleicht, bitte.«
»Für meine Nichte? Wann denn?«
»Heute früh, bitte. Vom Gericht, bitte.«
Nun sprang der Justizrat so heftig auf, daß Peschke hüsteln mußte vor Schreck und nur zögernd herausbrachte: »Ich wollte, bitte, daß der Herr Justizrat, bitte …«
Aber es zeigte sich, daß dem Justizrat die Sache mit der Vorladung eben doch wichtiger war als alles andere; er stürzte aus dem Zimmer, ehe Peschke auch nur daran hätte denken können, ihm die Tür zu öffnen. Peschke blieb zurück, spielte verträumt mit der verdorbenen Zigarre und nickte düster mit dem Kopf, als aus dem Herrenzimmer, nach einigen unverständlichen Einleitungsworten, die Stimme des Justizrats in größter Erregung herüberklang: »Es ist einfach unqualifizierbar, wie du dich benommen hast! Und das sag ich dir: wenn es zu einem Eklat kommt, dann sind wir geschiedene Leute!«
Eine leise Erwiderung war nicht zu verstehen, sie wurde sofort abgeschnitten durch die Stimme des Justizrats: »Kein Wort weiter – wir haben nichts mehr miteinander zu reden!« Aber so leicht war der junge Homilius nicht abzutun, nun erhob auch er die Stimme: »Ich lasse mich nicht so fortjagen, Onkel Hagen, du mußt mich anhören! Der Wachtmeister hatte mir doch ganz bestimmt versprochen, daß er Sybille in seiner Meldung nicht erwähnen will, es war ja gar nicht leichtfertig von mir, daß ich mich darauf verließ!«
»So – und wie ist Sybilles Name dann doch in die Akten geraten?« Eine kurze Pause, dann etwas kleinlauter der junge Homilius: »Da hat eben die Versicherungsgesellschaft dazwischengefunkt mit ihrer Diebstahlsanzeige; sie hat bei der Polizei nachgefragt, und da hat es der Wachtmeister wohl mit der Angst gekriegt und Sybille doch genannt!«
»Und wer hat die Diebstahlsanzeige gemacht?« fragt der Justizrat.
»Ich natürlich«, sagt der junge Homilius.
»Und warum?« wieder der Justizrat. Peschke fröstelt, so eiskalt ist die Stimme. Aber der junge Homilius scheint ja nichts zu merken, er nimmt sogar einen Anlauf zu etwas wie Überlegenheit: »Aber, lieber Onkel Hagen, das mußte ich doch tun innerhalb vierundzwanzig Stunden – ich konnte den Wagen doch nicht einfach verloren geben!«
»So – den Wagen nicht – aber Sybilles guten Ruf, ja? Schöne Ehrbegriffe hast du!«
Nun möchte der Junge auch wieder heftiger werden, er sagt scharf: »Sybilles guten Ruf will ich jederzeit wiederherstellen! Und über meine Ehrbegriffe verbitte ich mir jedes Urteil!«
Aber der Justizrat, der milde, ruheliebende Herr, ist wie ausgewechselt, er höhnt, wie es Peschke nie für möglich gehalten hätte: »Das Urteil wirst du dir nicht verbitten können, mein Junge, das ist im Namen aller anständigen Menschen gesprochen! Das mit dem nächtlichen Baudenausflug mag noch Ulk gewesen sein, obwohl ich auch da nicht ganz sicher bin. Nachher aber, als die Zufälle sich so überstürzten, da hast du Sybille ganz zielbewußt in die Zwangslage hineinmanövriert, dich zu heiraten. Und auch das nicht aus übergroßer Liebe, bewahre, sondern weil du mit ihrem Geld eure wacklige Bank sanieren willst – und dazu ist das Mädel zu gut –, es war infam von dir, nichts weiter! Und helfen wird es dir auch nichts, du kriegst Sybille nicht, ich helfe ihr durch! Schluß jetzt, Herr Homilius! Wir sind fertig!« Ein paar gestammelte Worte, sofort nochmals die Stimme des Justizrats: »Schluß, sage ich! Abtreten!« Und ein wütendes Klingeln. Peschke stürzt vor und kommt gerade zurecht, Herrn Homilius jun., einen arg zerknitterten Gottfried Homilius, hinauszubegleiten. Als er die Flurtür hinter ihm zudrückt, zischt er ein giftiges »Jawohl, bitte!« durch den Spalt, das zeigen soll, wie sehr er den Standpunkt seines Herrn teilt.
