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VI

Als der Zug in den Danziger Bahnhof einläuft, muß Sybille sich gestehen, daß sie auch nicht ruhiger ist als ihre Freundin. Natürlich geht sie nicht so weit, Rot auf Lippen und Wangen aufzulegen, Brauen und Wimpern nachzuziehen – nichts und niemand könnte sie dazu bringen, Sybille haßt die Schminkerei. Aber das Hütchen will nicht richtig sitzen, der Handschuh läßt sich nicht knöpfen, der Schirm fällt ihr zweimal vom Arm – das sind so Zeichen.

Ruhig ist sie nicht, davon kann keine Rede sein. Sie ist ihrer selbst nicht ganz sicher, traut ihren Beweggründen nicht, das ist es wohl. Frau Edda hat sich unterwegs die Begegnung immer wieder und mit einem Eifer ausgemalt, der hinlänglich zeigt, daß der Mann sie noch fest genug hält. Nach Zoppot fahren, die Scheidung regeln und wieder fort – nein, so einfach wird das nicht. Hat sich Sybille nicht zuviel zugemutet mit dieser Rettung? Ist es überhaupt eine Rettung, nicht nur eine Aufgabe, die sie sich in Eile gestellt hat, um ihrer eigenen Flucht das ethische Mäntelchen zu geben?

Vorgestern, in dem vornehmen Familienheim der Damen Rathmann, hatte alles so einfach ausgesehen: ein unmöglicher Mensch, ein halber Verbrecher, der eine wehrlose Frau – ja, das war Frau Edda, wehrlos bei aller scheinbaren Selbstsicherheit – mit unlauteren Mitteln an sich gekettet hielt – dieser Mensch mußte ausgeschaltet werden, abgeschafft, er mußte weg, kurz und gut, mochte er selbst sehen, wo er blieb.

Nun aber sollte sie diesem nebelhaften Mann Aug' in Auge gegenübertreten, es war sehr möglich, daß er sich mit der Rolle der Schachfigur, die ihm zugedacht war, nicht zufrieden gab und für die Einmischung böse Worte fand, ja, die Aussichten waren nicht ganz beruhigend.

Der kleine Ruck, mit dem der Zug in der Halle anhielt, traf Sybille wie ein freundschaftlicher Rippenstoß, der zur Haltung mahnte. Sie rückte ein letztes Mal den widerspenstigen Filz schräg in die Stirn, setzte ihr schneidigstes Gesicht auf und legte der Freundin kurz den Arm um die Schultern: »Mut, Edda! Bald ist alles vorbei – ich helfe dir durch!«

Aber der erwartete Dank – stumm oder beredt – blieb aus, Frau Edda hatte nur Augen für den Bahnsteig draußen, auf dem sich die Wartenden drängten. »Mario!« rief sie plötzlich und trommelte an die Scheiben. »Mario!«

Sybille sah, wie ein älterer Herr den Kopf hob und zurückwinkte, ein Blick durchfuhr sie wie ein Stich und hinterließ ein zitterndes Unbehagen; nein, der Mann dort war kein unwichtiger Bauer, der wollte Läufer oder Turm spielen, König vielleicht …

Draußen auf dem Bahnsteig beugte sich Herr von Schaaper mit vollendeter Höflichkeit über Sybilles Hand, strafte aber gleich darauf die Kriegslist seiner Frau Lügen. Sie hatte sehr förmlich vorgestellt: »Herr Mario von Schaaper – Fräulein Sybille Wohlbrink!« Wie eine deutliche Bitte um Abstand hatte es geklungen. Nun aber fragte der Mann zurück: »Du hattest mir nicht gesagt, daß du nicht allein kommst … Eine Reisebekanntschaft?«

Eine häßliche Frage, Sybille fühlte, wie sie dadurch beiseitegedrängt werden sollte; doch das erschreckte sie nicht so sehr wie der Ausdruck in Eddas Augen, eine Bitte um Entschuldigung, demütig … Oh! Sybille biß sich auf die Lippe vor Zorn.

Nun spricht Frau Edda: »Wir waren zusammen im Riesengebirge – Fräulein Wohlbrink war mir eine liebe Gesellschaft!« Und sie erwähnt Einzelheiten.

»Alles falsch!« denkt Sybille wütend. Weitschweifige Erklärungen – wozu das? Und sieht dem Mann trotzig in die Augen. Aber er nimmt die Herausforderung auf eine Weise an, die unfaßbar und doch bedrohlich ist: mit einem halben Lächeln, das einen Eckzahn freigibt, mit einem Blick unter schnell gesenkten Lidern hervor … Sybille hat nie zuvor Ähnliches erlebt, sie fühlt genau, daß sie besser täte, sich sofort zurückzuziehen, dies ist eine fremde Welt, mit der sie nichts gemein haben kann. Aber gleich ist ihr Stolz wieder wach – sie darf die Freundin nicht verlassen, mit dem Rat zur Trennung hat sie auch ihr Wort gegeben.

Ein unmerkliches Vorspiel, das schnell beendet ist. Schon in der Vorhalle hat Herr von Schaaper durchaus den weltmännischen Ton: »Wie gut«, sagt er lächelnd, »daß ich nicht den Zweisitzer genommen habe – so werden wir alle Platz haben! Als ob ich es geahnt hätte …!«

Sybille gibt ihm das Lächeln nicht zurück, sie hat ihn von der Seite aufmerksam angesehen, als kluge Kämpferin, die die Stärke des Gegners erkunden will. Nun muß sie mit leisem Mitleid an Eddas Worte an jenem Abend denken: »Er war schön, Sybille – oh, er war schön!« Heute? schlank und dunkel, ja – aber da sind Säcke unter den Augen, Fältchen und Runzeln, beim Abnehmen des Hutes vorhin hatte sich eine kahle Stirn gezeigt, die erst weit gegen den Scheitel zu auf etwas wie Frisur stieß; das Schnurrbärtchen unverkennbar gefärbt, Raucherzähne, gelb und lang. Und die Kleidung – tadellos elegant, gewiß, hier waren teure Modejournale mit Erfolg studiert worden, doch überall ein kleines Zuviel, eine winzige Unstimmigkeit: der Überrock auf Taille gearbeitet mit seidenem Aufschlag, die Handschuhe zu gelb, die schwarzen Steppnähte zu breit, die Schuhe teure Maßarbeit, ja – aber der helle Wildledereinsatz und die drei übereinandergesteppten Lackkappen? Und die Agraffe, die den breiten Seidenbinder hielt? »Arrivierter Zigeunerprimas!« stellte Sybille innerlich fest, während sie neben Edda in das Auto stieg, einen wuchtigen Amerikaner. Herr von Schaaper nahm das Steuer, der Chauffeur setzte sich neben ihn, ein Mann in Kord mit Metallknöpfen, merkwürdig unbekümmert in der Haltung.

Sybille vermied es, Edda anzusehen, sie wollte nicht einmal mit Blicken um ihre Eindrücke befragt sein. Schaaper fuhr scharf, auf der breiten Prunkstraße durch Langfuhr legte er gewaltiges Tempo vor, bremste vor Hindernissen rücksichtslos ab, drehte wieder auf … Sybille haßte sein Fahren, sie wollte die Fahrbahn nicht mehr sehen und wandte den Kopf zum Seitenfenster hin, an dem die umgitterten Villengärten vorbeiglitten. Bei einem leichten Schleudern des Wagens faßte sie haltsuchend nach der Fensterkante, geriet in eine Seitentasche und zog die Karte hervor, die sie unter ihren Fingern fühlte: »Petruschat, vornehme Mietautos für Stunden und Tage« stand darauf. Es überraschte sie nicht, sie fand es der Atmosphäre von Hochstapelei durchaus angemessen. Während sie aber noch bemüht war, die Karte zurückzustecken, ohne daß Edda sie bemerkte, beugte sich die Freundin ihr zu und flüsterte: »Ein erstklassiger Wagen … Er muß stark gewonnen haben!«

Da ertappte sich Sybille bei dem Wunsch, vor diesem Flüstern zurückzuweichen wie vor einer unreinen Berührung, es war mehr als bloßer Wunsch, es war Ekel, die aufgeregte Matrone da war ihr fremd bis zum Widerwillen. Aber sie faßte sich sofort, rief sich zur Ordnung und zwang sich, Frau Edda in einer schwesterlichen Gebärde die Hand aufs Knie zu legen: schwache Frau, zu schwach, sich ganz und rückhaltlos dazu zu bekennen – schwache Frau! Sybille, geborgen in ihrem Mädchentum, fühlte sich als ein Hort der Kraft, sie mußte der armen Hilfsbedürftigen da die Treue halten. Von Freundschaft allerdings war keine Rede mehr, neben einem solchen Gatten konnte niemand Sybille Wohlbrink zur Freundin haben, schon dadurch, daß für diesen Jammerfuchs einmal Platz gewesen war, verbot sich für eine Wohlbrink jede Nachfolge. Sie mußte an Eddas Frage denken: »Was verstehst du unter Freundschaft?« und erfaßte sie jetzt erst ganz. Nein, dies verstand sie unter Freundschaft nicht!

