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X

Sö ham Zeit gnua, könnan S' schö staad gehn!« rief die dicke Wirtin von der Tür aus Sybille nach, als sie sie im Morgendämmern den Bergweg mit langen Schritten hinaufgehen sah.

Sybille winkte nur stumm zurück, sie brauchte etwas Anstrengung, um das verschlafene Frösteln loszuwerden, das ihr den Morgen gar so grau erscheinen ließ.

Oben an der Aussichtsbank hielt sie einen Atemzug lang an, die Erinnerung wollte sich melden, wie sehr sich alles in wenigen Stunden verändert hatte, doch sie machte sich schnell frei, schickte den Freunden von gestern einen lieben Gedanken nach und ging schnell weiter.

Kurz darauf hörte sie Räderrollen und sah auch, weit oberhalb, Zuglichter aus einem Tunnel talab kommen. Natürlich glaubte sie, die Uhren im Gasthaus seien falsch gegangen, und rannte das letzte Stück, so daß sie hart keuchend vor dem einsamen Bahnhöfchen ankam, gerade als der Güterzug ohne Halt durchfuhr. Sie hatte sich umsonst beeilt, ein Blick auf die Bahnuhr zeigte ihr, daß ihr wirklich noch fünfundzwanzig Minuten Zeit blieben.

»Wenigstens friere ich nicht mehr«, tröstete sie sich und trat in den winzigen Vorraum, dessen Wände über einer Eckbank bis hoch hinauf mit Fahrplänen und Werbeplakaten vollhingen. Die Holzläden des Schalterfensters waren noch geschlossen, die Petroleumlampe darüber blakte ängstlich, am lebendigsten war das Feuer in dem kleinen Kanonenofen, das lustig prasselte und knallte.

Sybille setzte sich in die Ecke nahebei, zündete sich ihre Morgenzigarette an, zu der sie sich unten nicht mehr Zeit genommen hatte, und überschlug wieder einmal ihre Pläne. Barbestand: fünfundachtzig Schilling und vier Groschen, bei richtiger Einteilung ein stattliches Sümmchen. In Graz sofort zu den Tageszeitungen, Anzeigen einsehen, vielleicht selbst eine aufgeben, dann billiges Quartier suchen, mit täglicher Kündigung …

»Warum nicht Stütze?« ermunterte sie sich und versuchte sich ihre künftige »Dienstherrschaft« vorzustellen, gab es aber bald auf. Auah! Hier saß noch viel Kritik. Immerhin pfiff sie leise die schöne Moritat von Sabinchen, dem tugendhaften Frauenzimmer, vor sich hin, vielleicht war es gut, sich alle Möglichkeiten vor Augen zu halten – da ging die Außentür auf, und zwei lange Kerle polterten herein.

Sybille wurde nicht erkannt, sie saß so unauffällig in ihrem Winkel. Einen Augenblick lang schwankte sie, ob sie es nicht dabei bewenden lassen sollte; in dem trüben Morgengrauen konnte sie sicher unbemerkt bleiben; aber die beiden machten dem Zweifel rasch ein Ende, Matthies erblickte sie, stieß Othegraven an, dann traten sie näher mit einem fast einmütigen »Nanul«, verbeugten sich und schwenkten höflich die Filze.

»Welch ein Glanz in dieser Hütte«, säuselte Matthies mit gespitzten Lippen.

»Soll uns das Glück so gnädig sein!« markierte Othegraven, eine Hand auf das Herz, die Linke in die Luft gespreizt.

Sybille lachte sie behaglich an, als aber Othegraven wissen wollte: »Wo sind …«, hob sie schnell die Hand: »Kein Wort davon! Ich bin hier, und fertig! Gefragt wird nicht!«

»Nicht einmal, wohin Sie fahren?« meinte Matthies gekränkt. Sybille überlegte kurz und lachte: »Na ja, das kann ich Ihnen sagen: nach Graz!« Othegraven hakte sofort ein: »Nach Graz. Aha! Dort treffen Sie wahrscheinlich … jemand!«

»Nein, dort treffe ich … niemand!« fertigte ihn Sybille ab, doch Matthies sprang ein: »Wir treffen nämlich auch niemand in Graz, und da Sie doch hier fremd sind, wie Sie neulich sagten …« Nun war die Reihe wieder an Othegraven: »Haben Sie unbedingt in Graz zu tun? Wir fahren nämlich gar nicht nach Graz!«

»Na und? Meinen Sie etwa …«, fragte Sybille, aber es klang nicht böse. Matthies beteuerte scheinheilig: »Ach, wie würden wir es denn wagen, etwas zu meinen!« Und Othegraven setzte hinzu: »Wie es mit uns bestellt ist, haben wir ja schon neulich gesagt!« Der Ton auf dem »uns« war nicht aufdringlich, nur eine kleine Aufforderung. Matthies war scheinbar mehr für Deutlichkeit, er sagte vor sich hin: »Landsleute in der Fremde könnten doch eigentlich offen zueinander sein!«

Sybille sah zu ihnen auf – anständige Kerle beide, daran war kein Zweifel, und raten konnten sie bestimmt. Was war schließlich dabei, wenn sie ihnen ein Teil Wahrheit sagte?

