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Die Villa Talblick in Krummhübel war ein vornehmes Haus; sie lag etwas oberhalb des Ortes, an der Waldgrenze; die makellos weiß lackierten Fenster und Türen standen gut zu dem dunklen Braun der Balken und adelten den Blockhausstil des Neubaues, dem andrerseits durch den bunt bedruckten Stoff der Vorhänge, der Tischdecken und Möbelbezüge Rechnung getragen war. Peinlich sauber, ruhig und vornehm – das war der Ehrgeiz der Besitzerinnen, der drei Schwestern Rathmann, denen es übrigens keineswegs an der Wiege gesungen worden war, ach nein, daß sie sich einmal würden in so engem Rahmen bescheiden müssen. Denn ein enger Rahmen, das war diese Familienpension trotz allem, verglichen mit den Verhältnissen, in denen die Damen aufgewachsen waren, als Töchter, wer ahnt es wohl, eines staatlichen Güterdirektors, des praktisch unumschränkten Gebieters über fünftausend Morgen und eine vielfach preisgekrönte Herde in Ostpreußen. Mit des Vaters Tod hatten sie das Paradies verlassen müssen und waren, drei jüngere alleinstehende Mädchen, gezwungen gewesen, einen Unterhalt zu suchen; denn die Zinsen des Erbteils reichten ja bei weitem nicht aus; der gute Papa, Ehre seinem Angedenken, hatte sich, besonders nach der Mutter frühem Tode, wenig versagt – sonst hätte natürlich eine ganz andere Summe da sein müssen, na, Zahlen tun nichts zur Sache, aber das Vielfache eben!
Geheiratet, nein, geheiratet hatte keine der drei Schwestern, obgleich es an Angeboten natürlich nicht gefehlt hatte, nein, wahrhaftig nicht, jede einzelne war heftig umfreit worden, die Damen Rathmann streckten in lebhaften Augenblicken gern die Hand in die Luft und ließen die Finger spielen – so hatten die Freier gezappelt. Warum dann keiner der vielen erhört worden war? Darüber wurde nicht gesprochen. Nur ein Achselzucken, ein Blick, ein wehes Lächeln verrieten Schicksale, die mit Seelenstärke gemeistert waren.
Von der glücklichen Jugend war die Erinnerung geblieben, unerschöpflicher Gesprächsstoff – und die Überzeugung, daß die Aufnahme in Villa Talblick für jeden Gast eine Ehre bedeutete, die mit dem Pensionspreis allein nicht bezahlt war, oh, keineswegs, die Damen des Hauses hatten das Recht, gewisse Rücksichten zu verlangen: die eine vor allem, daß es ihnen nicht zugemutet wurde, die Unterhaltung während der Mahlzeiten allein zu bestreiten; hier hatte jeder beizutragen, das Niveau mußte gewahrt bleiben, die Mahlzeiten durften nicht zur Abfütterung im Gastbetrieb herabsinken. Familienpension – darin lag ein Programm, das verpflichtete und an dem nicht gerüttelt werden sollte. »In unserem Hause nicht!« sagten die Damen Rathmann.
Darum wurde streng darauf gesehen, daß möglichst lange alle Gäste an der großen Mitteltafel Platz fanden, bei der Gertrud, die älteste, den Vorsitz führte, und Ruth, die jüngste, das untere Ende betreute. (Adelgunde, die mittlere der drei, führte das Küchenregiment und kam nicht zu Tisch.) Da wurde sorgfältig Tischordnung gemacht – die alte Exzellenz? Die soll den Dr. Resch zum Nachbar haben, er wird sie gewiß gut unterhalten; und der alte Hofrat bekommt die kleine Brendel, er hat doch ein wenig Jugend so gern – so etwa ging das, mit einer leisen, oh, ganz leisen Ranküne gegen die Jugend vielleicht. Und manchmal, wenn die Gäste zufällig besonders gut aufeinander gestimmt waren, manchmal konnte man wirklich glauben, an einer Familientafel mit geladenen Freunden zusammenzusitzen. Das waren glückliche Tage.
Um die Seitentischchen in dem geräumigen Speisesaal aber wurde mit jedem, der sich darum bewarb, ein zäher Kampf geführt. Die Einzeltischchen sollten nicht leerbleiben, gewiß nicht, das hätte nicht gut ausgesehen; sobald das Haus voll besetzt war, wurden sie ohnehin zu einer zweiten Tafel zusammengerückt, die dann Ruthchen allein übernahm. Zuerst aber mußte die große Tafel ganz vollzählig sein, und dann wurden die Tischchen so besetzt, daß möglichst immer Paare zusammenkamen; es ging nicht um die Ersparnis an Bedienung und Tischwäsche, das hätte keine so große Rolle gespielt; aber die vielen Einzelgänger paßten einfach nicht zum Begriff der Familienpension; es schickte sich einfach nicht – das war das Wort!