Dabei fühlte sie aber, wie die Hand, die sie immer noch auf Eddas Knie hielt, angefaßt und in ihren Schoß zurückgelegt wurde, oh, ganz sanft und demütig; es war, als hätte Frau Edda in Sybilles Gedanken gelesen und nähme ihr Urteil hin. Und die kleine stumme Gebärde brachte Sybille klarer als viele Worte den Widerspruch zum Bewußtsein, in den sie sich verstrickt hatte: zwischen den Geboten der Menschlichkeit und des Herkommens; für sich selbst hatte sie Willensfreiheit verlangt – sollte sie in einem andern, wenn auch krasseren Falle nach dem Buchstaben richten?

So faßte sie nach der demütigen Hand, die ihre Berührung abgelehnt hatte, drückte sie leicht und hielt sie, doch ohne die Freundin anzusehen, bis der Wagen vor einem der großen Hotels in der Nähe des Kasinos vorfuhr.

Schaaper am Steuer wandte sich und erhaschte eben noch das Bild der beiden Freundinnen, Hand in Hand mit starr geradeaus gewandten Gesichtern. Sobald sie sein Lächeln fühlte, eine giftige Frage, raffte Edda sich auf und machte sich hastig ans Aussteigen. Sybille aber betonte eine Langsamkeit, die den Mann am Wagenschlag demütigen sollte. Er zeigte keine Wirkung, nur sein Lächeln verzerrte sich.

*

Im Hotel waren Zimmer nur für Herrn und Frau Schaaper bestellt, der Portier hatte einen kurzen kleinen Aufblick, ehe er Sybille ein Zimmer anwies, auf dem gleichen Flur zwar, doch nach dem Innenhof zu, wie sich oben zeigte, sehr einfach eingerichtet, für gehobene Zofe etwa. Als Sybille in den engen vier Wänden allein war, hatte sie Mühe, einen Anfall von Heimweh und Verlorenheit zu unterdrücken. Einem Schaaper glaubte man ohne weiteres den Anspruch auf Vorderzimmer mit Balkon und Seeblick, eine Wohlbrink aber brauchte durch Zufall nur mit kleinem Gepäck anzukommen und wurde schon ins Zofenzimmer gesteckt. War das die gerühmte Welt- und Menschenkenntnis der Hotelportiers?

Dann tröstete sie sich aber in dem Gedanken, daß ihr das Vorderzimmer doch zu teuer gewesen wäre, sie mußte ja sparen, Onkel Hagen war sicher wütend über diese zweite Flucht, ihm durfte sie mit Bitten um Geld nicht kommen, nein, lieber wollte sie sich die Zunge abbeißen beziehungsweise im Zofenstübchen wohnen.

Der fehlende Seeblick erwies sich als Vorteil, so kam sie nicht in die Versuchung, die Gegend vom Zimmer aus zu betrachten. Mit Schaapers sollte sie erst vor dem Abendessen in der Halle wieder zusammentreffen, bis dahin lagen drei freie Stunden vor ihr.

Der breite Seesteg war menschenleer, die regenweiche Abendluft lockte wohl niemand. Die See lag glatt, der Hall der Schritte auf den Planken übertönte das leise Klappen der Wellchen gegen die Piere. Unter den niedrigen Wolken stand ein opalfarbenes Licht, fast körperlich fühlbar, wie durch den Druck zwischen Himmel und See verdichtet. Das nahm der See die Unendlichkeit, machte sie klein und traulich, man meinte, es müsse jeden Augenblick Familienbesuch herübergerudert kommen.

Ganz am Ende der Landungsbrücke stieg Sybille die Stufen zu einer tieferen Plattform hinab, wo ein Mädchen Liegestühle und Decken vermietete. Sie fror, die Ärmste, durch das Sonnenbraun besserer Tage schien grünlichblaß die Kälte, aber sie hielt aus, tatsächlich sah man weiter weg im Halbdunkel zwei, drei langgestreckte Gestalten liegen wie eingenähte Seemannsleichen, fertig für das nasse Grab.

Sybille erschauerte trotz der warmen Brise; dies hier war nicht die Landschaft, die ihr Stärke oder Zuversicht geben konnte, und doch würde sie beides recht nötig haben in den nächsten Tagen. Als sie sich zum Gehen wandte, brachte ein Brausen aus der Höhe Leben in die hingestreckten Gäste, sie reckten übernächtigte Köpfe aus den Decken. Auch Sybille sah hinauf; da zog ein Flieger unter den Wolken hin, die ihn mit weichen Bäuschen streichelten. Die silbernen Schwingen leuchteten in Sonnenstrahlen, die nicht bis zur Erde drangen; Sybille nahm es sich, wie oft zuvor, zum Sinnbild ihrer Wünsche.

»Der Ostpreußenflieger«, sagte eine Stimme knapp hinter ihr. Sie rührte sich nicht – sollte sie etwa angesprochen werden? Es fehlte nichts sonst! Aber da war ein Lachen in der Stimme, das nichts von unerlaubter Annäherung wußte, nun fühlte sie sich doch versucht, den Jungen anzusehen, der gar so unbekümmert tat. Als sie langsam den Kopf wandte, sah sie in ein lachendes braunes Gesicht unter hellem Haar; die Augen, ganz licht und scharf, nahmen sich kaum Zeit, ihren Blick zu erwidern, und folgten prüfend dem Flieger oben, der nun in dichtere Wolken geriet. »Die Kiste schaukelt nicht schlecht!« sagte die lachende Stimme; Sybille mußte feststellen, daß der Mund sehr lebenslustig geschweift war, die Zähne stark und ebenmäßig, ja, kein übler Junge soweit; um die Augen lagen übrigens hellere Ringe, die in einen dünnen Streifen zu den Ohren hin verliefen, es sah nach Autobrille aus – oder Fliegerbrille? Der Gedanke veranlaßte einen zweiten Blick, der diesmal die Gestalt umfaßte – der Anzug hatte nichts von Uniform, immerhin zeigte er breite Schultern und schmale Hüften, sicher kein Lot Fett, der Junge war nicht unerfreulich, Sybille hielt ein verzeihendes Lächeln bereit. Aber sie hatte nicht gleich Verwendung dafür, der Junge sah immer noch dem Flieger nach, der nun schon ganz weit weg war; das Brausen war kaum noch zu hören, nun tauchte der Silbervogel in Wolken unter, da wandte der Junge den Kopf und begegnete dem Mädchenlächeln.

»Wegen!« sagte er. »Es gibt nichts Schöneres!«

Das Lächeln deutete andere Möglichkeiten an, doch er schien es nicht zu sehen und fuhr fort: »Nächstens fliege ich selbst die Strecke hier–au Backe!« Dabei schnalzte er mit den Fingern, dann gar mit der Zunge – Sybille mußte neidlos zugestehen, daß es ungeheuer knallte, sie selbst brachte sicher nichts Ähnliches zuwege. Als er ihren prüfenden Blick gewahrte, wiederholte er das Schnalzen, fast noch lauter, sie sah ihm auf Mund und Finger, um den Trick zu finden, aber es lag wohl an den harten Sehnen; da kam ein Mädchen nicht mit.

Dann lachten sie beide, es machte sich ganz von selbst; Sybille merkte nicht ohne Bitterkeit, daß sie lange nicht mehr unbekümmert gelacht hatte; bei dem Jungen war es natürlich anders, der sah ganz so aus, als hätte er jeden Augenblick eine Welt zu verschenken. Die Art übrigens, wie er sie anlachte, schien Sybille nicht ganz passend, so unverhohlen hatte man es wohl nicht zu zeigen, wenn einem ein Mädchen gefiel. »Ich will nicht putzig sein«, sagte sich Sybille, »aber …« Doch da lachte sie schon wieder zurück, es traf sich so.

»Was machen Sie hier?« fragte der Junge.

