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IX

Schon nach den ersten Tagen der Weiterreise begann es Sybille heimlich zu bereuen, daß sie gleich im ersten Jubel an Onkel Hagen geschrieben hatte, sie sei auf einer Autoreise mit amerikanischen Freunden und werde erst nach ihrem Geburtstag nach Hause kommen, falls die leidigen alten Geschichten bis dahin endlich begraben seien. Und der Onkel möchte doch nicht böse sein und keinesfalls besorgt, sie sei in den allerbesten Händen und sehr glücklich.

Das Glück hielt nicht ganz ungetrübt an. Die alte Dame allerdings blieb unverändert gütig, immer bestrebt, jede Erinnerung daran zu verwischen, unter welchen Umständen Sybille in die Familie gekommen war. Wo immer sich Gelegenheit dazu bot, wurde Sybille als »girl-friend« vorgestellt, man konnte glauben, sie sei schon aus Amerika mitgekommen.

Auch Helen war gleichmäßig herzlich, nachdem sie anfangs abgewartet und geprüft hatte, ob Sybil, wie sie nun hieß, auch » a good sport« wäre. Ja, mit Mutter und Tochter ging es ausgezeichnet, die Schwierigkeiten lagen anderswo.

Da war Bob vor allem – groß, langgliedrig, knochig; hellblaue Augen, blondes Haar – ach ja, daran fehlte es nicht, aber es brachte Sybille nur noch schmerzlicher zum Bewußtsein, daß sie gerade hierin doch sehr verwöhnt war, oh, endgültig verwöhnt, nie wieder würde ein blonder Schopf so wehen wie jener eine, nie wieder blaue Augen so unwiderstehlich frech blitzen können. Ein sauberer, netter Junge, dieser Bob – warum konnte er nicht Kamerad bleiben, warum mußte er sich so kälbermäßig verlieben, daß er aus Kulleraugen und allerlei Pennälergetue gar nicht mehr herausfand! Es hatte ihn wohl bezwungen, daß Sybille ihn nicht herumkommandierte, als besseren Chauffeur, er war ja nicht verwöhnt, der Gute. Nun seufzte er, wurde rot und wußte mit Händen und Beinen nichts Rechtes mehr anzufangen.

Sybille behielt sich untadelig in der Hand, setzte dem stummen Flehen eine gleichbleibende Kühle entgegen, ermutigte nie auch nur mit einem Blick, nein, sie hatte sich nichts vorzuwerfen, Mutter und Schwester des unglücklichen Knaben gestanden es stillschweigend zu.

Alice aber, der erste »girl-friend«, war andrer Ansicht. Für sie schien es festzustehen, daß diese Ausländerin mit unlauteren Mitteln hinter Bob her war, den sie selbst doch als ihre Beute betrachtete. So lauerte sie von früh bis spät und begleitete die harmlosesten Zufälle mit Hüsteln und bösen Blicken. Für Sybille war dieser ewige Vorwurf von Männerjagd schwer zu ertragen, aber es gab kein Mittel, ihm zu entgehen. Alice, selbst Gast, hütete sich vor offenem Krach, und die vielen kleinen Nadelstiche ließen sich nicht nachweisen.

Sybille wußte übrigens durch Helen, daß Alice sich mit Bob aller Voraussicht nach verloben würde, sobald er mit dem Studium fertig und in die Anwaltspraxis von Alices Vater eingetreten wäre. Die Familien und alle Verbindungen paßten gut zueinander, überdies hatte es sich Alice in den Kopf gesetzt, den Jugendfreund zu heiraten. Seither war Sybille doppelt auf ihrer Hut.

Die Reise ging in langsamen Etappen weiter, Mrs. Ethelred hielt darauf, die Landschaft nicht im Blitztempo zu durchbrausen, sondern an irgendeinem schönen Punkt vielleicht auch zwei, drei Tage Aufenthalt zu nehmen. »Das gibt Kraft für die vielen Sehenswürdigkeiten in den Städten«, erklärte sie. So fuhren sie in vielen kleinen Abschnitten den Semmering hinauf und machten auf der Paßhöhe eine mehrtägige Rast. Als es an die Weiterfahrt ging, setzte sich Alice ans Steuer, die Mädchen wechselten häufig mit Bob, es war nicht weiter auffällig. Bob jedoch hatte kurz zuvor Sybille angeboten, die Talfahrt zu steuern. Nun gab es ein kurzes Hin und Her, das Alice maßlos ergrimmte. Sie vergaß sich bis zu einem halben Fluch, von dem Mrs. Ethelred fast Zustände bekam. Sybille trat sofort zurück und setzte sich zwischen Mutter und Tochter in den Wagen. Daß aber Bob diese Nachgiebigkeit mit einem langen Blick bedauerte, machte Alice vollends rasend. Sie fuhr wie der Donnergott den Berg hinunter und packte den Wagen erbarmungslos an. Wurde das Tempo zu toll, dann knallte sie beide Bremsen hinein und wetzte um die scharfen Kehren, daß das Differential wie ein Gefolterter aufkreischte. Als nach einem besonders wilden Stücklein Bob warnend vorbrachte: »Na … ich sage …!« fauchte sie so giftig zurück, daß Mrs. Ethelred mit einem milden »Nun – Alice!« Ruhe stiften mußte.

Aber diese Besserung hielt nicht lange an, kaum war sie, hinter Mürzzuschlag, in sanfterem Gefälle, wo der Wagen etwas Gas vertrug, da ging es wieder an mit Losjagen und scharfem Bremsen. Endlich brachte eine scharfe Rechtskurve das Verhängnis; sie lag fast eben, Alice hatte sie mit Vollgas angegangen und erst im letzten Augenblick abgebremst. Da gab es einen scharfen Knall, beim neuen Gasgeben gehorchte der Wagen nicht mehr und wurde bis an den Straßenrand hinausgetragen. Bob mußte ins Steuer greifen, Alice schienen die Kräfte verlassen zu haben. Als sie mit angezogener Bremse endlich standen, wandte sich Bob ohne sonderliche Erregung und sagte, halb zu Alice, halb zu den andern: »Differentialbruch – ich hab' es kommen sehen!« Mrs. Ethelred hatte ein vielstufiges »Oh!«, den phonetischen Notbehelf in schwierigen Lagen, Helen schwieg, Alice aber tat etwas hysterisch, mit einem Lachen, das mehr Schluchzen war, Sybille bedauerte, daß niemand ihr einige Ohrfeigen gab, wenigstens leichtere, bei dieser Talfahrt war es um Kopf und Kragen gegangen.

Bob stieg aus und prüfte die Lage – den Wagen nicht; er war seiner Diagnose sicher. Sie standen auf einer Gleichstrecke, die eine Bergmulde auskehrte und eben, vielleicht sogar etwas steigend, zu einem Dorf auf der andern Seite hinüberführte, wo dann das Gefälle wieder weiterging. Bis dorthin also mußten sie sich schleppen lassen und konnten dann vielleicht im Leerlauf noch zu einem größeren Ort kommen.