Sybille Wohlbrink hatte gleich bei ihrer Ankunft darauf bestanden, allein zu speisen – ohne zu ahnen, ein wie weitgehendes Entgegenkommen sie damit verlangte. Aber in diesen toten Spätherbstwochen schien eine gewisse Nachgiebigkeit wohl am Platze, die Zeiten waren ernst. Darum hatte Fräulein Gertrud, die den Empfang leitete, auf Sybilles kurze Bemerkung, sie brauchte Ruhe, mit spitzem Mund erwidert: »Ruhe? O gewiß, dafür ist hier gesorgt, besonders in dieser stillen Zeit. Wir bemühen uns, den Stil des vornehmen Familienhaushalts durchzuführen. Wenn Ihnen aber die Unterhaltung bei Tisch ein zu großes Opfer ist … o gewiß, ich verstehe, verehrtes Fräulein Wohlbrink … auch wir haben Schwerstes durchgemacht, ach ja. Ein Sondertisch also – aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, Sie recht bald doch noch in unsere Runde zu ziehen!«
Sybille, die klare Verhältnisse liebte, hatte sofort entgegnet: »Ich fürchte, das wird nicht gelingen, ich bin richtig menschenscheu!« Aber gerade damit hatte sie Fräulein Gertruds Neugier auf den Plan gerufen und, schlimmer noch, ihre Hilfsbereitschaft, die jedes Seelenleid zunächst ergründen wollte, um es dann vielleicht heilen zu können. Und bei einem so blühenden Geschöpf – Geschöpf war ein Lieblingsausdruck der Schwestern, besonders für jüngere Wesen, er schmeckte angenehm nach Erziehung und gab Rechte –, bei einem so blühenden Geschöpf also war Menschenscheu nicht natürlich und mußte zu heilen sein.
Sybille konnte nicht ahnen, daß sie mit dem Eintritt in Villa Talblick Pflichten auf sich genommen hatte; für sie schien alles mit der Wochenrechnung abgetan, sie genoß es rückhaltlos, allein zu sein, unter Fremden, die keinerlei Ansprüche sonst an sie zu stellen hatten. Zugleich mit dem Frühstück ließ sie sich fast täglich ein paar belegte Brote und etwas Obst auf ihr Zimmer bringen, die sie dann statt des Mittagessens mit sich nahm. Weltfremdes Geschöpf! Ob sie sich wohl eine Vorstellung machte von den schwerwiegenden Bedenken, die die drei Worte »statt des Mittagessens« anderwärts auslösten? Es sollte bestimmt nicht zu dürftig sein, das hätte sich mit der Ehre des Hauses schlecht vertragen, doch auch ganz bestimmt nicht zu üppig, um ja keinen Anreiz für ständiges Außenseitertum zu schaffen: Lücken an der Familientafel waren, zumindest zweien der Damen Rathmann, ein Greuel. Adelgunde, in der Küche, die weltzugewandte, meinte es gut, mit nicht zu wenig Butter, dafür mehr Schinken, und wennschon rote Äpfel, warum nicht vier statt drei? Dann aber kam Ruthchen und zwickte etwas Obst für sich ab, nach ihr behielt Gertrud eine Stulle ein und ersetzte sie durch eine Papierserviette mit Aufdruck und zwei Zahnstocher. Die Frucht diplomatischer Erwägungen das Ganze – für Sybille aber blieb es ein Stullenpaket, das sie irgendwo im Bergwald achtlos verzehrte, mit allen Sinnen nur dem Zauber der Fremde hingegeben. Keine Post und keine Anrufe mehr, keine Fragen durch Blicke oder Worte, auf die zu achten war. Von der Tür der wohlgepflegten Villa weg war sie mit wenigen Schritten im hohen Holz, wo viele Steiglein von der breiten Pilgerstraße wegführten in Stille und Einsamkeit. Durch moorige Senken, in denen der Schritt auf spannenhohen Moospolstern federte, durch Dickungen, die mit tausend streichelnden Zweigen nach ihr griffen, durch weite Bestände von Krüppelfichten arbeitete sie sich hinauf, oft auch ohne Weg, im Bett stürmischer Bäche, bis die grüne Geschlossenheit vor ihr aufbrach und sie am Fuße der niederstürzenden Halden stand, einen Himmel über sich, den krächzende Dohlenflüge durchflatterten und dessen stahlgraue Wölbung von Stürmen wußte und nahem Schnee. Dann konnte sich ihr die unendliche Melodie von Wald und Wasser, von Wind und Vogelruf fast schmerzhaft mitteilen, sie fühlte sich jeder menschlichen Bindung ledig, hineingerissen in einen brausenden Zusammenklang zeitloser Mächte. Tag für Tag suchte sie, immer neu, diese Verzückung, die über Heimat, Volk und Menschheit weit hinausgriff und sie dem All anheimgab. Wenn endlich die herbe Kühle des Erdreichs ihr bis ins Blut drang, dann glaubte sie erschauernd den Weg vor sich zu sehen, den ihre Mutter ihr gewiesen hatte und der sie in die Einsamkeit und Wildnis führen sollte.