»Ich …?« fragte Sybille zurück, ihr blieb nichts andres, sie brauchte Bedenkzeit, denn, ach ja, sie hatte plötzlich das Gefühl, daß sie dem Blonden da die ganze lange Geschichte von der Jagdhütte bis zu dieser Stunde erzählen würde, wenn er es darauf anlegte. Und dazu durfte es nun wirklich nicht kommen – noch nicht, fügte sie in Gedanken hinzu und wurde rot über die hoffnungsvolle Einschränkung.

»Allein hier?« fragte er.

»Jjja … das heißt …«, stotterte sie und verstummte. »Jetzt soll er mich noch für schüchtern halten«, wütete sie gegen sich. Er schien es nicht wichtig zu nehmen und warf nur einen beredten Blick über die leere Plattform. Die Matrosenleichen hatten sich längst verflüchtigt, das frierende Mädchen schob eben den letzten Liegestuhl in die kleine Kabine, schloß ab und ging.

»Verdammt ungemütlich hier – wollen Sie denn noch bleiben?« fragte der Blonde. Das »verdammt« fand Sybille reichlich überflüssig, darum sagte sie nur: »Ich habe nichts vor.« Es konnte verschiedenes heißen, der Junge aber hörte natürlich nur das heraus, was ihm paßte. »Großartig«, sagte er. »Dann können wir ja zusammengehen! – Gestatten Sie übrigens, daß ich mich vorstelle: Joachim Gottarp.« – »Ich heiße Sybille Wohlbrink«, sagte sie und wechselte einen freimütigen Händedruck. Dann stiegen sie die Treppe hinauf. Auf der Brücke oben war es etwas heller, doch der Abend war nicht schön, der Himmel diesig und verschmiert, die See papierglatt. »Nicht sehr aufregend, die Gegend hier«, meinte Sybille obenhin, nur um ein Gespräch in Gang zu bringen. Es gelang ihr nicht ganz nach Wunsch, denn Joachim knurrte etwas, sie mußte tatsächlich »Wie?«'fragen, sie meinte nicht recht gehört zu haben, aber da wiederholte er bereitwillig: »Quatsch! Jawohl, Quatsch habe ich gesagt! Wenn die guten Mitteleuropäer sich einmal hier herauf verirren und uns so recht mitleidig fühlen lassen, wie stiefmütterlich uns die Mutter Natur bedacht hat – das mag ich gar zu gern! – Ich hätte Sie für vernünftiger gehalten«, fügte er in einem Ton hinzu, der anders, aber nicht weniger grob war. Sybille mußte nach Luft schnappen, als hätte man ihr kaltes Wasser in den Kragen gegossen. Ehe sie ein Wort herausbrachte, redete er schon weiter: »Wissen Sie denn überhaupt was von hier oben? Hier vom Osten, meine ich«, setzte er hinzu und umfaßte mit einer weiten Armbewegung die Bucht und das flache Land, das dahinter verdämmerte. »Wie das alles geworden ist?« Sybille sah ihn groß an und schüttelte gehorsam den Kopf, wie ein Schulmädchen, Worte hatte sie noch nicht. »Aber Italien kennen Sie genau, vielleicht auch Spanien, einen Fetzen Griechenland, Ägypten, Tunis, Algier dazu – wie?« Wieder nickte Sybille. Onkel Hagen hatte sie zweimal auf die herkömmliche Osterreise nach Rom mitgenommen und einmal auf eine große Mittelmeerfahrt, er gehörte zu den Böcklindeutschen, für die es ohne Italien keine wahre Bildung gab. Sybille hatte sich ihm darin bedenkenlos angepaßt – jetzt mit einmal bereute sie es, denn sie mußte einiges über sich ergehen lassen: »Das Mittelmeer – natürlich!« sagte Joachim und machte lange Schritte. »Gehört ja zum guten Ton! Der richtige Teich, in dem die Bürgergänschen das Plätschern lernen!«

»Nun hören Sie aber einmal!« sagte Sybille streng und blieb stehen. »Ist Ihnen vielleicht nicht gut?«

»Mir? Glänzend!« gab er zurück und lachte sie seelenruhig an. »Hätte ich übrigens Sie für ein Bürgergänschen gehalten, dann hätte ich es doch nicht gesagt – da haben Sie sich unrecht getan! Nur keine falsche Bescheidenheit!«

Sybille mußte den Kopf schütteln, wie nach einem Kinnhaken. »So was von Frechheit …!« sagte sie.

»Ja, ich bin bekannt dafür – gehen wir weiter?« Damit ging er schon, und sie – o Schmach! – hielt Schritt, sie machte keinen Versuch, es vor sich zu beschönigen, es war eine Niederlage. Doch er erwies sich als großmütiger Sieger, denn er lenkte sofort ein: »Sie müssen es recht verstehen, wenn man etwas quellfrisch wird, sobald jemand was gegen das Land hier sagt … Wir lieben es sehr, gerade weil es arm ist und hart – und weil ihm viel Unrecht geschehen ist. – Und das mit der Gegend hier, das stimmt natürlich, die ist pomadig, ein großer Badeort eben … Aber das soll doch niemand sagen, der sonst nichts gesehen hat, die Nehrung nicht, Oliva, Danzig und die Niederung … Verstehen Sie das nicht? Von den Zuggänsen erwartet man ja nichts Besseres – aber wenn dann ein richtiges Mädel herkommt und auch gleich die Nase rümpfen möchte, da soll man wohl ungalant werden?«

»Ich wußte nicht, daß Sie Danziger sind«, sagte Sybille und ärgerte sich, weil es so förmlich klang. Doch Joachim blieb unberührt davon, er grinste: »Ich bin es gar nicht … aber das ist eine lange Geschichte, ein sehr interessantes Tischgespräch übrigens, für ein nettes Abendessen …«

»Ich bin leider verabredet – wenn Sie darauf zielen«, sagte Sybille. Seine Stimme wurde ganz tief vor Bedauern: »Oh, wie überaus sehr schade! – Aber morgen, morgen darf ich Ihnen doch Danzig zeigen, um Sie eines Besseren zu belehren?« Sie waren vor dem Hotelportal angelangt, Sybille verlangsamte den Schritt, ohne zu antworten. »Morgen um zehn, hier vor dem Portal?« drängte er. »Und vielleicht sind Sie dann mittags nicht verabredet« – »Vielleicht!« lächelte Sybille über einen flüchtigen Händedruck weg. Dann glitt sie eilig durch die Drehtür.

*

Edda und ihr Mann warteten schon in der Hotelhalle, als Sybille hereinkam. Herr von Schaaper erhob sich sofort und tänzelte ihr entgegen, sein Gang sah aus, als wollte er sich unaufhörlich nach allen Seiten verbeugen, wie ein Artist auf dem Podium; die Ähnlichkeit mit dem Zigeunerprimas wurde dadurch vollkommen. Sybille wäre umgekehrt, hätten nicht hinter seinem Rücken Eddas bittende Augen sie festgehalten. Edda hatte wieder geweint, das war unverkennbar, trotz Puder und Rot, aber daneben war noch Angst, eine ziellose Angst, die um Hilfe rief. Vielleicht hatte er ihre Vorschläge mit Drohungen beantwortet, vielleicht auch hatte sie überhaupt noch nicht den Mut gefunden, sich auszusprechen – Sybille war plötzlich geneigt, einige Hemmungen gelten zu lassen, mit Männern ging manchmal nicht alles nach Wunsch, dennoch – mit diesem Mann? Als Schaaper bis zu ihr gekommen war, übersah sie geflissentlich seinen Versuch, ihre Hand zu küssen, und ging eilig auf Frau Edda zu, die in einem der großen Klubsessel sitzengeblieben war. Edda hatte einen Aufblick und einen Händedruck so voll Dankbarkeit, daß Sybille wider Willen gerührt war und mit einer kleinen Verschwörergeste zu verstehen gab, es sei alles unverändert, ihr Beistand nach wie vor gewiß.

Herr von Schaaper – Kopf schräg, die Lippen unter dem gefärbten Bärtchen süß gespitzt – machte den Vorschlag, oben im Kasino zu »soupieren«, man sitze dort sehr angenehm, der Ausblick auf das nächtliche Meer sei so beruhigend, die Küche recht passabel … »Gott, wie fein!« dachte Sybille, sie hatte Mühe, ihre gleichgültige Miene zu bewahren. Als Frau Edda fragte: »Ist es dir so recht, Beste?« bejahte sie, erbat sich wenige Minuten Zeit zum Umkleiden und ging eilig zum Fahrstuhl. Über die Schulter weg, aus dem Augenwinkel, konnte sie noch sehen, wie Schaaper das Spitzmäulchen ablegte und sich mit einer offenkundig giftigen Zischelei zu seiner Frau beugte. Edda zuckte empört zusammen, aber sie blieb, ja, ja, sie blieb.