Bob war eben dabei, sich nach ein paar erklärenden Worten auf den Weg zu machen, als zwei junge Burschen daherkamen, die sie kurz zuvor überholt, doch über Alices Fahrkünsten nicht weiter beachtet hatten. Beide in der Landestracht, schiefe Filze auf dem Kopf, unter der kurzen Wichs derbe Wollstrümpfe und schwergenagelte Halbschuhe; statt der üblichen Lodenmäntel aber trugen die beiden Windjacken, dazu breite Koppelriemen umgeschnallt, die auch durch die Träger der gewaltigen Rucksäcke liefen. Gesichter, Hände und Knie waren lohfarben gebeizt. Zähne und Augen blitzten um die Wette bei dem sauber zweistimmig gepfiffenen Marschlied.

Kurz vor dem Wagen machten sie halt, und der größere, ein Blonder mit hellen Augen – »Gibt es nur noch Blonde?« fragte sich Sybille, »sie verfolgen mich!« –, fragte in sehr anständigem Englisch: »Können wir etwas helfen?«

Bob war mißtrauisch, die Damen aber schienen die Ablenkung zu begrüßen, vielleicht kam es auch daher, daß die beiden Jungen wirklich gut anzuschauen waren; so sagte Helen: »Ja … ich weiß nicht … wenn Sie so freundlich sein wollen?« Sybille hatte ein kurzes Kameradschaftsnicken, Mrs. Ethelred ein vielfarbiges »Oh!«, Alice aber entschied den Fall, sie sprudelte hervor: »Nun, wir können wirklich Hilfe brauchen, irgendwas ist kaputt gegangen – meine Schuld, müssen Sie wissen!« Dazu schoß sie ein Lächeln und einen Blick ab, wie sie sie von Sybille und Bob nie erduldet hätte; doch hier ging es ja um einen Vorschuß an freiwillige Helfer, überhaupt war nicht alles mit einerlei Maß zu messen.

Bob mußte sich zu einer Auskunft bequemen: »Differentialbruch … müssen abgeschleppt werden!« knurrte er. Der Blonde tauschte mit seinem Kameraden einen Blick und meinte: »Schleppwagen bekommen Sie dort drüben sicher keinen, vielleicht nicht einmal ein Gespann um diese Tageszeit. Und warum sollen die Damen hier solange frieren? Wir können den Wagen bis ins Dorf schieben!« »Wundervoll!« rief Alice. »Wirklich nett!« sagte Helen. Sybille nickte. Mrs. Ethelred machte »Oh!« Da blieb für Bob nur Zustimmung. Übrigens hatte auch er schon festgestellt, daß die Fremden bestimmt keine gewöhnlichen Landstreicher waren.

»Na, denn wollen wa mal!« sagte der Blonde, schnallte Koppel und Rucksack ab und verstaute sie ohne weiteres auf dem leeren Vordersitz. Sein Gefährte tat ihm nach; Sybille und Helen sprangen sofort aus dem Wagen, vor ihnen noch Alice; sie erklärte, daß sie keinesfalls steuern, sondern mitschieben wolle, das sei die geringste Buße, die sie verdient habe; nun könne ja Sybill fahren! – Helen aber ließ es nicht zu und stieg mit einem verweisenden Blick auf die Freundin in den Führersitz. Inzwischen war auch Mrs. Ethelred ausgestiegen, Alice hätte sich gern in Szene gesetzt und die Verteilung kommandiert; die Fremden aber beachteten sie nicht sonderlich und verständigten sich durch wenige Blicke mit Bob. Der stemmte sich rückwärts mit den Schultern gegen den Koffer, die Fremden faßten jeder zu einer Seite an die Türen, für die Mädchen blieb der Griff an die Vordertüren oder Kotflügel; doch ehe sie noch richtig angefaßt hatten, rollte der Wagen schon, die drei Jungen schoben ihn mühelos. Zwischen den ersten Dorfhäusern ging es allerdings schwerer, über Kopfsteinpflaster und Wasserschläge, da mußten die Mädchen doch noch dran, aber nach knapp hundert Metern hielten sie vor dem Gasthof Patscheder, einem verwitterten Holzbau mit rundlaufender Altane auf einem Sockel von Natursteinen. Die Wirtin, kugelrund, mit dicken Zöpfen um den Kopf und Silberknöpfen an dem Wolljanker und dem rotweiß gewürfelten Dirndlkleid, kam zur Begrüßung in die Tür. Mrs. Ethelred verlangte Tee – nein, Tee gab es nicht, aber ein guter Kaffee konnte rasch fertig sein, dazu ein Guglhupf oder Mohnstriezel. Hier versagte Sybille als Dolmetscher. Mrs. Ethelred lud die beiden Helfer freundlich ein, und sie nahmen mit einer knappen, lächelnden Verbeugung an, die aus keiner schlechten Kinderstube kam, wie Sybille für sich feststellte. Dabei nannten sie ihre Namen, norddeutsche Namen, zu Sybilles Freude. Der eine kam ihr sehr bekannt vor: Heinz Othegraven, so hieß der Blonde. Der andere nannte sich Jan Matthies.

Die Schankstube wirkte heimelig trotz ihrer Größe; drei kleine quadratische Fenster an der Längs-, zwei an der Stirnseite gaben kein allzu grelles Licht, das durch die dunkle Balkendecke weiter gedämpft wurde. In der einen Ecke ragte ein ungeheurer grüner Kachelofen, ein Turm der Zuversicht; vor der rundlaufenden Wandbank standen, bald quer, bald lang, die Tische, manchen fehlten Splitter im Holz, die Beine waren geflickt oder erneuert, hier mochten Stürme getobt haben.