Als Peschke zurückkommt, steht der Justizrat immer noch im Herrenzimmer, den Blick starr zur Tür gerichtet. Peschke bleibt stehen und meldet mit einem Kopfrucken: »Bitte!« Der Justizrat sagt mit einer unbestimmt nachweisenden Handbewegung: »Der Mensch kommt mir nicht mehr ins Haus! – Wird nicht mehr vorgelassen!«
»Nein, bitte!« sagt Peschke.
»Auch nicht telephonisch!«
»Schon gar nicht, bitte!«
Eine Pause. Der Justizrat steht immer noch regungslos, also muß es auch Peschke tun, er erstarrt geradezu und verfolgt unter halb gesenkten Lidern hervor das Mienenspiel seines Herrn. Nun scheint der Justizrat zu einem Entschluß gekommen: »Peschke, Sie wissen wohl schon halbwegs, was geschehen ist?«
»Ich kann mir schon etwas denken, bitte«, sagt Peschke.
»Natürlich hat meine Nichte auch einen Fehler gemacht!«
»Dazu möchte ich lieber gar nichts sagen, bitte«, bringt Peschke hervor, oh, er ist so voll Bitterkeit, finge er zu reden an, dann käme Endgültiges zutage über dieses Mädchen und alle andern schlechthin. »Nein, bitte«, sagt er noch.
»Ist vielleicht besser«, meint der Justizrat, es klingt fast wie eine Warnung; »denn verschiedenes wissen Sie eben doch nicht! Ich war beim Untersuchungsrichter, der die Ermittlung in der Mordsache leitet, und stellte ihm vor, daß Sybille ja auch nicht mehr auszusagen hätte als der junge Homilius allein und daß also auf ihre Vernehmung verzichtet werden könnte. Und der Richter war durchaus verständnisvoll und meinte, wenn der Name aus der Polizeimeldung fortbliebe, so werde er es auf sich beruhen lassen. – Nun sollte der Junge die Sache mit der Polizei regeln – eine einfache menschliche Bitte, die der Wachtmeister bestimmt erfüllt hätte –, statt dessen hat mir der Kerl alles infam verpfuscht!«
»Jawohl, bitte«, murmelt Peschke.
»Das ist schlimm für das Mädel, Peschke!« Doch Peschke antwortet nicht. Der Justizrat spricht weiter: »Sie hat eine Dummheit gemacht – aber die Strafe ist zu hart! Lebenslänglich verheiratet, Peschke!« Peschke bleibt immer noch stumm, er hat seine persönliche Ansicht über die Härte von Strafen gegen das weibliche Geschlecht. Der Justizrat scheint es nicht zu beachten, er spricht jedenfalls so, als könnte es nur eine Ansicht über den Fall geben:
»Peschke, ich bin entschlossen, dem Mädel zu helfen. Sobald sie wieder im Hause ist, zeige ich mich überall mit ihr, gehe auch mit ihr zu Gericht, damit gar kein Zweifel darüber aufkommt, daß ich ganz auf ihrer Seite stehe. Verstanden, Peschke?«
»Jawohl, bitte. – Der Herr Justizrat wird alles schon am besten wissen, bitte!«
»Das hoffe ich, Peschke. – Ich spreche mich selbst nicht frei von Schuld, habe mich zuwenig um das Mädel gekümmert, habe sie wohl zuviel sich selbst überlassen …«
»Jawohl, bitte!« sagt Peschke unvermittelt. Der Justizrat sieht ihn starr an, geht auf ihn zu und sagt: »Das wird anders, Peschke!« und ist draußen.
Peschke murmelt erschüttert: »Jawohl, bitte!« Es klingt, als hätte er die Verkündigung seines Todesurteils entgegengenommen. Dann geht er aufseufzend seinem Herrn nach.