Es wurde kein aufregender Abend, Sybille mußte sich enttäuscht gestehen, daß sie von dem Zusammensein mit einem Desperado mehr erwartet hatte, ganz andres jedenfalls. Diese Anekdötchen aus besten Kreisen, diese Familiengeschichten und schwierigen Verwandtschaftstüfteleien, daß und wie die Heydecks über die Leveroops mit den Niehusens verbunden waren – nein, o Himmel! Dies ging sie wenig an. Herr von Schaaper schien zu fühlen, daß er nicht das Rechte getroffen hatte, ging zu mehrsprachigen Witzen über, und als auch diese nicht einschlugen, begann er Gaukeleien mit Zündhölzern: hierin aber war Sybille besonders verwöhnt, Onkel Hagen hatte da Bedeutendes geleistet.

Wie jeder Mann, dem es nicht gelingen will, ein Mädchen zum Lachen zu bringen, neigte auch Herr von Schaaper sofort dazu, Sybille für beispiellos dumm zu halten und für eingebildet obendrein. Er begann die Pointen seiner Witze breitzuwalzen. »Sie müssen wissen …«, sagte er und erklärte alles. Sybille nahm es einmal hin, dann meinte sie: »Lassen Sie das, der Witz wird davon nicht besser!« Das war vielleicht zu grimmig, Edda sah erschreckt auf, doch Herr von Schaaper lächelte wieder auf dem Reißzahn und sprach durch die Nase: »Oh, Sie stellen vielleicht andere Ansprüche an Witze – da könnte ich natürlich auch dienen!« – »Ich würde es Ihnen nicht raten«, gab Sybille gleichmütig zurück, wurde aber im selben Augenblick blaß und wieder rot: den Mittelgang von der Tür her kamen ein paar junge Leute herauf, sehr ungezwungen und gar nicht zu leise, Sybille hatte ein Lachen gehört, nun sah sie auch einen blonden Schopf auftauchen, in der zweiten Reihe, da merkte sie erst, wie verhaßt ihr dieser Schaaper war, sie hätte einen Finger darum gegeben, nicht in seiner Gesellschaft gesehen zu werden; einen Augenblick überlegte sie, ob sie nicht ihr Handtäschchen nehmen und abbrausen sollte, lächerlich genug, wahrhaftig, aber dieser Joachim sollte doch nicht … der Blonde …

Doch da war die Gruppe schon heran, Sybille hielt den Kopf trotzig hoch, ein Vogel Strauß war sie ja nicht, nein, das lag nicht in ihrer Art. Sie mußte der Gruppe entgegensehen, unglückseligerweise saß sie ja mit dem Kopf zur Tür; und da waren schon diese scharfen, hellen Augen, die sie erst flüchtig streiften, gleich wiederkamen und sie endlich festhielten, ungläubig erstaunt. Sybille rettete sich in Unnahbarkeit, sie war niemand Rechenschaft schuldig, am wenigsten jungen Leuten, die selbst recht formlos waren. Joachims stummen Gruß erwiderte sie noch stummer, noch förmlicher, das Kopfneigen hätte jeder Fürstin Ehre gemacht, innerlich aber fühlte sie nichts von Gleichmaß; als Schaaper, der ihr nichts ersparen wollte, sie säuselnd fragte, ob sie schon Bekanntschaften gemacht habe, da gab sie eisig zurück: »Wir dürften wenig gemeinsame Bekannte haben, fürchte ich!« Doch es vernichtete ihn nicht, die Verärgerung war zu deutlich.

Es war eine Erlösung, daß Schaaper bald darauf erklärte, er müsse nun in den Spielsaal hinüber, zehn Uhr sei seine Zeit, ob die Damen übrigens nicht mitkommen wollten? Er sei fest überzeugt, daß sie ihm Glück bringen müßten, nach dem guten Sprichwort …

Das lächelte er auf dem gelben Reißzahn zu Sybille hinüber, und sie ging der Herausforderung nicht aus dem Wege, dazu war keinerlei Anlaß: »Wenn an dem bewußten Sprichwort nur ein wenig Wahrheit ist, dann müßten Sie heute allerdings schweres Glück im Spiel haben«, sagte sie leicht und süß. »Aber es lockt mich nicht einmal, das mit anzusehen, so sehr ich es Ihnen gönne – Sie leben ja davon, nicht wahr?« – »Ich habe leider keinen Vormund mehr, der meine Zinsen verwaltet«, gab er zurück, und es saß gut, sie ärgerte sich doppelt, einmal, weil sie sich überhaupt mit dem Widerling angelegt, dann aber, weil sie sich Edda so leichtfertig anvertraut und die nun wer weiß was alles weitergetratscht hatte. Heillos verpfuscht, die ganze Geschichte!

Sie blieb bei ihrer Weigerung, trotz Eddas flehendem Blick. »Ich bin todmüde, der Luftwechsel scheint mich anzugreifen«; so viel Höflichkeit zwang sie sich noch ab.

Als sie nebeneinander vor dem großen Spiegel Hut und Schleier feststeckten, flüsterte ihr Edda hastig zu: »Sei nicht böse, daß ich nicht mit dir gehe! Und glaube nichts Unrechtes! Vielleicht gewinnt er, dann ist er guter Stimmung und wird am besten mit sich reden lassen!«

Weiter kam sie nicht, Herrn von Schaapers gehüsteltes »Bist du soweit, Liebe?« rief sie fort. Mit kurzem Gruß ging Sybille allein ins Hotel hinüber und gleich zu Bett.

Im Einschlafen schreckte sie nochmals auf: aus dem nächtigen Himmel klang das Brausen eines Fliegers, der westwärts zog.

*

Am nächsten Morgen erwachte sie mit einem Gefühl geheimer Freude, das alle Fremdheit der Umgebung überwog. Sie zögerte vor sich selbst das Eingeständnis hinaus, daß das Wiedersehen mit dem blonden Flieger den Tag kennzeichnete, schob ihre gute Laune auf das Wetter, das immer noch lau, doch klarer war als tags zuvor, auf den Reiz des vielen Neuen, das sie erwartete, ja, es war wohl zu verstehen, wenn sie während des Waschens einige Schlager pfiff.

Dabei überhörte sie zunächst, daß an der Zimmertür geklopft wurde. Schließlich wurde sie doch aufmerksam, fuhr schnell in die Pyjamas und schob den Riegel zurück, ohne zu fragen, in der Meinung, das Zimmermädchen bringe das Frühstück.

Doch es war Edda, die schnell hereinschlüpfte und hinter sich wieder zuriegelte. Dann drehte sie noch den Hahn über dem Waschbecken nahe der Tür auf und zog Sybille mit sich zum Fenster am andern Zimmerende. Mit einem Wink nach dem plätschernden Wasser meinte sie flüsternd: »Wenn einer horchen will … damit er uns nicht reden hört!«

Sybille fühlte sich aus ihrer schönen Morgenstimmung gerissen: daß sie in ihrem Zimmer Angst vor Lauschen haben sollte, empörte sie geradezu. Ihre Anteilnahme für die unglückliche Schaapersche Ehe war in den Hintergrund gerückt. Frau Edda allerdings schien davon nichts zu ahnen, sie war wieder ganz unverändert in ihrer Zuneigung und voll des besten Glaubens. Ganz fahrig vor stummem Jubel, zerrte sie unter der breiten Schärpe ihres Kimonos ein dickes Bündel Banknoten hervor und hielt es Sybille entgegen: »Da! Mein Eigentum! Er hat gestern ganz stark gewonnen und hat mir das da gleich geschenkt!«

Sybille grinste ein wenig bei dem Wort »geschenkt«, sie konnte es nicht lassen. Frau Edda merkte es und wurde etwas verlegen: »Nun ja, so oder so – es ist doch nett, nicht? Es sichert mich für mindestens ein Jahr! – Übrigens«, fuhr sie hastig fort, »will er sofort abreisen, eine solche Strähne, meint er, hält nur einen Tag, hier bleibt für ihn nichts mehr zu holen. Und denk dir nur: er hat gegen die Scheidung nichts einzuwenden – ›Wenn es dich beruhigt‹, sagt er, ›an unserer Beziehung ändert sich dadurch nichts!‹ Doch nett, nicht? Ich glaube überhaupt, ich habe ihm unrecht getan, so schwarz in schwarz ist er gar nicht!«

»Na also!« knurrte Sybille, mehr war dazu wohl nicht zu sagen. Edda sah sie prüfend an, ehe sie fortfuhr: »Ich soll mit ihm nach Wien, dort hat er bei einem befreundeten Notar alle seine Papiere, er ist doch Österreicher …«

»Österreicher? Ich dachte Holländer!« stutzte Sybille.