Die Wirtin ließ den großen Ecktisch im Herrgottswinkel decken, mit der gut bäuerlichen Festlichkeit an Hausleinen, alter Majolika und geblasenen Gläsern, die in Damast, Porzellan und Kristall so schwer zu erreichen, geschweige denn zu übertreffen ist. Mrs. Ethelred genoß das Bild mit hoher Freude, Alice aber hätte gern alles gekauft, hier war ein Unterschied nicht nur zwischen zwei Generationen, mehr noch im Herkommen. Mrs. Ethelred zuckte ein wenig mit den Brauen, wie bei einem falschen Ton, als Alice auf die Allgewalt des Dollars pochte. Sybille überraschte einen Blick des Einverständnisses zwischen den beiden Fremden und beteiligte sich mit einem Nicken daran, auf das sie aber von Alice gleich mit einem schrillen Anruf festgenagelt wurde. Alice saß mit glitzernden Augen da, man merkte es ihr an, daß sie einen Giftpfeil versenden wollte. »Wir haben merkwürdiges Glück mit unseren Reisebekanntschaften«, begann sie. Da aber nahm Mrs. Ethelred die Führung des Gesprächs mit einem Nachdruck in die Hand, der nicht mißzuverstehen war: »Ja, ich freue mich sehr, daß wir überall so nette Menschen gefunden haben, das alte Land hat sich uns von der besten Seite gezeigt!« Während Alice sich errötend über ihre Tasse beugte, wandte sich die alte Dame den Fremden zu: »Sie sind Österreicher?« »O nein!« lachte Othegraven, der englische Wortführer. »Wir sind Reichsdeutsche, mein Freund aus Hannover, ich aus Bremen, wir studieren aber beide in München.« – »Oh – Sie studieren!« rief die alte Dame mit höflich gedämpfter Überraschung, auch die Mädchen horchten auf, und Bob hatte ein brüderliches Grinsen. Othegraven nickte unbefangen: »Jawohl, mein Freund Matthies ist Maler, und ich bin Techniker, Maschinenbauer, halb fertig. Wir wollen in den Semesterferien einmal nach Jugoslawien hinunter, mein Freund wegen der Landschaft, ich wegen der neuen Kraftwerke, da haben wir Österreich und die Steiermark gleich mitgenommen.« Sybille lachte begeistert, Bob stimmte ein, Helen rief: »Oh, wie sehr interessant!« Mrs. Ethelred fragte weiter: »Aber Sie wandern doch nicht den ganzen Weg?« – »Nein, manchmal setzen wir uns in ein Lastauto, oder wir fahren gar ein Stück mit der Eisenbahn …« – »Tramps also«, stach Alice dazwischen, sie mußte sich bemerkbar machen. Doch nun wurde es Bob zuviel, er verlor seine übliche Gutmütigkeit: »Unsinn!« schnarrte er zu Alice hinüber, »viele meiner Kameraden reisen genau so und sind doch keine Tramps! Man lernt sehr viel dabei, es ist überhaupt ein besonderer Ehrgeiz, zu zeigen, daß man sich selbst fortbringen kann!« »Ein Ehrgeiz?« warf Alice hin, »ein Ehrgeiz?« Nun mischte sich Sybille ein, es wäre ihr vor den Landsleuten zu beschämend gewesen, länger zu schweigen: »Es ist jedenfalls nicht so schrecklich langweilig, wie wenn man nur in dem warmen Nest sitzenbleibt, das die Eltern einem zurechtgemacht haben!«

Alice nahm den Handschuh sofort auf: »Nun, diese Gefahr haben Sie, liebe Sybil, ja vermieden, ich verstehe Ihre Sympathie!«

Sybille hatte ihre Tasse ergriffen, nun mußte sie sie leise klirrend wieder hinsetzen, eine bittere Wut durchzitterte sie bis in die Fingerspitzen. »Jetzt zu Hause sein«, dachte sie, »und dem Stück da drüben richtig hinausgeben können!« Dabei hielt sie die Augen gesenkt, weil sie sich zu verraten fürchtete. Als sie, durch die Gesprächspause stutzig gemacht, wieder aufsah, konnte sie eben noch bemerken, wie Bruder und Schwester mit roten Köpfen zu Alice hinüberfunkten, während Mrs. Ethelred den beiden Deutschen die Kuchenschüssel anbot und dabei aus dem Augenwinkel ein kleines feines Lob für Sybilles Beherrschtheit spendete.

Bob rettete sich in die Sachlichkeit: »Wir müssen uns entscheiden, was geschehen soll«, meinte er. »Man könnte ja versuchen, im Leerlauf hinunterzufahren, bis in den nächsten größeren Ort. Wenn aber eine noch so kurze Flachstrecke kommt, sitzen wir eben unterwegs fest!«

»Darf ich einen Vorschlag machen?« mischte sich Othegraven ein. »Wir können doch das Differential hier ausbauen, dann fahren Sie mit dem Zug nach Graz und besorgen sich Ersatz. Wir wollen beim Ausmontieren gern mithelfen, wenn es Ihnen recht ist!«

Bob nahm dankbar an, und sie zogen zu dritt ab. Gleich darauf hörte man sie draußen am Wagen hantieren und ihn unter die große Toreinfahrt schieben. Mrs. Ethelred wollte nicht im Zimmer warten und schlug einen Spaziergang vor. Hinter dem Hause führte zwischen zwei Mäuerchen aus Natursteinen ein Weg in die Bergwiesen hinauf. Mrs. Ethelred behielt Sybille bei sich, die beiden andern gingen voraus. Häufiger als es sonst ihre Art war, blieb die alte Dame stehen, es sah aus, als wollte sie absichtlich den Abstand vergrößern. Doch sie sprach nicht, und so schwieg auch Sybille, in der ohnehin noch die Kränkung nachklang.

Hier auf den Südlehnen war der Schnee fast ganz weggetaut, nur noch in Schattenwinkeln da und dort bargen sich verharschte Reste. Über den Wiesen lag der warme erdigbraune Schimmer, der dem ersten Grün vorangeht. Die herrliche blaue Kälte der Luft hatte ihre Drohung verloren und schien voll Verheißung. Der Bergwald starrte in dunklem Violett, doch um die Fichtenwipfel und das kahle Buchengeäst sprühte es von neuem Licht.

Sie gewannen rasch Höhe, bald lag das Dorf tief unten und schickte nur den Holzrauch seiner Schornsteine zu ihnen empor. Der mengte sich mit dem Duft der Erde, der rieselnden Schmelzwasser, des frischen Dungs, der da und dort gebreitet war.

Mrs. Ethelred blieb tief atmend stehen und legte Sybille die Hand auf den Arm. »Ein wunderschöner Abend – ich freue mich, daß ich ihn mit Ihnen genießen kann, liebes Kind!« Sybille sah dankbar auf und wurde rot vor Freude, doch bevor sie ein Wort sagen konnte, fuhr die alte Dame fort: »Wir haben Sie alle liebgewonnen, Sybil, meine Kinder und ich. Ja, auch Bob, er ist doch sonst so scheu, ein wenig ungelenk, wissen Sie … auch Bob schätzt Sie sehr. Nun, Bob …« Sie sah kurz zu Sybille hin, als erwartete sie eine Unterstützung, doch Sybille schwieg. Mrs. Ethelred sagte noch: »Ich bin nicht sicher, ob es richtig war, einen Gast aus Amerika auf diese Reise mitzunehmen. Es sieht so nach endgültiger Bindung aus, dafür war Bob noch zu jung … seiner selbst nicht sicher genug, Sie verstehen … das hat sich jetzt gezeigt, o ja!« Wieder brach sie ab und sah zu Sybille hin, doch als diese immer noch schwieg, setzte die alte Dame mit einem Aufatmen, das fast wie ein Seufzer klang, ihren Weg fort.

Kurz darauf kamen sie auf eine kleine Kuppe, auf der sich ein ländlicher Genießer eine Bank aufgestellt hatte; ein gewaltiges Ding, für viele Menschenalter berechnet: ein halber Baumstamm war da, mit der flüchtig behauenen Spaltfläche nach oben, auf Steinsockel gelagert, zwei Viertelscheiter bildeten die Fußrast.

»Oh, hier wollen wir ein wenig bleiben«, sagte Mrs. Ethelred und wandte sich der Aussicht zu. Man sah weit ins Land hinaus, der liebliche Ernst der Wälder und Bergwiesen löste sich in immer flachere Erdkuppen, bis er weit weg in Äcker und Büschen verblaute.