In den ersten Tagen war sie einmal einem der Förster begegnet und hatte sein dienstliches Stirnrunzeln durch einen Gruß und die Bitte zerstreut, er möge ihr das Wandern auf verbotenen Wegen verzeihen und weiterhin gestatten, Menschenlärm verleide ihr den Wald, und sie wolle auch ganz gewiß leise sein und das Wild nicht stören, auch nicht rauchen und nichts wegwerfen. Da hatte er von den Bergschuhen aufwärts ihr derbes Sportgewand gemustert und ihr schließlich mit einem Blinzeln zu verstehen gegeben, er wolle nichts gesehen haben und sei bereit, auch künftig ein Auge zuzudrücken. Die Freude, die sie über den harmlosen Erfolg empfand, erschreckte sie beinahe, mehr aber noch die Feindseligkeit, mit der sie alle beobachtete, die sich die gleiche Freiheit nahmen wie sie selbst und sich auf Jagdsteige wagten. Sie lachte sich aus deswegen und nannte sich bei häßlichen Namen, gewiß, sie schenkte sich nichts, aber die Gefühle waren ja trotzdem da und ließen sich nicht leugnen: eine Eigenbrötelei, fern jeder Gemeinschaft.
Zu Ende der ersten Woche brach noch einmal die Sonne durch; es war ein Tag voll seidiger Klarheit, sie wollte nach einer Kammwanderung am kleinen Teich Mittagsrast halten, auf einem Felsblock zwischen Heide, Beeren und Moosblumen, der ihr vertraut war. Schon auf dem Wege fielen ihr frische Abdrücke eines Damenschuhes auf, der gleich berggemäß, aber anders genagelt war als der ihre, mit ringsumlaufenden Schrankennägeln, nach Goiserer Art, während sie selbst nur Rundköpfe trug; Maßarbeit übrigens, ganz unverkennbar, so lange schmale Schuhe gab es nirgends fertig zu kaufen. Sie prüfte den Abdruck sehr genau, als wäre der Kammwald ihr eigenstes Reich, dem aus jeder fremden Spur Gefahr drohen konnte.
Endlich richtete sie sich auf, bog nach wenig Schritten vom Weg ab, zwischen die schütteren Krüppelkiefern, und nahm schon im Gehen den Brotbeutel von der Schulter. Am Rande der Lichtung aber blieb sie mit einem Ruck stehen und starrte zu dem Felsblock, ihrem Felsblock hinüber: dort saß eine Fremde, wohl dieselbe, deren Fährte sie eben erst studiert hatte, ja gewiß dieselbe, da war ja die Goiserer Benagelung an den langen schmalen Bergschuhen, Segeltuchgamaschen darüber, es sah englisch aus. Diese frauliche Feststellung ließ selbst ihr eifersüchtiger Zorn über die Entweihung ihres Lieblingsplatzes noch zu. Während sie immer noch auf die Schuhe starrte, klang eine Stimme herüber, tief und hallend wie eine edle Glocke: »Oh, ist dies etwa auch Ihr Platz?« Da mußte sie aufsehen und hatte eben noch Zeit, mit einem schnellen Frauenblick das fabelhaft echte Sportkostüm zu umfassen – dunkelbraunen Rock und rostrote Jacke aus grobem Homespun, eine hellbraune Hemdbluse dazu mit einem irren Binder, obenauf einen graugrünen Wetterfilz, echt, ja –, dann aber geriet ihr Blick unversehens in den Bannkreis der andern Augen und wurde festgehalten. Schwermütige Augen waren das, die tief und groß in ihren Höhlen lagen, ganz dunkel schienen sie, man mußte lange hineinsehen, um zu erkennen, daß ihr Stahlgrau von vielen goldenen Pünktchen belebt war. Das Gesicht nicht mehr jung, doch von eigenem, fast mädchenhaftem Reiz: Nase und Mund, bei aller Bestimmtheit, kindlich klein, das Kinn kräftig, doch mehr zum Tragen als zum Tun; die Augen beherrschten alles – »Unvergeßliche Augen!« dachte Sybille und wollte sich zögernd zum Gehen wenden, mit der Mittagsrast war es hier wohl nichts für sie. Wieder klang die Stimme herüber: »Ich möchte Sie nicht vertreiben, ich gehe schon!« Und während Sybille sich zu ein paar höflichen Worten umwandte, sah sie die Fremde von dem Felsen herunterspringen und mit hastigen Schritten durch die Kiefern davongehen, groß, schlank, voll Kraft und Spannung in jedem Schritt.
Sybille zögerte, etwas beschämt, sie fühlte sich durch Höflichkeit besiegt, nein, sehr weltgewandt hatte sie sich nicht benommen. Dann ging sie aber doch auf den Felsen zu, preßte den Fuß auf die vertrauten Kanten und war mit zwei Sätzen oben. Während sie sich auf der Kuppe zurechtsetzte, sah sie in einer kleinen Vertiefung etwas Weißes liegen und griff danach: da war es eine Papierserviette der Villa Talblick, noch ganz frisch und trocken, nur die Fremde eben konnte sie hiergelassen haben. Und bei dem Gedanken, daß sie also beide unter einem Dach wohnten, konnte Sybille einen Stich freudigen Erschreckens nicht unterdrücken; sie besann sich sofort, daß sie ja ganz für sich bleiben wollte, aber dann waren die Augen wieder da und die läutende Stimme, es war, als hätten die Zwergkiefern und der blanke Himmel sie bewahrt; und Sybille merkte mit einmal, daß sie nur von gleichgültigen Menschen genug hatte; nach einer Frau aber, nach einer älteren Frau wie dieser, empfand sie eine schmerzlich-weiche Sehnsucht; vielleicht konnte ihr von da Hilfe kommen in ihrer Ratlosigkeit.