»Nein, nein, nur sein Vater – seine Mutter hat nach ihrer Scheidung, bei der ihr der Sohn zugesprochen wurde, die alte Staatsangehörigkeit wieder angenommen, sie war eine geborene Komtesse Rostecki. – Nun gut, er will mit mir in Wien zu dem Notar gehen und eine Urkunde aufsetzen, in der alles zwischen uns geregelt wird, und anschließend soll gleich die Scheidungsklage eingereicht werden … in einem Vierteljahr kann ich vielleicht schon frei sein …«, schloß sie und wurde rot, es verjüngte sie förmlich. Nun war Sybille doch ergriffen, die innere Befreiung der Freundin teilte sich ihr mit. »Donner ja«, sagte sie, »du hast die Zeit gut angewandt, das ist ja großartig!«

Der herzliche Ton steigerte Frau Eddas Beglückung, sie preßte Sybilles Hände und hatte seit langem wieder die tiefe läutende Stimme der ersten Tage: »Ohne dich hätte ich es nie fertiggebracht, du allein hast mir den Mut gegeben. Es war so recht der Beweis, daß Menschen einander eben doch helfen können!«

Sybille fühlte sich betroffen durch den letzten Satz, hier war ihre Verpflichtung nackt und klar ausgesprochen – durfte sie sich ihr weiterhin entziehen? Schon setzte auch Frau Edda fort: »Und jetzt habe ich nur die eine Bitte – ich weiß, du wirst sie mir nicht abschlagen –, errätst du nichts? O ja, du weißt es schon, ich seh's an deinen Augen! Sybill, Liebe, Gute: laß mich nicht allein mit ihm! Bleib bei mir, wenigstens, bis in Wien alles eingeleitet ist! Sybill, du hast mir richtig die Augen geöffnet, ich bin ein ganz neuer Mensch, seit ich dich kenne – hilf mir doch noch durch diese paar Wochen, Sybill, ja? Sag ja, für dich macht es sowenig aus, wo du dich aufhältst, und mir rettest du damit das Leben, ja, gewiß, so weit ist es mit mir! Kommst du, Sybill?« – »Ja!« sagte Sybille, ehe sie noch recht wußte, wie sie dazu gekommen war. Zwar meldeten sich unklare Bedenken, dies und jenes paßte nicht ganz, doch ihrer Menschenpflicht wollte sie sich nicht entziehen, eine kleine satte Eitelkeit wünschte ihr Glück dazu. »Ich weiß noch nicht, ob ich gleich heute mitfahren kann«, sagte sie noch, vielleicht werde ich noch ein, zwei Tage aufgehalten. Aber in Wien treffe ich dich bestimmt wieder!«

Frau Edda umarmte sie, bebend, mit Tränen in den Augen; Sybille durfte feststellen, daß sie Jubel erregt hatte, es behagte ihr nicht schlecht. Als ihr aber ein Blick auf die Uhr zeigte, daß nur noch knapp zwanzig Minuten auf zehn fehlten, setzte sie erschreckt den Danksagungen ein Ende und geleitete Edda an dem immer noch rauschenden Wasserbecken vorbei zur Tür. »Mittags bleibe ich in Danzig«, sagte sie. »Aber zwischen Tee und Abendessen bin ich zurück, dann ist Zeit genug bis zum Nachtzug!«

Dann fuhr sie, kaum daß Edda draußen war, wie der Blitz aus den Pyjamas und begann sich in größter Eile anzuziehen. »Morgengymnastik fällt aus, wegen Nebel!« diktierte sie sich. Im letzten Augenblick kam das Frühstück, sie mußte es fast unberührt lassen, denn es war keine Minute mehr zu verlieren, wenn sie, wie sie es sich ausgedacht hatte, mit dem Glockenschlag zehn ganz langsam aus der Drehtür unten schlendern wollte.

Ihr Auftritt gelang nach Wunsch, sonst aber entsprach das Wiedersehen nicht ganz den Erwartungen. Der Blonde war da, selbstverständlich, er schien sogar schon ein Weilchen gewartet zu haben. Doch von dem Überschwang des Vorabends war in der Begrüßung nichts zu merken. Er sah sie prüfend an, als müßte er sich vergewissern, daß sie es auch sei – eine unter vielen Bekannten, du lieber Gott! –, ehe er die Hacken zusammennahm und sich über ihre Hand beugte, förmlich und flüchtig; Sybille war empört darüber, sie wäre am liebsten umgekehrt. Aber da sagte er schon – auch die Stimme schien verändert, das Lachen fehlte: »Ich habe einen Wagen dort drüben stehen – darf ich bitten?« Damit ging er um die Ecke der nächsten Seitengasse voraus. Dort wartete ein Gefährt, das nicht alltäglich zu nennen war, ein Straßenrenner, der aber offensichtlich nicht als solcher gebaut, sondern mit Geschick und gutem Willen zurechtgebastelt war und seither wohl manchen Sturm erlebt hatte – verschiedene Beulen und Schrammen an den schwarzen Kotflügeln und dem elfenbeinfarbenen Rumpf zeugten davon. Die Torpedoform war vollendet – die Maske, mit der der Kühler überbaut war, ließ nur an der Vorderkante einen senkrechten Schlitz und entsprach im übrigen genau dem gestreckten Hinterteil. Joachim wies darauf und sagte: »Anna – vorne und hinten gleich!« Da lachte sie, und er stimmte ein. »Endlich!« dachte Sybille.

»Steigen Sie ruhig ein!« ermunterte er. »Annche läuft besser, als sie aussieht – keine Ausstattung, nur Qualität!« Mit dem ruhigen Einsteigen hatte es seine Bewandtnis, Trittbretter waren sowenig da wie Türen, Sybille mußte das Bein fast waagerecht über die geschweifte Seitenwand schwingen und dann, im Handstütz, das zweite nachziehen, ehe sie auf dem weichen Kissen landete. Joachim war im Nu neben ihr und drückte auf den Anlasser, doch der Motor sprang nicht an. »Annche hat kalte Füße, das mag sie nicht«, sagte er und drückte nochmals. Der Anlasser gurgelte schon matter. Joachim kratzte sich den Kopf: »Mit der Batterie ist nicht mehr viel los – ich hätte den Motor laufen lassen sollen. Na, nu helpt nich – da muß ich eben anschieben!« Er sprang heraus und winkte Sybille in den Führersitz: »Hierher, so! Sie kennen sich doch aus, ja? Na also! Gang rein und ausgekuppelt, und wenn ich den Wagen richtig in Schwung habe, dann Kupplung los und Gas! Achtung, jetzt!«

Dabei schob er an, eine Horde von Gassenjungen, die die Vorgänge sachverständig verfolgt hatten, hielt johlend Schritt, Vorübergehende blieben stehen, aus einem Laden sprang der Besitzer mit seiner Verkäuferin auf die Straße – unter anderen Umständen wäre Sybille so viel Teilnahme nicht erwünscht gewesen, jetzt aber hatte sie nur Gedanken für das Spiel der Hebel im rechten Augenblick. Donner ja, der Junge hatte kein schlechtes Tempo am Leibe, jetzt konnte es vielleicht gehen – Kupplung, Gas, Fehlzündung, noch eine, dann sprang der Motor an, sie kitzelte ihn auf Touren, vorsichtig, um ihn nicht zu ersäufen. »Gut gemacht!« sagte Joachim neben ihr, durchaus nicht atemlos, er war wohl anderes gewöhnt. Sie schaltete auf Leerlauf und machte ihm Platz, sobald er am Steuer saß, nahm er Annche etwas schärfer in die Kur. Der Auspuff, wohl mit Absicht etwas kurz gehalten, brüllte ungeheuer, ein paar gelegentliche Fehlzündungen knallten dazwischen, endlich war es soweit, daß Annche ziehen wollte, da sausten sie ab. »Ein schöner Start!« flüsterte Sybille erschüttert. Er grinste zurück: »Ja, die Woche fängt gut an, sagte der Mann, der Montag gehängt wurde!«

Darüber waren sie aus dem Gewinkel der Gassen heraus und fegten nun auf der großen Straße in einem Tempo hin, das zu Worten keinen Atem mehr ließ. Annche hatte es wirklich in sich, sie war im Husch auf neunzig, legte dann langsam weiter zu, bei hundert sang der Zwergmotor ganz mückenfein. Vor Oliva nahm Joachim Gas weg, fast lautlos rutschten sie im Auslauf zwischen den Häusern hin; sobald aber die Straße frei lag, wurde wieder aufgedreht, bis zur Brücke vor Danzig: dort schlichen sie scheinheilig an dem Verkehrsschutzmann vorbei.