»Ich liebe solche Abende«, hob die alte Dame nochmals an, »die große Klarheit darin … sie lehren uns einsehen, daß das Leben wahrscheinlich viel einfacher ist, als wir glauben … Ja! – Und was ich vorhin sagen wollte, liebes Kind: Mir liegt das Glück meiner Kinder sehr am Herzen, ich würde mich ihm nie entgegenstellen, nein, das täte ich nicht – ich vertraue meinem Jungen, daß er sein Glück erkennt … ja, das wollte ich sagen.«

Sybille stand in einer Verlegenheit, wie sie sie nie zuvor empfunden hatte, sie wagte sich nicht einmal dazu zu bekennen, daß sie richtig verstanden hatte, und der Gedanke, es jetzt an Offenherzigkeit fehlen zu lassen, war ihr gleich unerträglich wie der andere, etwa Vertrauen gegen Vertrauen setzen zu müssen.

Da war es gerade Bob, der ihr Erlösung brachte, er tauchte heftig winkend unten am Wege auf und brüllte etwas herauf, was nicht zu verstehen war.

»Ich laufe schnell hinunter und frage, was es gibt«, schlug Sybille vor.

»Ja, und bringen Sie mir doch bitte mein Plaid mit, ich möchte noch ein wenig hier oben bleiben!« rief die alte Dame ihr nach, während sie schon rannte.

Bob stand gleich oberhalb des Gasthofs, noch im Montierkittel, und rieb sich mit einem Benzinlappen die Hände sauber, als sie unten ankam. »Kardanwelle ist gebrochen, hart am Kegelrad des Differentials«, sagte er hastig. »Ich fahre gleich nach Graz – kommt Ma nicht herunter?«

»Nein, sie will noch oben bleiben, ich soll ihr das Plaid holen!«

»Schön, ich mache mich schnell fertig, dann laufe ich mit Ihnen hinauf!«

Sybille rannte weiter, ins Haus, die Treppen hinauf in Mrs. Ethelreds Zimmer. Als sie mit dem Plaid über dem Arm wieder herunterkam, traf sie im Vorraum mit den beiden Fremden zusammen, die marschfertig mit geschulterten Rucksäcken dastanden. Othegraven trat auf sie zu:

»Das ist schön, daß wir Sie noch sehen, Fräulein Wohlbrink, da können wir uns doch verabschieden!«

»Sie wollen schon fort?« fragte sie zurück und gab widerstrebend, ohne Gegendruck, ihre Hand hin.

»Ja, natürlich – sollten wir uns etwa hier den Amerikanern auf die Pelle setzen?« lachte Othegraven.

»Als deutsche Tramps?« ergänzte Matthies, er hatte es nicht vergessen.

Sybille zwang sich bei aller Verwirrung, den beiden in die Augen zu sehen, sie wollte wissen, ob die merkwürdigen Worte auf sie selbst zielten. Aber da war nur dieses unbekümmerte Lachen, ja, und noch etwas, nicht unerfreulich zu bemerken, ein ritterliches Bedauern über den schnellen Abschied.

»Sind Sie in Stellung bei denen?« fragte Matthies.

»Nein«, stotterte sie, und er meinte: »Nicht einmal? Dann wundert es mich nur, daß sie der Dunklen – wie hieß sie noch? Na, ist ja egal – nicht besser was auf den Kasten gegeben haben! Freche Rübe, das!«

»Richtig leid getan haben Sie uns, Landsmännin in hartem Brot und so …«, beteuerte Othegraven.

»Und nun sind Sie gar nicht zu bedauern«, staunte Matthies.

»Nein – eigentlich nicht!« Es klang nicht sehr überzeugend, Othegraven hakte sofort ein: »Zu beneiden scheinbar auch nicht?«

Sybille schüttelte den Kopf, die Fragerei paßte ihr nicht, durchaus nicht, eine schroffere Ablehnung brachte sie aber doch nicht heraus, die beiden meinten es gewiß nicht böse, und, ja … sie waren Landsleute, das Wort hatte nun seine Bedeutung.

»Wohin wollen Sie – weiter der Straße nach?« fragte sie, um abzulenken. Die beiden sahen einander an, dann meinte Othegraven: »Nein, nein, wir müssen uns mehr abseits halten, an den Einödhöfen vorbei! An der großen Straße ist für uns nichts zu holen!«

Das klang zweideutig, Sybille erschrak sehr, doch um nichts merken zu lassen, fragte sie schnell weiter: »Wir haben Sie aber doch auf der großen Straße getroffen?«

»Das war ein Zufall – streckenweise läßt es sich nicht vermeiden!«

Matthies schien ihre geheime Angst zu durchschauen und erklärte gutmütig: »Keine Angst, kleines Fräulein, es hat alles seine Ordnung! Wir arbeiten uns doch durch die Gegend – er klempnert an Maschinen, Licht und Wasser herum, ich streiche Türen und Fenster an, auch ganze Häuser – künstlerisch, natürlich, mit Blümchen und Herzen und so – na, und so was findet sich natürlich in der Einöde leichter als in den Dörfern. So ist das!«

»So ist das!« wiederholte Sybille, nicht ohne Rührung.

»So ist das!« wiederholte Othegraven ihr nach und ließ seinen Bariton aufbrodeln: »Zwei fahrende Schüler, von niemand gekannt …«

»Sybille, kommen Sie?« rief Bob von draußen.

»Jawohl!« rief sie zurück, zögerte aber noch einen Augenblick und hielt den Fremden beide Hände hin: »Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute und … und … ich bewundere Sie!«

»Na, und wir erst!« kam es mit gewaltigem Gegendruck zurück. Dann liefen sie, mit einem letzten Scheideblick über die Schulter weg, auseinander, die Jungen auf die Straße hinaus, Sybille hinter das Haus, wo Bob sie erwartete, das gebrochene Stück der Kardanwelle in der einen, ein flaches Köfferchen in der andern Hand.

»Höchste Zeit«, schnaufte er. »Zug geht in zwanzig Minuten, und der Bahnhof liegt weit oben! – Ich kann diesen Weg nehmen!« wehrte er ab, als Sybille sich von ihm verabschieden wollte. »Er schneidet sogar ab.«

Dabei begann er scharf bergauf zu gehen, Sybille wollte nicht zurückbleiben und sprang ihm an einer Krümmung vor, gleich darauf überholte er sie wieder, es wurde ein Wettrennen, das in einiger Atemlosigkeit vor der Bank endete.

Sybille legte der alten Dame das Plaid über die Knie, ohne sich weiter umzusehen. Erst als sie sich aufrichtete, sah sie hinter Mrs. Ethelred Alice stehen, die ihr mit unverhohlenem Haß ins Gesicht starrte, doch sofort den Ausdruck wechselte, als Bob, nach dem Lebewohl an Mutter und Schwester, nun auch ihr zuwinkte. »Bye, bye!« flötete sie ihm noch nach, als er schon in Sprungschritten um die nächste Biegung oben verschwand.