Sie zögerte die Rast etwas hinaus und träumte lange in den blassen Sonnenschein, der zusehends an Kraft verlor. Denn nach den vielen feuchten Tagen trieben nun gegen Abend vom Tale Nebel herauf, leichte, flüchtige, die die Klarheit unmerklich trübten, ehe sie sie ganz auslöschten. Bald saß Sybille wie in einem Hexenreigen, die ersten Vorposten des Nebelheeres umwirbelten die Latschenbüsche, die mit plumpen Armen nach ihnen zu schlagen schienen. Der Kamm verschwand, jetzt griffen die Nebel nach dem Sonnenball, der haltlos hinzukugeln begann und sein glühendes Rot schnell verblutete. Und dann war das große Grau da, das nur nächste Nähe bestehen ließ und alle Weite löschte, Sybille mußte mit einem Aufschluchzen an ein Lob des Nebels denken, das sie irgendwann gelesen hatte und das ihn das wahre Wetter für die Liebenden nannte, weil er die Welt einengt zu einer Insel, mit eben Raum genug für ich und du in einer letzten Umschlingung.
Sybille fühlte, wie die graue Geborgenheit an sie verschwendet war, und empfand es wie Hohn, daß ihr von da nur der Weg in ein Allerweltsheim offenstand: Villa Talblick, dürftiger Leitstern. Aber schon war wieder mit dem kleinen Erschrecken eine Neugier auf die Fremde von vorhin da und strafte ihren Weltschmerz Lügen. Lautlos trottete sie den weichen Steig entlang; der Nebel bedrohte sie nicht, führte sie nicht in die Irre: ein welliges Gleiten gab ihr den Weg zu Tale frei.
In der Villa Talblick fand sie, ungewöhnlich genug, die Torlampe brennen und dazu noch zwei starke Lampen in das Fenster des Speisesaals gerückt, deren Schein kugelig im Nebel schwebte. Kaum hatte sie die Gartentür ins Schloß fallen lassen, da wurde schon die Haustür mit Ungestüm aufgetan; auf einen Ruf des Stubenmädchens eilten die Damen Rathmann herbei und stachen mit kleinen spitzen Schreien auf sie ein, daß die freudige Stille in ihr zerbarst.
»Wo waren Sie nur so lange? – Wir hatten solche Angst um Sie – eben wollten wir Sie suchen lassen! – Nebel in den Bergen ist so gefährlich …«
Sybille nahm sich kaum zu einigen hingeworfenen Worten der Beruhigung Zeit, es war undankbar, sie fühlte es wohl, denn die Bekümmerung der Schwestern war sicher echt. Doch ihr Widerstand gegen das Behütetsein, gegen die warme Nestenge war stärker als jeder guter Wille, sie stürmte durch die Halle; auf dem ersten Treppenabsatz aber holte sie doch noch ein Ruf von Fräulein Gertruds Lippen ein: »Wir haben auch eine Überraschung für Sie … kommen Sie nur recht pünktlich zu Tisch!«
Oben in ihrem Zimmer tobte Sybille wütig mit ihren Sachen, warf Brotbeutel und Jacke auf das Sofa, den Hut gar auf den Boden, streifte die derben Halbschuhe ab, ohne die Bänder zu lösen, und wirbelte sie böse in verschiedene Winkel: dann aber suchte sie alles wieder zusammen, ordnete, glättete und brachte es an die gehörigen Plätze. Was konnten auch die armen Dinge dafür, daß fremde Leute so entsetzlich wohlmeinend waren? So wies sie auch die Regung von sich, aus Trotz nun gerade nicht hinunterzugehen und das Abendessen auf ihr Zimmer zu verlangen. Ihre Welt lief eben auf Kugellagern, es mußte ertragen werden!
Dann aber nahm sie doch das Moosgrüne aus dem Schrank, das mit dem lachsfarbenen Einsatz, sie nannte es das tolle Stück und liebte es sehr. Und beim Betreten des Speisesaals verhielt sie einen kurzen Augenblick und ging dann erst zu ihrem Tisch hinüber. Ganz recht, sie war nicht mehr allein, es waren zwei Gedecke aufgelegt; schon kam auch Fräulein Gertrud von der Haupttafel herüber und flötete: »Wir haben Ihnen eine sehr interessante Nachbarin zugewiesen, Fräulein Wohlbrink, Sie waren doch gar zu einsam!« Aber sie verstummte gleich und glitt an ihren Platz zurück, Sybille hatte nur die Oberlippe hochgezogen, es konnte ein höfliches Grinsen sein, vielleicht aber auch der Ansatz zu einem Fluch. Es wiederholte sich sofort, denn nun machte Ruthchen vom unteren Tafelende her einen Versuch, sie in ein Gespräch über Bergnot im Nebel einzuspannen.