»Haben Sie den Wagen schon lange?« fragte Sybille im Weiterfahren. Joachim lachte: »I wo – er gehört gar nicht mir, ich hab' ihn von einem Freund geliehen!«

»Oh!« machte Sybille. »Sie kennen sich aber gut damit aus!«

»Das Kompliment kann ich Ihnen zurückgeben, Sie haben ihn ja auch ganz hübsch zum Laufen gebracht, überraschend vernünftig, muß ich sagen!«

Sie kam zu keiner Antwort, eben bogen sie von der gleichgültigen Parkstraße ab, an einem Turm vorbei, der breitbeinig im Wege stand, wanden sich durch einen engen Torweg, durch den dichten Verkehr der Gasse dahinter und landeten auf einem Platz unter vielen Wagen. Joachim zog den Zündschlüssel ab und sprang aus dem Sitz; als Sybille neben ihn trat, faßte er sie bei beiden Armen und drehte sie langsam rundum: »Das sehen Sie sich einmal an, es ist der Lange Markt! So als erster Eindruck ganz nett, wie?«

Sybille hielt unwillkürlich den Atem an vor der Buntheit der Farben und Formen, die von allen Seiten auf sie eindrängte. Die Giebel in Rosa, Grün und Grau, gestuft, gezackt, gemuschelt, mit Wappentieren, Sinnbildern, Wahrsprüchen geziert, mit schmiedeeisernem Netzwerk an den Gittern der Fenster und Beschläge, mit Messingkugeln an den Geländern – so umschlossen die Häuser das Rechteck des Platzes, Wahrzeichen friedlichen Wettstreits zwischen alten Geschlechtern. Der Ernst des alten Rathauses und die stolze Pracht des Artushofes beherrschten das Bild, gaben ihm unverrückbar das Gepräge einer Zeit, die keinen höheren Ehrentitel zu vergeben hatte als den des königlichen Kaufherrn, nach dem Dichterwort:

Wir reisen nicht um Handel nur, in Winden
Von heiß'rem Hauch ist unser Herz entbrannt.
Wollust, von Gott Verborgenes zu finden,
Treibt uns den goldenen Weg nach Samarkand.

Weltbefahrene Männer hatten an diesem Platz gebaut, von da und dort und überallher hatten sie das Schöne zusammengetragen und neu eingefügt nach ihrem Gefallen, selbstherrliche Kunstfreunde und Genießer. Stadt im Osten – Sybille meinte im Schauen einen Hauch des Geistes zu fühlen, der sich hier an der Grenze eines fremden Erdteils ein Denkzeichen gestaltet, aufgeschmettert hatte aus der sumpfigen Niederung.

»Kunstgeschichtler bin ich keiner«, sagte Joachim, »ich möchte Sie auch gar nicht mit Einzelheiten überfüttern, dazu können Sie sich ein andermal mehr Zeit nehmen. Sie sollen nur so, im ersten großen Wurf, sehen, was hier geschehen ist, ja?«

Sybille nickte schweigend, sie ging wie im Traum neben ihrem Begleiter her, den Blick immer erhoben zu der Vielfalt der alten Häuser. Als sie im Gedränge zurückzubleiben drohte, nahm Joachim kurzerhand ihren Arm und bugsierte sie durch zwei enge Gäßchen bis an die Kais vor dem Krantor.

Das ragte gewaltig, man glaubte noch das Knarren der Winden zu hören, die jahrhundertelang die Schiffslasten in die Stadt hereingeholt und in den vielstöckigen Speichern aufgehäuft hatten, ja, aus dem Meere hatten sie geschöpft mit vollen Händen.

Sybille stand und witterte mit geschlossenen Augen in die Hafenluft hinaus, unter dem Kohlenrauch lebte immer noch der alte Duft von Teer und Tauwerk, von Gewürz und allerlei Edelfracht, der soviel Sehnsucht nach Weite und Abenteuer ins Blut warf.

Doch wieder faßte Joachim ihren Arm und zog sie weiter: »Los, los hier! Sie wollen wohl dichten? Nein, soviel Zeit ist nicht! Das nächste Mal, wenn Sie für länger herkommen, dann vielleicht!«

Sie wehrte sich nicht, sie war voll Weichheit und Reue, ja, es war unverzeihlich, daß man in Deutschland aufgewachsen und ohne Ahnung sein konnte von dem allen hier oben; der gute Onkel Hagen, der so gern lateinische Weistümer in seine Reden flocht und von Hellas und Rom das Maß aller Dinge nahm – ob er wohl den deutschen Osten kannte?

Im hastigen Weitergehen konnte sie einen Blick in eine stille Gasse tun, in die jedes Haus ein Treppchen mit geschweiftem Geländer vorschob, als wollte ein Gast mit offenen Armen willkommen geheißen sein. Nichts von heute, ein Stück Himmel zwischen den steilen Fronten wie je – hier war die Zeit stehengeblieben.

Joachim führte sie zurück über den Langen Markt, dann in ein Seitengäßchen neben dem Rathaus; er griff gewaltig aus, nach seiner Art, aber sie fand es zu mühsam, Schritt zu halten; sie trottete nebenher, das störte sie weniger in ihren Gedanken, sehr deutschen Gedanken. Joachim blieb so plötzlich stehen, daß sie erschreckt aufblicken mußte, aufblicken – immer noch höher; ihr Kopf lag weit im Nacken, als sie endlich über dem Kamm des künstlichen Gebirges, über dem Rand der nackten Steilwand den Himmel aufschimmern sah, mit dem ewigen Spiel von Wind und Wolken.

»So muß man an die Marienkirche kommen«, sagte Joachim neben ihr leise. »Daß aller Menschengang ein Ende hat, und der Blick hochgerissen wird – das hatten die Erbauer im Sinn!«

Sie hatten Glück und fanden die Seitenpforte offen. Vor dem Eintritt flüsterte ihr Joachim noch schnell zu: »Es gibt einen Memling da drinnen, mit einer rührenden Geschichte, und eine hochberühmte Schatzkammer und sonst noch einiges, aber um das zu sehen, müßten wir eine Führung erbitten, durch den Herrn Kantor oder gar den Herrn Archidiakonus in Person – das heben Sie sich fürs nächste Mal auf! Heute möchte ich mit Ihnen allein bleiben – weniger gründlich, aber netter, ja?« Dabei gab er, um ihr den Vortritt zu lassen, mit einem leisen Druck ihren Arm frei; doch so schnell es ging, sie fand noch Zeit zu einem leisen, flüchtigen Gegendruck, es konnte Zufall sein, aber ein rascher Blick über die Schulter weg in seine Augen zeigte ihr, daß er nicht an den Zufall glaubte. »Es ist sehr ungehörig, natürlich«, sagte sich Sybille mit einem halben Seufzer, und doch fühlte sie sich recht wohl in ihrem schwachen Fleisch; sie konnte es nicht ändern.

Doch kaum waren sie durch den Windfang und taten die ersten Schritte in das ungeheure Schiff, da glitt sie aus diesem Wohlsein in die Schauer einer tiefen Andacht; ihr war es, als bräche ihr Herz auf, und der Atem drängte mit einer fremden Gewalt aus und ein. »Wenn jetzt Orgel kommt, sterbe ich«, dachte sie zitternd, sie fürchtete den tönenden Sturm, dem sie in der Ohnmacht des Augenblicks nichts entgegenzusetzen hatte.

Da ragte der Wald dieser Säulen, in deren Verputz der Staub der Jahrhunderte sich zu Marmorgeäder gefächert hatte; farbenglühende Fenster läuterten den Tag zu edlerer Helle; aus dem Halbdunkel um das uralte Taufbecken schien eine Strömung wegzufluten durch das weite Schiff, die alles irdische Leid und Hoffen mit sich reißen wollte bis hin vor die Stufen des Hochaltars.

Und mit einem stummen innerlichen Aufweinen verstand Sybille, daß nur das Leben Wert erhält, das einmal an das Große, Heilige weggegeben und neu empfangen wurde zu treuen Händen.