Inzwischen hatte Sybille gesprächsweise von dem Aufbruch der beiden Fremden erzählt, Mrs. Ethelred wollte mit einem gewissen »Oh!« darüber hinweggehen, Alice aber stach nochmals dazwischen mit einem giftigen »Oh – die sind auch fort? Was werden denn Sie bloß anfangen, so ganz ohne Männer, Sybil?«

Das war die Grenze, Sybille fuhr herum, zu allem bereit; die alte Dame aber war schneller und schickte Alice mit ungewohnter Schärfe fort: »Ich habe mit Sybil zu sprechen«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Bitte, nimm dich deiner Freundin an!« Helen gehorchte sofort, mit einem begütigenden Blick zu Sybille, und wollte Alice unterhaken. Die aber riß sich wütend los und rannte den Berg hinunter, von Helen gefolgt.

Da erhob sich auch die alte Dame und ging, so schnell es der schlechte Weg erlaubte, auf das Haus zu. Sybille hörte die alte Dame an Alices Zimmertür pochen und Einlaß verlangen. Dann blieben alle auf den Zimmern, beim Abendessen fehlte Alice, sie liege mit Migräne zu Bett, hieß es. Es konnte am Wetter liegen, die Aussicht ins Tal war ganz verhangen, eine Wolkenbank kroch heran, die einen dörrenden Backofenhauch vorausschickte, die Sterne glommen trübe durch opalisierenden Dunst.

Die Wirtin prophezeite Regen und behielt recht, schon in der Nacht hörte man es in den Dachrinnen rauschen und hämmern. Der Morgen kam spät und trübe, mit Nebel bis tief herunter.

Auch zum Frühstück erschien Alice nicht, doch wurde ihr Fernbleiben von Mutter und Tochter mit keinem Wort erwähnt. Sybille kehrte sofort auf ihr Zimmer zurück, sie hatte sich während der Nacht nun doch zu einer Generalbeichte an Onkel Hagen entschlossen, dieses Zufallsgeschaukel sollte ein Ende haben. Mit Alice ging es ohnehin nicht weiter, und die Möglichkeiten, die Mrs. Ethelred angedeutet hatte, kamen überhaupt nicht in Frage. Der Gedanke an die baldige Trennung von der gütigen alten Dame schmerzte wohl, doch zu ändern war nichts daran.

Sie schrieb lange an dem Brief, es wurde ein halbes Tagebuch daraus, sie merkte nicht ohne Stolz, daß die Lehrzeit in der Fremde gut gewirkt hatte: sie konnte weit klarer als je zuvor ihre Persönlichkeit gegen die Umwelt abgrenzen, konnte an andern, besonders an dem armen Onkel, manches gelten lassen, was sie bisher übersehen oder mißverstanden, manches aber mit gutem Grunde ablehnen, was sie bisher hingenommen hatte.

Als sie eben den letzten Bogen, mit einem innigen Kuß, als »Deine reumütige, sehr gebesserte Nichte Sybille« unterschrieben hatte, ging im Stiegenhaus ein Stimmenlärm an, wie ihn mit solcher Unbefangenheit wohl nur Amerikaner hervorzubringen vermögen. Helen und Alice kreischten in hohen Tönen, die alte Dame überbot sich an volltönigem »Oh!«, vorherrschend aber war Bobs Stimme, die offenbar Glorreiches berichtete.

Sybille wartete absichtlich ab, um Alice keinen neuen Anlaß zu Bosheiten zu geben. Doch da platzte schon Helen ins Zimmer: »Bob ist zurück, er hat den Ersatzteil bekommen und will gleich montieren – wenn wir zuhelfen, können wir nachmittag schon fahren – kommst du?«

Dem konnte sie sich nicht entziehen, es hätte nach Kränkung ausgesehen. Die geplante Aussprache mit Mrs. Ethelred mußte bis nachher aufgeschoben werden.

Als sie in den Schuppen hinunterkamen, stieg Bob gerade in seinen Montieranzug. Alice stand in untadeligen Overalls dabei und überschüttete ihn mit Fragen, die er recht einsilbig beantwortete. Zwischendurch kramte er unter den Sitzen einen weiteren Anzug für Sybille und eine große Gummischürze für Helen heraus; dann schaltete er die Suchlampe an langem Kabel ein und gab sie Helen zu halten, setzte Staubbrillen auf und schob sich rücklings unter den aufgebockten Wagen. Sobald er richtig lag, mußte ihm Sybille das neue Wellenstück zureichen und das Kegelrad in das offene Differential einpassen, während er den Kardan verschraubte; Helen mußte dabei leuchten, gleichfalls tief unter den Wagen gebeugt. Für Alice blieb weder eine Handreichung noch irgendwelche Beachtung übrig, sie plapperte noch einige Augenblicke lang weiter und lief endlich böse davon.

Der Einbau ging glatt und schnell vor sich, immerhin mußte das Mittagessen um eine halbe Stunde hinausgeschoben werden, dann aber war alles zur Probefahrt bereit.

Bob sollte mit Helen und Alice fahren, Sybille hatte es abgelehnt mitzutun, sie wollte Mrs. Ethelreds kurze Mittagsruhe abwarten und dann gleich mit ihr sprechen. So blieb sie allein im Gastzimmer sitzen, bei schwarzem Kaffee und einer Zigarette, und suchte nach einer Zeitung, um sich die Wartezeit zu vertreiben.

Hauptstädtische Blätter lagen nicht auf, nur ein Kreisblättchen ländlichen Formats mit einigen Seiten Verordnungen, Beschlüssen, Marktberichten, mit bebilderten Kauf- und Verkaufsanzeigen von Pferden, Vieh, Geflügel, mit einem kurzen Seitenblick auf die Weltpolitik und der 97. Fortsetzung des Wildererromans »Der Freischütz von Trafoi«.

Sybille war dabei, sie gewissenhaft durchzulesen, als ihr knapp darüber ein dicker Zwischentitel in die Augen fiel:

 

Gefährliche Hochstaplerin gesichtet.

Baden bei Wien. Sicherem Vernehmen nach handelt es sich bei dem Juwelendiebstahl, der kürzlich in einem der ersten hiesigen Hotels verübt wurde, um einen neuen Streich der berüchtigten Hochstaplerin Kati Stepanek, die, unter zahllosen Decknamen, von den Polizeibehörden fast der ganzen Welt gesucht wird und auch bei uns schon mehrfache Gastrollen gegeben hat. Die Verbrecherin, eine noch jugendliche Person von bestechenden Formen, versteht es meisterhaft, sich unter der Maske eines schutzbedürftigen jungen Mädchens in guten Familien Eingang zu schaffen und sich so allen Verfolgungen zu entziehen. So soll sie diesmal unter dem Schutz einer ausländischen Familie entkommen sein, die selbstverständlich von der wahren Natur dieses Gastes keine Ahnung hat. Die Polizei ist aber hart auf der Spur und hofft bald zugreifen zu können.

 

Schon nach den ersten Worten war es ihr, als gefröre ihr das Herz und schickte Eiswasser durch alle Adern, die Augen wanderten mühsam von Zeile zu Zeile, als fürchteten sie sich vor der nächsten.