Aber da half ihr der Wirbel, der sich beim ersten Eintritt eines jeden neuen Gastes wiederholte: Fräulein Gertrud rauschte nochmals auf und nannte mit Feierlichkeit einen Namen: »Frau von Schaaper!« Ein Scharren und Murmeln der Begrüßung lief rundum, dann kamen lange, gleitende Schritte auf den Seitentisch zu; Sybille löffelte krampfhaft ihre Suppe und sah erst auf, als der Stuhl ihr gegenüber gerückt wurde und zugleich eine tiefe läutende Stimme Fräulein Gertrud abwehrte, die mit herübergekommen war, um die Vorstellung besonders zu vollziehen. »Ich glaube, wir kennen uns schon«, sagte die Stimme, und zugleich streckte sich eine herrlich nackte Hand über den Tisch, Sybille faßte sie und fand sich aufblickend wieder im Bann der großen Augen, vor denen es keine Geheimnisse zu geben schien.
»Fräulein Wohlbrink – Frau Edda von Schaaper«, sagte Fräulein Gertrud und deutete mit dürren Fingern, das ließ sie sich nicht nehmen. Dann erst zog sie sich zurück, nicht ohne leise Kränkung darüber, wie sehr sie ihre gesellschaftlichen Formen verschwenden mußte.
Sybille saß der Fremden in einer Wehrlosigkeit gegenüber, die unheimlich und doch schön war. »Was immer sie mich fragt – ich erzähle ihr alles!« sagte sie sich. Mit einmal saß ihr alles im Halse und würgte sie, die Zwiespältigkeit ihrer Herkunft, daß sie in Deutschland geboren, aber für Amerika erzogen war und darüber die Heimat eingebüßt hatte; daß nie ein Mensch ganz für sie dagewesen, daß sie niemals rückhaltlos geliebt, immer auf sich gestellt war – ah, nie zuvor hatte von einem zweiten Wesen so stark ein Funke auf sie übergeschlagen, niemals noch war ihr so plötzlich und ohne Geklügel die Gewißheit beschert worden, hier sei zu lieben, nichts sonst, nur zu lieben. Ihre Mutter hatte dieses Gefühl nicht zu wecken vermocht, nicht in dieser Bedingungslosigkeit zumindest; da hatte sich unter einer müden Güte allzubald das Abgeschlossene, Unüberwindliche gezeigt, verbotener Grund, der einem andern gehörte, dem Toten.
Das alles sprang in einem Augenblick auf, doch nicht mehr als Jammer, nein, jetzt gleich würde es auszusprechen sein und alle Qual verlieren. Sybille mußte Tee trinken, in hastigen kleinen Schlucken, sie fühlte ein trockenes Schluchzen aufsteigen, das ihr die Stimme nehmen würde.
Frau von Schaaper schien von Sybilles Erregung nichts zu merken, sie war mit der Suppe im Rückstand und hatte aufzuholen. Als aber der zweite Gang gereicht war, begann sie zu sprechen, ganz leicht und unbeschwert, und doch war da ein Unterton, der sehr persönliche Färbung gab: »Ist es nicht merkwürdig, daß auch Sie den Felsen unter dem kleinen Teich entdeckt haben? Ich kenne ihn schon sehr lange, ich komme ja seit Jahren immer wieder einmal her; dann ist mein erster Gang dort hinauf. Als ich heute Schritte hörte, war ich zuerst böse, dann sah ich aber, daß Sie sich noch viel mehr ärgerten, und mußte innerlich lachen über Ihr wütendes Gesicht – es sah so nett aus, daß ich gleich Platz machte, ich konnte nicht anders!«
Sybille merkte, daß sie bis über die Ohren errötet war, das besserte ihre Befangenheit nicht, sie konnte nur eine halbe Entschuldigung murmeln, die aber Frau von Schaaper nicht gelten ließ: »Aber ich bitte Sie, es gibt doch nichts zu verzeihen, ich verstehe das so gut! Entdeckereifersucht – ich sagte Ihnen ja, daß ich selbst zuerst wütend war, als ich Schritte hörte …«
Das Mädchen nahm die Teller ab, brachte neue für Käse und Obst, dabei gingen noch ein paar gleichgültige Worte hin und her. Dann aber hob Fräulein Gertrud sehr bald die Tafel auf, sie schätzte es nicht, wenn die Gäste sich nach Tisch festsetzten, einmal sollte im Eßzimmer nicht geraucht und zum andern ein möglichst vollzähliges Beisammensein in der Halle erreicht werden, die Damen Rathmann hatten eine Schwäche für Gesellschaftsspiele, die gelegentlich auf Gegenliebe stieß; eben war ein Regierungsrat a.+D. zu Gast, der täglich neue Überraschungen brachte; dann Herr Studienrat Krümast, der war Taschenspieler, es war mitunter so verblüffend, daß der Gute lächelnd versichern mußte: »Keine Angst, meine Damen, wirklich zaubern kann ich natürlich nicht!«
Solches also wurde in der Halle geboten, dazu noch Schach und Bridge, gelegentlich sogar ein Viertelstündchen mit Schallplatten, nicht zu laut und nicht zu lange allerdings, es war nicht jedermanns Geschmack und störte doch. Die Damen Rathmann sagten sich mit Stolz, daß sie Vortreffliches boten, und daß wirklich niemand, auch der Verwöhnteste nicht, Grund hatte, sich auszuschließen. Heute war noch Besonderes geplant, Fräulein Gertrud kam an den Tisch, an dem die beiden Damen noch verweilten, und säuselte Frau von Schaaper zu: »Ach, Sie werden uns doch von Ihrer letzten Reise erzählen, Liebste, es ist so ungeheuer spannend! Herr Regierungsrat von Pilatz würde sich besonders freuen!«
Frau von Schaaper hatte Zeit, einen ganz schnellen, unmerklichen Verschwörerwink mit Sybille zu tauschen, dann sagte sie mit größter Liebenswürdigkeit: »Heute nicht, Beste, ich bin etwas durchfroren und möchte gleich hinauf. Ein andermal gern – aber heute entschuldigen Sie mich!«
»Und Fräulein Wohlbrink?« fragte Fräulein Gertrud, nicht ohne Essigsäure. Aber auch Sybille lehnte ab, der späte Spaziergang sei für sie wohl etwas viel gewesen. Dabei hatte sie Mühe, den Jubel zu unterdrücken, der sie wegen des geheimen Einverständnisses mit Frau von Schaaper erfüllte.