Joachim stand reglos neben ihr; ohne ihn anzusehen, fühlte sie in ihm die verwandte Erschütterung. Wie sie allmählich zur Besinnung emportauchte, wandte sie sich still zum Gehen, es wäre ihr wie Entweihung erschienen, das erste Erlebnis in eine Besichtigung auslaufen zu lassen.

Als sie wie Kinder aus dem Märchenwald in den Tag hinaustraten, hörte sie Joachim tief aufatmen und gewahrte, als sie ihn fragend ansah, ein so ernstes Glück in seinen Augen, daß sie den Blick schnell wieder senkte.

Sie gingen ohne Worte hin; ehe sie in das Seitengäßchen einbogen, blieben sie noch einmal wie auf Abrede stehen und sahen die steilen Wände hinauf, hinauf bis in den Himmel. Dort oben im Unendlichen trafen sich ihre Blicke und kamen vertauscht zurück, schließlich hatte jedes dem andern nur ins Herz gesehen. Im nahen Nebeneinander überließ Sybille ihre Hand der harten, glatten Jungenhand, die sie wie von ungefähr suchte; die knochigen Finger verflochten sich mit den ihren, drückten kurz zu, daß alle Gelenke knackten, es war ein Aufzucken, doch ohne Schmerz, dann pendelten die verschränkten Hände friedlich zwischen ihnen; sie schienen manches schon zu wissen, was für Worte noch viel zu neu war.

Sybille war es, die zuerst Haltung gewann, ein Etwas in ihr hielt ihr das Sittenlot vor, sie verfluchte die gute Erziehung, doch sie gehorchte und machte langsam ihre Finger frei, einen um den andern, man sah es, daß sie ungern schieden; schließlich trommelte der Daumen ein kurzes »Auf Wiedersehen!«, und der fremde Daumen hakte noch einen Augenblick ein, ehe sie sich ganz trennten.

»Jetzt gehen wir in den Speisewagen«, sagte Joachim; es schien ein naheliegender Scherz, sie hatten ja Schnellzugstempo gehalten. Aber das Lokal hieß wirklich so, sah auch so aus, ein langer Gang mit kleinen Seitentischen. Als der alte Kellner die Speisenkarte brachte, nahm er, als könnte er das Tischtuch besser glattstreichen – es war blütenfrisch, hier fehlte nichts –, die Vase mit Nelken weg, stellte sie aber nicht wieder hin. Sybille merkte, daß er die Aussicht frei machen wollte, und schielte ihn heimlich an – da hatte er das wehmütige Krisenlächeln, das von besseren Tagen wußte.

Das Essen begann mit Stremellachs, dessen blaß geräuchertes Fleisch alle Lachse übertrifft. Dazu schlug Joachim Machandel vor, er kam wasserklar in beschlagenen Gläschen; doch Sybille mußte Luft schnappen nach dem ersten Schluck. »Es ist kein zarter Auftakt, ich weiß«, bekannte Joachim, »aber wir müssen uns nach den Landessitten richten; Wein ist ja nicht mehr erschwinglich hierzulande, und der Lachs will doch schwimmen! Na, denn sehr zum Wohle!«

Sybille tat vorsichtig Bescheid, sie wollte nicht husten; den letzten Tropfen behielt sie auf der Zunge und meinte darin die trotzige Lebensfreude des Landes zu kosten, herb und stark. Sie fühlte Joachims Blick auf sich, doch als sie aufsah, erkannte sie einen Ausdruck darin, der sie überraschte, grüblerisch, unsicher. »Nun?« fragte sie unwillkürlich, doch dann erschrak sie fast über die Gegenfrage, die nach kurzem Zögern zurückkam: »Waren das … waren das Ihre Eltern, mit denen ich sie gestern sah?«

Es traf sie unerwartet, der Gedanke an Edda und ihren Mann war ihr so himmelfern gewesen; sie wollte ihn in dieser Stunde nicht hereingezogen haben und schob ihn mit einem kurzen »Nein!« fort. Doch Joachim fragte weiter: »Verwandte?« Diesmal verneinte sie stumm mit einem Kopfschütteln, das schon leichtes Staunen verriet. Joachim ließ nicht locker: »Freunde?« Das wollte sie nicht bejahen und konnte es nicht stumm verneinen, darum bequemte sie sich zu einem langsamen »Nicht eigentlich!« Aber sie tat es mit hochgezogenen Brauen und einem Lächeln, das deutlich genug einer weiteren Neugier Grenzen ziehen sollte. Doch war denn dieser Joachim der Mann, sich an hochmütige Mienen zu kehren? Vielleicht merkte er nicht einmal, wie nahe er dem Fettnäpfchen war, oder es war ihm gleichgültig; die Sprache nahm es ihm jedenfalls nicht, er brachte aus tiefster Brust hervor: »Gott sei Dank!« und fügte dann hinzu: »Wie kommen Sie bloß zu der Gesellschaft? Ich dachte gestern abend doch wahrhaftig, ich sähe nicht gut!«

Hier nun zeigt es sich, daß Hände und Blicke einander vieles, aber doch nicht alles sagen können; der blonde Joachim weiß entschieden zu wenig von Sybille Wohlbrink: sie ist nicht das Mädchen, das sich in solchem Ton Vorhaltungen machen ließe, nein, so viel Recht hat sie niemand eingeräumt, sie hält stark auf ihre Freiheit, gleich wird der eiserne Vorhang fallen. Joachim ist nicht aufzuhalten, Sybille merkt es mit Bedauern, daß er im nächsten Augenblick bös anlaufen wird. Er redet drauflos: »Die Frau ginge ja noch, obwohl sie auch eine etwas übertakelte Fregatte ist – aber der Mann? Ein richtiges Galgengesicht, darüber ist nun wirklich kein Wort zu verlieren! Ich war richtig entsetzt!«

»Warum sagen Sie mir das?« fragt Sybille schneekalt, sie muß unwillkürlich dabei denken, daß andre Leute, Gottfried zum Beispiel, jetzt unweigerlich in die Knie brechen würden. Aber dieser Blonde hier bleibt ganz unbekümmert, er scheint sich sogar im Recht zu fühlen: »Warum?« fragt er zurück. »Warum? Weil ich es unmöglich finde, daß Sie sich mit solchen Leuten abgeben! Sie passen doch zu ihnen wie … wie …«

»Wie?« will Sybille wissen. Aber er hat sich anders besonnen: »Nein, ich sage es lieber nicht, es ist ein bißchen unanständig, ans-tößig!« Dabei lacht er ganz niederträchtig, und sie muß mitlachen; es ist ein Jammer, hier wird eine bedeutende erzieherische Gelegenheit versäumt!

Da wird Joachim ganz ernsthaft und weich; das fehlte noch, so hat er es gestern abend auch gemacht, nachdem er sie Bürgergänschen genannt hatte, der Schuft: »Kindchen«, sagt er (Kindchen! Ach, Vater, in deine Arme!), »Kindchen, ich will Ihnen doch nicht unnötig weh tun, ich meine nur, vielleicht wissen Sie gar nicht, was es mit den Leuten auf sich hat! Der Mann ist ein berüchtigter Berufsspieler, dem seit Jahren scharf auf die Finger gesehen wird …«

»Und die Frau ist ein wertvoller, tief unglücklicher Mensch, dem man Mitleid und Beistand nicht versagen kann!« unterbricht Sybille. Aber Joachim schüttelt den Kopf: »Haben Sie dafür keine bessere Verwendung? Gibt es gar nichts Wichtigeres, meine ich, wofür Sie sich einsetzen könnten?«

»Wer hat darüber zu entscheiden?« fragt Sybille sehr böse, weil sie fühlt, daß er recht hat; die Stunde im Dom klingt in ihr nach. Aber wird sie diesem Blonden etwa zugeben sollen, daß er es war, der Licht in die Finsternis gebracht hat? Warum läßt er ihr nicht schweigend Zeit, das und jenes beiseitezutun, sich neu zu sammeln; dummer Junge!

»Entscheiden kann jeder für sich natürlich«, sagt Joachim sehr eindringlich. »Es ist nur schade um jeden, der sich verzettelt! Vor dem Einzelnen und vor der Menschheit steht das Volk, das geht jetzt allem vor!«

»Warum sagt er mir das!« denkt Sybille und kämpft wütend gegen die Tränen, »merkt er denn gar nicht, wie es um mich steht! Wenn er doch ruhig wäre und mich machen ließe, so ein Mann!« Aber sie sagt nichts, sieht verbockt auf ihren Teller und zupft an einer Apfelschale.