Nach dem Lesen blieb sie lange Zeit ganz starr sitzen, der Kopf wollte nicht arbeiten, eine dumpfe Angst beherrschte alles: Polizei … hart auf der Spur … bald zugreifen …

Als draußen auf der Straße ein Motorrad heranknatterte, schreckte sie auf, horchte: nein, es hielt nicht, fuhr weiter. Der Schreck hatte aber sein Gutes, er brachte das gelähmte Denken wieder in Gang.

Zunächst: Das Wochenblatt war sechs Tage alt – gar zu hart konnte die Polizei nicht auf der Spur sein.

Die Polizei hatte kein Anteil an dieser Nachricht, wenigstens nicht in dieser Form. Wußte die Polizei überhaupt von der »ausländischen Familie«, so mußte sie auch den Namen der Leute und ihren Verbleib feststellen können, dazu hätte sie kaum so viel Stunden gebraucht, wie nun Tage verflossen waren.

Nein, es war nicht die Polizei – dies kam von Schaaper, er hatte es durch irgendeinen Reporter lanciert. Zur Polizei hatte er sich gar nicht hingewagt, vielleicht war er seiner Frau nicht sicher genug, vielleicht wußte sie wirklich nichts und konnte mit der wahren Wertangabe alles verderben – nein, zur Polizei war Schaaper nicht gegangen. Dies hier war die Rache für die mißlungene Erpressung, er wollte quälen, Unruhe stiften …

Nun, bis zu einem gewissen Grade war ihm das gelungen, Sybille verhehlte es sich nicht. Allerdings war es heute viel gleichgültiger als noch vor wenigen Tagen: Heute war nicht nur ihre Trennung von den Burnhams von ihr aus beschlossene Sache, sie besaß vor allem das Vertrauen der alten Dame viel zu sehr, als daß es durch solche Mittel zu erschüttern gewesen wäre.

Ja, und doch hatte sich etwas geändert: gestern noch waren Alices Eifersucht, Bobs Verliebtheit und die gütige Bereitschaft der alten Dame die alleinigen Gründe gewesen – heute kam dieser neue Grund dazu und überwog alle andern, heute war ihr Gehen kein freier Entschluß mehr, sondern ein Zwang: sie durfte die Familie auch nicht der leisesten Möglichkeit eines Skandals aussetzen. Alice, das Biest, las etwas Deutsch, die Notiz konnte aber auch sonstwo auftauchen und eine Ideenverbindung mit der Tatsache bewirken, daß sie selbst in Baden auf reichlich mysteriöse Art zu der Familie gestoßen war.

Sie mußte von den Burnhams weg, zugleich aber war andres in Frage gestellt – es war ihr plötzlich ganz lieb, daß sie morgens, als sie von Helen abgerufen worden war, den langen Brief nicht mehr postfertig gemacht hatte. Nein, Onkel Hagen, der Arme, sollte vielleicht doch nicht hineingezogen werden, solange alles so unbeweisbar und doch klebrig schien, auch blieb sie lieber nicht hier zurück, wenn wirklich jemand auf der Spur der Burnhams nachzog … Wollte sie aber weiter, dann sah es schlimm aus, dann …

Gerade als die Angst wieder aufstehen wollte, fuhr draußen ein Wagen vor, Sybille schrak zusammen und ärgerte sich gleich darauf: natürlich, war es Bob mit den Mädchen, der von der Probefahrt heimkehrte, lächerlich, daß sie sich nicht besser in der Hand hatte – sollte Schaaper recht behalten?

Helen riß die Stubentür auf: »Wagen ist o. k., wir können gleich fahren – hilfst du mir packen, Sybill? Sei ein nettes Mädchen!« Dabei faßte sie schon gewaltsam zu und polterte mit Sybille die Treppe hinauf.

Im Zimmer der beiden Mädchen sah es verwegen aus, besonders bei Helen war Ordnungsliebe der schwache Punkt. Strümpfe, Blusen und noch Intimeres wimmelte auf allen Einrichtungsstücken, es war gerechte Arbeitsteilung, daß Helen ihre von Alices Sachen sondern, Sybille aber packen sollte.

Sie waren allein, Alice war bei Bob unten geblieben, der den Wagen rasch noch etwas abschmieren wollte, weil die Federn quietschten. Helen schien bester Laune, sie freute sich immer, wenn es weiterging, es schien aber auch sonst etwas gelungen zu sein, sie pfiff einen übermütigen Fox. Als sie merkte, daß Sybille gar nicht zu erheitern war, trat sie plötzlich neben sie und flüsterte: »Du sollst nicht glauben, daß wir alle etwa nicht merken, wie gemein Alice gegen dich ist … Ma hat ihr gestern den Standpunkt klargemacht – oh, ich kann dir sagen, die Migräne war nicht gestohlen! – Und Sybil … ich hab' dich wirklich gern, ich meine … Du verstehst mich, nicht wahr?« Damit legte sie den Arm um Sybilles Schultern und zog sie zu einem flüchtigen Kuß an sich. Sybille machte sich mit freundlichem Nachdruck frei und sagte: »Ihr seid unendlich lieb zu mir, du und deine Mutter, das danke ich euch sehr – aber was ihr denkt, wird nie sein, niemals, Helen, das muß ich dir sagen! Ja, und …« wollte sie fortfahren, doch da schrillte es von unten herauf: »O Helen, ob du den Schlüssel zum großen Koffer hast, läßt Bob fragen?« Helen zögerte, ihr tief enttäuschtes Gesicht von Sybille abzuwenden, sie ging rücklings der Tür zu, erst als die Frage von unten noch lauter wiederholt wurde, beeilte sie sich mit einem kurzen »Nein!«

Man hörte Alice die Auskunft weitergeben, dann kam sie plötzlich die Treppe heraufgesprungen und stürmte ins Zimmer. Bei Sybilles Anblick zuckte sie mit einem halblauten Ausruf voll Feindseligkeit zusammen, schloß langsam die Tür und glitt näher. Sybille hatte Mühe, ruhig zu bleiben, das ganze Gehabe war ihr bis zum Überdruß verleidet.

Es schmeckte alles nach Film, so, als rollte das ganze Leben vor einem Halbdollarpublikum ab, dem man jede Regung in Miene und Gebärde dick auftragen müßte. Mrs. Ethelred in Ehren, kein Wort gegen sie, ihre Güte war echt und ungekünstelt; Helen war ein lieber Kerl, Bob – nun, es war nicht feine Schuld, daß sein Blond zu Vergleichen zwang – ein guter Amerikaner sonst. Alice aber – das war der Typ des hemmungslosen Weibchens, ein Überbleibsel aus der Zeit der Goldgräbersiedlungen, in denen jede Frau als heiliges Wunder begrüßt worden war, auch wenn sie anderswo nicht vollen Anspruch darauf hatte. Ein Mädchen wie Alice konnte einem den Erdteil verleiden.