Fräulein Gertrud zeigte durch ein Lächeln, daß sie die Absagen als krassen Undank buchte. Frau von Schaaper ging mit Sybille die Treppe hinauf und meinte, sobald sie außer Hörweite waren: »Zum Schlafengehen ist es wirklich noch zu früh – hätten Sie nicht Lust, noch eine Tasse Tee bei mir zu trinken? Wenn Sie selbst nicht zu müde sind, heißt das!«
Doch Sybilles Ja ließ keinen Zweifel darüber, wie sehr sie sich freute.
Frau von Schaaper bewohnte das große Eckzimmer im ersten Stock, das im Hause »Gala eins« genannt wurde; es war sehr geschickt eingerichtet, das Bett stand in einer Nische, hinter einem Vorhang verborgen, ein winziger Nebenraum enthielt Brause und Waschtisch, die Schränke waren eingebaut, im Zimmer selbst blieben wenige, ausgesucht gute Möbel, eine große Couch, ein Schreibtisch, ein runder Mitteltisch mit tiefen Armstühlen und ein Teewagen.
Sybille stutzte beim Eintreten über den durchaus persönlichen Geruch, ausländische Zigaretten, ein herbes Parfüm, Lederzeug, Seife, der starke Rauchduft des Homespuns – ach ja, das war der Duft der weiten Welt.
In einer Ecke stand ein Schrankkoffer, dessen eine Seite mit Hotelschildchen ganz beklebt war. Über die Couch war ein indisches Seidentuch mit schwerer Stickerei geworfen, auf dem Tisch stand ein Sandelholzkästchen mit Zigaretten neben einer schön geschnittenen Jadeschale, die als Aschenbecher diente.
»Setzen Sie sich, Kind, ich mache uns gleich den Tee zurecht«, sagte Frau von Schaaper und steckte die Schnur des Tauchsieders in die Dose. Dann zog sie den Teewagen näher zur Couch heran, begann an den Kannen, Tassen und Dosen zu hantieren und erzählte dabei: »Sehr nette Leute, die Rathmanns, meine und ihre Eltern waren gut bekannt, darum komme ich immer wieder mal her; man ist ja glänzend aufgehoben. Wenn sie nur verstehen wollten, die Guten, daß manche Leute für Geselligkeit einfach nichts übrig haben – ich zum Beispiel!« – »Ich auch!« lachte Sybille. »Aber sie meinen es so gut!«
»Ja, das ist eine unerhörte Verschärfung des ganzen Aufenthalts! Jedesmal ärgere ich mich und nehme mir fest vor, nie wiederzukommen – aber dann zieht es mich doch wieder her. Ich liebe das Riesengebirge sehr, eigentlich mehr als die Alpen, und wenn ich schon herkomme, gehe ich natürlich zu Rathmanns, man wird so konservativ, wenn man kein Zuhause hat!«
»Sie haben …?« fragte Sybille mit großen Augen und brach ab, sie wollte nicht verletzen. Doch Frau von Schaaper schien es nicht schwer zu nehmen: »Nein, ich bin überall und nirgends zu Hause, ich habe es von klein auf nicht anders gekannt. Mein Vater war Diplomat, ich bin in Buenos Aires geboren, dann waren wir in Mexiko, dann in Schanghai, das ist meine erste klare Erinnerung, die chinesischen Boys im Hause. In Indien waren wir nur zwei Jahre, meine Mutter vertrug das Klima nicht, wir kamen nach Kairo, dort starb sie, ich war zehn Jahre alt. Die Verwandten rieten meinem Vater, mich in Deutschland erziehen zu lassen, aber er wollte sich von mir nicht trennen – er behielt mich bei sich, in Konstantinopel zunächst, dann in Santiago de Chile, endlich im Haag, dort starb auch er.«
»Wie alt waren Sie da?« fragte Sybille stockend.