»Komisch ist das mit Ihnen«, fährt Joachim fort. »Sie sehen ganz vernünftig aus, wie ein starker, aufrechter Kerl und guter Kamerad, ja. Aber dann merkt man doch den weichen Punkt, irgendwo hat es wohl gefehlt, an den Eltern vielleicht.«

»Meine Eltern sind beide tot«, unterbricht Sybille und beißt gleich die zitternde Unterlippe fest. Joachim scheint nichts zu merken, er nimmt es ruhig auf: »Meine auch; das ist sehr traurig – aber es entschuldigt uns doch nicht in alle Ewigkeit. Irgendwann muß man doch anfangen, für sich selbst einzustehen.«

Es ist, als ob ihm der Teufel die Worte einbliese, sie gehen bei Sybille wie Nadeln unter die Haut. »Reden Sie doch nicht fortwährend von Dingen, von denen Sie gar nichts wissen«, sagt sie; das soll nun ernsthaft verletzen, aber der Junge ist ja nicht aus der Ruhe zu bringen, man kann verzweifeln vor seiner unbeirrbaren Gründlichkeit: »Lassen Sie's gut sein, ich weiß genug davon, o ja, das kann man wohl sagen! Mein Vater war Offizier und lag vor dem Krieg zuletzt hier in Danzig in Garnison. Von uns vier Brüdern ist jeder woanders geboren, einer in Oldenburg, einer in Hannover, der dritte in Glogau und ich in Görlitz; als ich hier in Danzig noch auf die Penne ging, war der älteste schon praktischer Arzt in Memel, der zweite Gerichtsassessor in Königsberg, der dritte Oberleutnant in Stettin. Bei Kriegsbeginn gingen sie alle drei zugleich mit dem Vater hinaus.«

Er zündete sich eine Zigarette an, ließ das Streichholz zwischen den Fingern verglimmen und fuhr dann fort: »Mein Vater ist im August 14 in Lothringen gefallen, mein zweiter Bruder vor Ypern; der älteste hat durchgehalten bis zuletzt und hat dann seine Praxis in Memel wieder übernommen; er ist der Frau zuliebe Memelländer geworden, sie hatte alle ihre Verwandten dort. Mein dritter Bruder war im Krieg an der Alpenfront und hat, als er verwundet im Lazarett lag, eine Österreicherin kennengelernt, die er später geheiratet hat. Die hatte ein kleines Weingut in Südsteiermark, jetzt gehört es zu Jugoslawien, dort sitzt er nun. Na und ich kam gerade noch zurecht zu ein paar Monaten Baltikum, dann war ich mit Oberland vor München, dann in Oberschlesien, dazu habe ich die Technik gemacht, als Werkstudent; meine Mutter war lange krank, ich durfte ihr von der schmalen Pension nichts wegnehmen. Nun ist sie drei Jahre tot, und ich rutsche im großen Vaterland herum als möblierter Zimmerherr, Plüschler sagt man wohl. Es muß eben gehen, und es geht auch. – Aber dabei lernt man eine gesunde Härte, kann ich Ihnen sagen, man hat das Mitleid nicht gar so butterweich sitzen, für Leutchen wie Ihre Freunde von gestern bleibt nichts übrig!«

Da war es wieder – es mußte wohl so sein, er konnte die törichten Ausfälle nicht lassen! Sybille, die wie gebannt zugehört hatte, verschloß sich beim letzten Satz sofort wieder in ihre trotzige Abwehr, nein, sie ließ sich ihren Verkehr nicht vorschreiben, am wenigsten in dieser Tonart! Mit einem Blick auf die Armbanduhr erklärte sie: »Ich möchte nun gern nach Zoppot zurück, ich reise heute abend!«

Joachim erschrak sichtlich, diesen Triumph hatte sie, er bekam ganz runde Augen und ließ den Mund aufklappen. »Oh!« machte er, es war eine ganze Tonleiter von Bitte und Beschwörung. »Ich dachte, wir würden hier noch ein paar nette Tage haben, ich wollte Annche zu leihen nehmen, dann hätte ich Ihnen die Marienburg gezeigt und ganz Ostpreußen, vielleicht wären wir bis nach Memel hinaufgeflitzt, ich soll ja zu meinem Bruder, habe hier nur Zwischenstation gemacht; ja, und dann fahre ich zu meinem andern Bruder nach Jugoslawien, vielleicht hätten wir das auch im Auto machen können … geht es denn gar nicht?«

Sybille schüttelte den Kopf, sie war nicht ungerührt, durchaus nicht, doch niemals hätte sie das so schnell zugegeben. Der Junge verstand sich übrigens aufs Überreden, es war ein künstlerischer Genuß, ihm zuzuhören. Jawohl, so weit war es schon, eine Hürde noch, und das Rennen war gemacht – da bricht der Favorit aus, der Teufel reitet ihn wohl:

»Sie werden doch nicht am Ende mit diesem fürchterlichen Kerl reisen?« fragt Joachim. Sybille glitzert ihn an, zerbeißt ein heftiges Wort; wenn er jetzt den Mund hält, ist noch alles zu retten. Joachim nimmt ihr Schweigen nur als Bejahung und wird unvermittelt grob: »Aber das geht doch nicht, zum Kreuzelement! Was soll ich mir denn da denken?«

»Was Sie wollen, Herr Gottarp!« gibt Sybille zurück und rauscht auf, dem Ausgang zu. Dem alten Kellner, der ihr die Tür offenhielt, nickte sie fürstlich zu, er hatte seine Pflicht getan, alle Schuld lag anderswo. Auf der Straße draußen schwankte sie, ob sie eine Taxe nehmen und sich von Joachim gleich verabschieden sollte. Er ging aber so schnell über den Platz hinüber auf das geparkte Annche zu, daß sie ihm hätte nachlaufen oder ohne Abschied wegfahren müssen. Sie wollte beides nicht und blieb also stehen und wartete ab. Annche war gutwillig und sprang sofort an, Joachim kam donnernd angebraust und lud sie zum Einsteigen ein. Sie folgte, ließ sich sogar eine Handreichung gefallen, dann aber saßen sie schweigend nebeneinander; in der Stadt war der Verkehr sehr lebhaft, und draußen fuhr Joachim noch verrückter als am Vormittag, an Reden war nicht zu denken.

In Zoppot hielt er in der Seitengasse neben dem Hotel an, wo er vormittags gewartet hatte. Sybille konnte nicht sofort aussteigen, ihre Handtasche war aufgegangen und hatte allerlei verstreut, dann fehlte ein Handschuh; Zeit genug für ein vernünftiges Wort! Aber das kam nicht. Da war plötzlich die Handtasche vollzählig, auch der Handschuh fand sich, man hörte etwas einschnappen, dann sagte Sybille: »Besten Dank für die Führung, es war sehr schön, ich werde es nicht vergessen!«

Joachim klappte die Hacken und beugte sich über ihre Hand, stumm.

»Nochmals vielen Dank!« wiederholte Sybille, und er klappte. Sie stand noch einen Atemzug lang, halb schon zum Gehen gewandt. Als immer noch kein Wort kam, eilte sie mit einer plötzlichen kleinen Gebärde davon, es war nicht klar, ob sie etwas von sich werfen oder nur sehr verzweifelt winken wollte zu einem erzwungenen Abschied.

Sie wirbelte durch die Drehtür, war dankbar, daß der Portier ihr den Schlüssel gab, ohne daß sie die Nummer zu nennen brauchte, und auch dem Liftboy gleich Bescheid zurief.

Sie kam noch bis in ihr Zimmer, warf die Tür hinter sich zu, dann schossen die Tränen hervor, die ihr die ganze Zeit in den Augen und im Halse gebrannt hatten.

Als sie nach dem ersten wilden Ausbruch das Taschentuch an die Augen drücken wollte, fühlte sie darin ein knistriges Pergamentkärtchen eingefaltet, faßte sich kurz und zwang sich zum Lesen: Joachim Gottarp, Pilot, stand da, darüber eine Adresse in Memel, darunter eine in Mavrana bei St. Roch, Jugoslawien – aus Danzig keine.

Da waren die Tränen wieder da, stärker als zuvor. Das Zimmertelephon schrillte hartnäckig, sie mußte schlucken, ehe sie, beim dritten oder vierten Läuten, abhob. Der Portier fragte, ob die Dame das Zimmer noch behalten wollte?

»Nein!« sagte Sybille tonlos. »Ich fahre heute nacht! Nach Wien!«


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