Als hätte sie den Gedanken erraten und wollte es darauf anlegen, ihn wahr zu machen, begann Alice ein wildes Räumen unter den Sachen, die Helen eben erst zum Packen bereitgelegt hatte. Kleider und allerlei Kram wirbelten durcheinander, die Tischdecke wurde hochgerissen, das alte Sofa durchwühlt … »Was tust du, Alice, du bist verrückt!« rief Helen sie ziemlich böse an. Alice tat noch zwei, drei heftige Griffe, stützte die Hände auf den Tisch und beugte sich vor: »Weißt du denn, was geschehen ist, Helen? – Ich bin gar nicht verrückt, oh, durchaus nicht, aber –«, sie straffte sich und hielt die Augen fest auf Sybille, die gleichmütig standhielt, »aber: mir ist Geld weggekommen, hier aus dem Zimmer, eine Fünfzigdollarnote, ich hatte sie hier auf dem Tisch liegenlassen, ganz bestimmt. War – außer dir, Helen – jemand allein im Zimmer?«

In den Augen, die kalt und böse auf Sybille einstachen, war die Frage schon beantwortet, Sybille empfand darüber mehr Schreck als Wut, und das Bewußtsein ihrer Wehrlosigkeit vertiefte den Schrecken noch mehr. In diesem Augenblick wandte sich auch Helen ihr zu, besser vielleicht, auch Helens Blick kam ihr zum Bewußtsein, der erschrockene Zweifel darin … So schnell ging das: eben noch die Versicherung schwesterlicher Liebe – dann ein paar böse Worte, ein Blick voll Haß – und alles war wie weggewischt.

Wieder kam die Eiseskälte vom Herzen her, doch diesmal starb so manches darin hin, was dem Mädchen Sybille ein Halt gewesen war. Denn diesmal kam der Verdacht nicht von einem Gauner und Erpresser, dem er selbst nahe genug lag, nein, diesmal kam er von Mädchen ihres Standes, die die volle Tragweite genau wie sie selbst empfinden mußten.

Eine Wohlbrink konnte des Diebstahls verdächtigt, konnte überhaupt, den kleinsten, kürzesten Augenblick lang, mit Diebstahl in Verbindung gebracht werden! Eine Wohlbrink – es war das letztemal in ihrem Leben, daß Sybille die zwei Worte im alten Sinne gebrauchte, mit einem Schlage war ein neues Gefühl für Verantwortung da, die gutes Blut auferlegte: man hatte die ererbte Lebensform ganz zu erfüllen, ehe man sich auf sie berufen durfte, sonst war sie nicht mehr als die Zahl eines guten Weinjahres auf einem leeren Faß.

Geschah einer Wohlbrink solches, konnte es überhaupt geschehen, dann war diese Wohlbrink unterhalb der hohen Ebene geblieben, die die Voreltern sich geschaffen hatten, sie hatte ihr Leben nicht in strenger Zucht gehalten und war schuldig. Und diese Erkenntnis trieb ihr jäh alles Blut zum Herzen zurück, daß von der Stirn her eine elfenbeinerne Blässe sich langsam über ihr Gesicht legte und nur die weitstarrenden Augen dunkel ließ.

Helen sah die Verwandlung voll Reue, sie verstand, was in Sybille vorgehen mußte, was sie selbst ihr angetan hatte mit ihrem stummen Zweifel. Sie jagte auf, faßte Alices Arm, schrie sie an: »Es ist nicht möglich, was du sagst, nicht möglich, hörst du? Wo soll das Geld liegengeblieben sein – hier auf dem Tisch, sagst du?«

Dabei begann sie selbst zu suchen, aber nicht wild und ziellos wie Alice vorhin, sondern bedächtig jedes Stück wendend. Unter einem Berg von Strümpfen zog sie Alices Handtäschchen hervor; als Alice heftig danach greifen wollte, wehrte sie sie ab, öffnete selbst und leerte den Inhalt auf den Tisch: Puderdose, Lippenstift, Spiegelchen, Taschentuch, Feuerzeug, im Innenfach etwas Hartgeld. Wieder streckte Alice die Hand aus, da wehrte Helen mit offenem Mißtrauen und knetete das Täschchen in raschen Fingern durch: hier knisterte etwas, sie griff zu und zog zwischen Stoff und Futter die kleingefaltete Note heraus. »Du hast nur die eine, ich weiß es«, sagte sie leise. Alice nickte trotzig und wollte etwas erklären, doch Helen ließ ihr keine Zeit, sie sprach immer noch leise, aber es schnitt wie Messer: »Ehe man so fragt wie du vorhin, muß man ganz, ganz sicher sein, sonst tut man ein Unrecht, das nie wieder gutzumachen ist! – O du Biest!« preßte sie plötzlich hervor und warf das leere Handtäschchen samt der Geldnote auf den Tisch.

Doch da gaben Sybilles Nerven nach, sie rannte in ihr Zimmer hinüber, schlug die Tür ins Schloß und drehte den Schlüssel um. Dann brach das Weinen aus ihr wie ein Sturm, schüttelte sie und warf sie hin, sie lag quer über dem Bett und biß ihr Taschentuch in Fetzen.

An der Tür klopfte es, Helen bat, beschwor sie: »Sybil, liebste Sybil, mach auf, o bitte!« Sie antwortete nicht. Bald darauf kam Alice, ihre Stimme verriet Unbehagen, ja, dies war wohl zu weit gegangen, sie raffte sich zu einsilbigem Bedauern auf: » Sorry, Sybil!« Als auch sie ohne Antwort blieb, ging sie laut davon, man konnte den Trotz heraushören.

Sybille, ruhiger geworden, war ohne Haß: nein, dieses Mädchen Alice konnte ihr nicht schaden, so arm und klein war sie in ihrer Bosheit, das letzte Glied in einer jämmerlichen Kette, die mit Gottfried anfing und über Edda und Schaaper weiterführte, alles Knirpse, kleine Menschen, Joachim hatte recht gehabt, dieser eine Blonde …

Da flossen die Tränen neu, doch sie waren linder und nahmen viel Trotz mit, der das eine Gefühl verdunkelt hatte. Und in dieses stille Weinen klang ein neues Klopfen und Mrs. Ethelreds Stimme: »Sybil! Machen Sie auf, Liebe! Ich muß Sie sprechen, Sybil!«

Da stand Sybille gehorsam auf, fuhr sich rasch mit einem Taschentuch über die Augen, ging zur Tür und öffnete. Die alte Dame glitt herein, schloß hinter sich ab und zog Sybille in ihre Arme, alles ohne ein Wort.

Doch Sybille war über jeden Trost hinausgewachsen, sie fügte sich in die mütterlichen Arme, weil sie die Gute nicht enttäuschen wollte, freisprechen aber konnte sie niemand mehr, sie selbst hatte sich verurteilt und wollte büßen.

»Ich hoffe nur, daß sie gar nicht weiß, wie böse sie war!« flüsterte die alte Dame unter Tränen, ihr Glaube an das Gute schien tief erschüttert.