»Ich? Knapp zwanzig Jahre, so alt wie Sie jetzt!«
»War das nicht furchtbar hart?«
»Ja – ich war zuerst wie verloren vor Einsamkeit, ich klammerte mich an den erstbesten, der mir in die Nähe kam …« Sie brach ab und widmete sich mit aller Aufmerksamkeit der Teebereitung, wie man sie nur im Fernen Osten lernt: heißes Wasser in die irdene Kanne, und wieder abgegossen, dann den Tee hinein, in abgemessenen Löffelchen; während die zarten Blättchen sich in der angewärmten Kanne aufrollen, wallt das Wasser im Sieder zum ersten Male auf – das ist der Augenblick, ein zweites Aufwallen würde schon dem Geschmack schaden. Dann siebzehn Atemzüge lang ziehen lassen – doch was dann in die hauchdünnen Schälchen fließt, scheint der verflüssigte Duft fremder Blüten, das Zimmer erfüllt sich davon.
»Tee und Zigaretten sind mein großer Luxus«, sagt Frau von Schaaper. »Ich führe meine Marken immer mit, oft habe ich schon grimmigen Zoll zahlen müssen. Aber ich finde, eine Freude muß man sich doch gönnen dürfen!« Es ist ein kleiner, bitterer Ton auf dem »eine«, Sybille steht erschreckt auf, doch Frau von Schaaper vermeidet ihren Blick, greift hastig nach Zigaretten und meint dabei: »Aber das ist ganz unwichtig – es wäre mir viel lieber, wenn ich von Ihnen etwas erfahren könnte! Ein so junges, starkes Mädel, und schon so viel Wissen in den Augen, als hätten Sie Schlimmes durchgemacht? Irre ich mich?«
»Gnädige Frau …«, stotterte Sybille. Frau von Schaaper wartet einen Augenblick, ehe sie weiterspricht: »Kind, wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen, dann lassen Sie die ›gnädige Frau‹ weg und nennen mich Edda oder Frau Edda, wenn Sie wollen. Ich glaube, Sie haben so gut wie ich Verständnis für plötzliche Sympathie – und ich könnte ja wirklich Ihre Mutter sein!«
»Ja, o ja!« haucht Sybille, und die Tränen schießen ihr in die Augen. Sie beugt sich über die nackte Hand, die sich auf ihr Knie legen will, doch die Hand weicht ihrem Kusse aus und streicht über ihr Haar; es ist ein eigener Rhythmus in diesem Streicheln, nichts von Wehleidigkeit, nichts von betontem Mitleid, eher ein Mahnen zu Halt und Besinnung. Aber Sybille kann der Mahnung nicht folgen, so gut sie sie versteht und so gern sie möchte. Zu lang und zu schmerzlich hat sie dieses mütterliche Nahesein und Verstehen entbehrt, sie kann plötzlich gar nicht mehr begreifen, wie sie die Einsamkeit so lange ertragen konnte. »Enttäusche mich nicht!« klingt die Stimme des Onkels Hagen in ihr auf und erfüllt sie mit einer namenlosen Bitterkeit, einen Augenblick nur, dann ist die neue Wärme wieder da und der streichelnde Druck auf ihrem Scheitel.
»Bißchen viel allein gewesen«, sagte Frau Eddas Stimme über ihr. »Ohne Mutter aufgewachsen, ich kenne das!«
Sybille bleibt niedergebeugt, aber sie hält den Atem an und strafft sich ganz; wenn sie sich nicht in der Hand behält, muß sie den ganzen Jammer hinausheulen, das soll doch nicht sein …
»Ich kenne das«, wiederholt die tiefe Stimme und setzt nach einer kleinen Pause hinzu: »Ich habe es ja auch durchwachen müssen!« Diesmal ist die Mahnung deutlicher, unverkennbar, zugleich hält die Hand mit Streicheln inne, die andre faßt unter das Kinn und hebt den gebeugten Mädchenkopf hoch. Sybille wehrt sich schwach, sie will die verweinten Augen nicht sehen lassen, doch Frau Edda hält sie mit leisem Nachdruck, zieht ein duftendes Taschentüchlein und beginnt ihr die Augen zu tupfen. »Es ist englisches Parfüm, hayblossoms wohl«, denkt Sybille und muß gleich darauf lächeln, weil ihr das jetzt einfallen kann.
»Recht so!« lobt Frau Edda, vielleicht hat sie das Lächeln mißverstanden oder sie will Sybille darauf festnageln, es soll keine hochdramatische Szene werden. Sybille merkt es und setzt sich zurecht: »Verzeihen Sie!« sagt sie, die Stimme ist noch nicht ganz fest, »verzeihen Sie – ich hab' mich so gehen lassen! Ich bin sonst keine Tränenweide, aber diesmal hat es mich so gepackt …«
»Genug, reden wir nicht davon!« sagt Frau Edda, tupft ein letztes Mal mit dem Tüchlein und gibt Sybille frei. Nun sitzen sie einander nahe gegenüber, die eine auf dem unterschlagenen linken, die andre auf dem rechten Bein. Frau Edda macht umständlich eine Zigarette zurecht, klopft sie auf dem Handrücken, hält Sybille das silberne Feuerzeug hin und nimmt sich zugleich selbst Feuer; nach den ersten tiefen Zügen spricht sie weiter: »Ich will Ihnen etwas sagen, Kind, ich weiß nicht, ob Sie es schon verstehen werden: Was man erlebt, ist fast gleichgültig; was man daraus macht – darauf kommt es an!«
»Das verstehe ich sehr gut«, sagt Sybille eifrig, »es ist mit mir nur so, daß ich noch nie dazu gekommen bin, etwas aus meinen Erlebnissen zu machen – es war immer alles stärker als ich, ich wurde gemacht …«
»Purzelbaum!« unterbricht Frau Edda lächelnd. »Ich schieße nicht, man schießt mich!«
»Jawohl, ich weiß, auch das ist schon vorweggenommen!«
»Kindchen, Kindchen!« begütigt die Ältere. »Kann es Ihnen wirklich noch nahegehen, daß es kaum ein Eigenschicksal gibt? Damit muß sich doch jeder Mensch abfinden, der weiter will! Ich möchte Sie ja nicht mit Morgenstern trösten …«
»Geh heim in deinen Purzelwald und lästre dein Geschlecht nicht!« zitierte Sybille etwas bitter.