»Sprechen wir nicht von Alice«, bat Sybille, »ich bin ihr nicht böse, sicher nicht!«

»Es ist schön, daß Sie das sagen, mein Kind – und doch ist es mir lieb, daß jede Gelegenheit zu neuer Kränkung ausgeschaltet ist: Alice verläßt uns!«

»Oh – meinetwegen? Das soll sie nicht!«

»Nein, nein«, beruhigte die alte Dame, »nicht Ihretwegen! Alice hat uns alle enttäuscht, und sie weiß es – ein Zusammensein wie früher wäre nicht mehr möglich. Sie fährt nach Paris und trifft dort Verwandte, das ist die beste Lösung!«

»Aber, Mrs. Ethelred …« Sybille mußte schlucken, ehe sie weitersprach, die Trennung fiel ihr nicht leicht, Mrs. … Ethelred … ich … ich selbst muß fort von Ihnen, ich muß, wirklich … vielleicht bleibt Alice dann doch?«

Die alte Dame hatte nur ein nachsichtiges Lächeln für die Ankündigung, sie nahm sie nicht ernst: »Liebes Kind, ich verstehe, daß Sie gekränkt sind, Alice wird Sie in aller Form um Verzeihung bitten, dafür werde ich sorgen, wir alle stehen ganz auf Ihrer Seite – genügt das nicht?«

Sybille fand es schwieriger, als sie gedacht hatte, der alten Dame ihren Entschluß begreiflich zu machen. »Von Kränkung ist keine Rede mehr«, wiederholte sie immer wieder, »ich bin sogar dankbar, daß mir alle diese Dinge geschehen sind, sie haben mich anders sehen gelehrt. Es ist gut, wenn man einmal aus dem ganzen Treibhaus Familie und so hinausgestellt wird – ach, Sie werden mich sicher verstehen, es geht ja um etwas sehr Amerikanisches, dieses Auf-sich-gestellt-Sein …«

»Wir fahren nicht mehr im Planwagen, liebes Kind«, lächelte die alte Dame, »aus den wilden Indianern sind gesittete Christen geworden …«

»Ich meine es gar nicht romantisch, nein, aber es ist doch ein Unding, daß gleich die Welt untergehen soll, wenn unsereins einmal kein Geld hat – verstehen Sie? Was soll denn die gute Kinderstube und das satte Leben und die höhere Bildung, wenn wir doch immer noch weiter Geld brauchen, um uns zu behaupten? Welche Schande vor den armen Leuten, Mrs. Ethelred – so sehe ich es nun! Ach bitte, verstehen Sie mich doch!«

»Oh!« machte Mrs. Ethelred, es war die bedauernde Einsicht, daß das Mädel da, ob verblendet oder nicht, seinen Kopf durchsetzen würde. Und dann der sachliche Nachsatz: »Was werden Sie tun, Liebe?«

»Ich weiß es nicht«, gab Sybille ohne alle Verwirrung zurück. »Irgendwas wird sich finden!«

»Ihr Vormund …«, wollte Mrs. Ethelred einschieben, doch Sybille wehrte ab:

»Nein, bei Onkel Hagen melde ich mich nicht, das ist nun fest beschlossen. Solange er noch irgendwie verantwortlich gemacht werden kann, soll er nichts von mir wissen, das ist das beste!«

»Aber Sie haben doch … verzeihen Sie, liebes Kind, Sie haben doch so wenig Geld? Darf ich nicht wenigstens …«

Sybille faßte errötend ihren Arm: »Nein, bitte, Mrs. Ethelred, sprechen Sie es nicht aus! Ich möchte es nicht!« Nach einem kurzen Schweigen fuhr sie leise fort: »Ich werde mich doch die paar Wochen allein fortbringen können, das wäre ja gelacht! Ich will es einfach, es muß gehen!«

Die alte Dame wiegte zweifelnd den Kopf: »Liebes Kind, ich bin nicht sicher, ob ich recht tue, wenn ich Sie so fortlasse!«

»Mrs. Ethelred«, bat Sybille, »Sie haben mir einmal vertraut, als es viel schwieriger war – bitte tun Sie es auch jetzt! Ich werde Ihnen keine Schande machen – das wird der beste Dank sein für alles, was Sie an mir getan haben!«

»Mam! Sybil!« brüllte Bob im Treppenhaus. »Wir sind fertig – kommt ihr?«

Mrs. Ethelred öffnete die Tür und rief: »Ich komme!« Dann wandte sie sich nochmals an Sybille zurück: »Soll es wirklich so sein?« – »Ja!« sagte Sybille fest und beugte sich über die feine alte Hand. »Und bitte: sagen Sie Ihren Kindern alles Liebe – ich möchte sie jetzt nicht sehen, es ist sicher das beste so! Und schreiben Sie mir bitte nach Hause, wo Sie jeweils zu erreichen wären …«

»Spätestens drüben bei uns, in Amerika!« lächelte Mrs. Ethelred gerührt.

»In Amerika?« schluckte Sybille, »ich glaube nicht, daß ich sobald dahin komme!« Mrs. Ethelred fuhr ihr leicht über den Scheitel.

Dann klappte die Tür.

*

Als kurze Zeit darauf das Auto vorfuhr, sah Sybille, hinter der Gardine verborgen, hinunter. Bob hatte die Schirmmütze tief ins Gesicht gezogen und hantierte mit gesenktem Kopf am Gepäckträger. Helen, die neben der alten Dame in den Rücksitz einstieg, trug sogar die Autobrille, was sie sonst nicht einmal beim Fahren tat. Sybille fühlte, wie ihr selbst die Augen feucht wurden vor soviel Abschiedsschmerz. Doch sie hielten sich an die Abrede, keiner sah herauf; als der Wagen anfuhr, hob die alte Dame ganz leicht die Hand, ohne den Kopf zu wenden, als wüßte sie, daß der heimliche Gruß beobachtet würde.

Von Alice war nichts zu sehen, Bob hatte sie wohl schon vorher zur Bahn gebracht.

Gut also, nun war sie allein. Sie schüttelte mit einem straffen Ruck die Bedrückung ab, die sich melden wollte. Für heute war nichts mehr zu beginnen, morgen aber, mit dem ersten Frühzug, wollte sie nach Graz hinunter und nach Arbeit sehen. »Abitur, Maidenschule, drei Universitätskurse, dazu Schreibmaschine und Stenographie – damit sollte man nicht fortkommen? Lächerlich!« sagte sie, während sie händereibend das Zimmer durchlief.

Der alten Wirtin war das Auseinanderplatzen der Reisegesellschaft nicht entgangen; als Sybilles einsames Abendessen aufgetragen war, kam sie knicksend dazu und begann ein beiläufiges Gespräch, das sie allmählich wie eine Schlinge zuzuziehen gedachte. Doch Sybille ließ ihr die Freude nicht, sie schützte Kopfschmerzen vor, bat noch um pünktliches Wecken für den nächsten Morgen und ging.

Oben in ihrem Zimmer stand sie lange am Fenster. Durch einen jähen Riß in der Wolkenbank sah sie ein Stück Himmel von einer Sternschnuppe überquert. Sie nahm es als Vorzeichen mit in den Schlaf.


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