»Nein, damit will ich Sie nicht trösten – Sie kommen schon von selbst dahin!«
Da ist Sybille mit einem Schlag voll Widerstand, sie rückt etwas ab und sprudelt heraus: »Ich will aber nicht, daß mir das Leben auf den Kopf fällt wie ein Ziegelstein vom Dach! Solche Dinge, wie ich sie jetzt eben erlebt habe, machen mich einfach toll!« Und sie erzählt von Gottfried und seinem dummen Streich, ah, es ist eine Wohltat, sich den Zorn einmal von der Seele zu reden, die Sache ist ja noch nicht aus, niemand kann sagen, was daraus wird. Aber Frau Edda scheint es nicht einzusehen, sie behält das etwas nachsichtige Lächeln: »Ist das so schlimm?« fragt sie.
»Schlimm?« wiederholt Sybille. »Wenn ich ihn etwa heiraten muß?«
Sybille ist bestürzt über die Frage, Frau Edda überblickt also die ganze Tragweite offenbar nicht, man müßte weiter ausholen, und das ist so schwer … aber schließlich rafft sie sich doch auf: Es ist das Andenken des toten Vaters, den sie nicht gekannt hat und dem sie doch verantwortlich ist; die Mutter, die alte Kinderfrau, schließlich der Vormund – alle haben sie dazu erzogen; es ist durchaus möglich, daß ihr demnächst bei ihrer Volljährigkeit ein Wunsch des Vaters mitgeteilt wird, der über ihre Staatszugehörigkeit bestimmt, vorläufig weiß sie nur, daß sie noch nicht früher nach Amerika darf. »Ich habe keine Heimat, das ist schlimm genug«, sagt sie. »Und jetzt soll ich vielleicht noch einen Mann heiraten, den ich nicht liebe, der es wußte, daß ich ihn nicht liebe, und mich trotzdem festgenagelt hat? Eine Wohlbrink kann man natürlich festnageln, das ist der Jammer, eine Wohlbrink tut das und läßt jenes, und vor allem: gewisse Dinge passieren einer Wohlbrink nicht, das darf einfach nicht sein!«
Frau Edda lächelt nachdenklich und meint: »Das ist freilich kein glatter Fall, darüber werden wir noch manches Wort reden müssen. Heute ist es reichlich spät geworden …«
»O Gott, ja!« ruft Sybille, sieht auf die Armbanduhr und springt auf. »Verzeihen Sie, es war unbescheiden von mir …«
»Nichts zu verzeihen, Kind«, sagt Frau Edda und legt einen Augenblick ihre Hand an Sybilles Wange, immer noch mit dem nachdenklichen Lächeln. »Wenn man raten soll, muß man doch selbst im klaren sein, und das bin ich nicht, ich gestehe es ganz offen ein. Ich dachte doch, die heutige Jugend ist so frei, Kleinigkeiten könnten sie gar nicht belasten …«
»Kleinigkeiten?« wiederholt Sybille.
»Ja doch, an sich war es eine Kleinigkeit! Daß Sie bei Ihrem Robinsonspielen gerade mit Mördern in Berührung kommen mußten und dann noch mit der Polizei, die die Mörder suchte, das ist einfach Pech und hat doch mit Ihnen nichts zu tun. – Aber lassen wir das, ich möchte selbst erst darüber nachdenken. Auf morgen, Kind, schlafen Sie gut – hoffentlich hat es Sie ruhiger gemacht, daß Sie es mir erzählen konnten –, ich danke Ihnen auch schön dafür!«
»Oh, oh!« stammelt Sybille, faßt die Hand, die sich ihr entziehen möchte, und führt sie an die Lippen. »Nur ich, nur ich habe zu danken!«
»Gut also! Wenn es Ihnen lieber ist …«, sagt Frau Edda und geleitet sie auf den Gang hinaus, in dem schon die schwachbläuliche Nachtbeleuchtung eingeschaltet ist. Vom andern Ende her, wo die Privatzimmer der Damen Rathmann liegen, tönt ein Huschen und ein schwaches Räuspern, dann klappt eine Tür.
»Fräulein Gertrud liebt es nicht, wenn Gäste auf den Zimmern bis spät nachts zusammensitzen!« flüstert Frau Edda mit beschwörender Geste. Und Sybille schleicht auf Zehenspitzen davon.