»Von den Amerikanern habe ich mich getrennt«, begann sie vorsichtig und überhörte das zustimmende »Hört, hört!« – »Und da ich sehr wenig Geld habe, will ich zunächst nach Graz und dort Arbeit suchen!«

»Arbeit?« wiederholte Matthies ungläubig, doch sein Freund winkte ihm ab und meinte: »Sie werden nicht leicht was finden, fürchte ich! Ich weiß zwar nicht, was Sie können …«

»Abitur, Maidenschule, ein Kursus in Säuglings- und Wöchnerinnenpflege, einer in Journalistik, dazu Schreibmaschine und Stenographie –«, sagte Sybille auf, nicht ohne Stolz. Matthies blieb zweifelhaft: »Haben Sie Zeugnisse bei sich, Empfehlungen?« Sybille mußte verneinen und ärgerte sich über den Nörgler. Matthies merkte es wohl, denn er versicherte eilig: »Maidenschule ist gut, ich glaube sogar, daß Sie zupacken können – aber so was hier ist besser!« Damit kramte er aus der Brieftasche einen Zettel hervor, die halbe Seite eines Schulheftes, und hielt ihn dem Mädchen hin. Sybille hatte Mühe, in dem dürftigen Licht die Buchstaben zu entziffern, die mit dem Zimmermannsblei geschrieben schienen:

Liber Anderl,

Die zwa Purschn san net unrecht und verstengen ir Sach! Es grißt Dich von Härzen

Dein liber Bruder Jaggl
Glock zu Etting

Herrn Gstettner Andreas,
Waldhofer oder Tragöst.

Matthies nahm ihr den Zettel ab und wedelte nachdrücklich damit durch die Luft, ehe er ihn wieder im Notizbuch barg: »Das ist Sache!« meinte er, und Othegraven pflichtete ihm stumm bei, indem er den Zeigefinger hob und mit dem Kopf wackelte. Sybille verstand trotzdem nicht, um was es sich handelte, und sagte es auch. Othegraven begann zu erklären: »Wir sind doch neulich von Ihnen weg dort hinauf gegangen«, dabei wies er über die Bahnstrecke weg. »Und gleich im ersten Hof gab's allerlei Bastelei – Zentrifuge, Nähmaschine und den Widder von der Wasserleitung. Wir haben Glück gehabt und alles schnell gerichtet, und da hat uns der Bauer die Empfehlung mitgegeben, seinem Bruder ist der Hof abgebrannt, von der Versicherung kann er den Neubau nicht voll bezahlen, jetzt muß er viel allein machen und wird froh sein, wenn zwei solche Tausendsassa daherkommen – meint der Glock zu Etting. Probieren tun wir's auf alle Fälle!«

»Und sicherer ist das schon als die Zeitung in Graz!« fugte Matthies hinzu.

Sybille nickte trübselig: »Das will ich gern glauben – aber was bleibt mir andres?«

»Was bleibt? Der Waldhofer ist radikal abgebrannt, Wäsche, Kleider, alles. Die Nachbarn haben Leinen und Loden geschickt, jetzt muß genäht und geschneidert werden, dazu die Frühjahrsarbeit draußen – da gäb's schon was zu tun!«

»Für jemand, der anpacken will!« ergänzte Othegraven.

Sybille sah sie forschend an: »Meinen Sie etwa …«

Nun war Othegraven der Scheinheilige: »Ach, wie würden wir denn wagen … Aber schön wäre es natürlich schon!«

»Und vernünftig, wenn man wirklich Arbeit sucht!« Das kam von Matthies, dem Gröberen.

Ehe Sybille antworten konnte, tönte von draußen Pfiff und nahes Zugrollen. Nun sprangen sie an den immer noch geschlossenen Schalter und trommelten Alarm. Der Schalter wurde nicht geöffnet, wohl aber die Außentür zum Bahnsteig; ein aufgeregter Stationsführer rief herein: »Herrgott, do san Sö? Bei uns gengan alle Leit glei außenrum! Jetz wern S' kane Kartn mehr kriegn, der Herr Vorstand muaß den Zug abfertigen! Steign S' halt a so ein und tean S' nachlösn – aber g'schwind, sonst is's gfehlt!«

Damit drängte er sie hinaus und in den letzten Wagen des Zuges hinein, der eben wieder anfahren wollte. Die Tür schlug krachend zu, sie waren allein im Abteil; in dem ungewissen Licht des Deckenlämpchens, das sich blakend gegen den Morgen hinter den von Rauch und Kälte beschlagenen Scheiben wehrte, sah Sybille die Gesichter der beiden Jungen erwartungsvoll auf sich gerichtet. Sie war innerlich fast schon entschlossen, mitzutun, der Versuch war wohl der Mühe wert, und schlimmstenfalls konnte sie immer noch allein nach Graz weiter. Aber es machte ihr Spaß, sich noch etwas zureden zu lassen, die Jungs sollten nicht meinen, daß sie bedenkenlos nach jedem Strohhalm griffe.

»Das Schicksal selbst hat Ihnen Bedenkfrist gewährt!« verkündete Othegraven feierlich.

»Es ist natürlich Vertrauenssache!« hängte Matthies an. Das gab den Ausschlag. – Sybille hielt ihnen die Hand hin: »Schön – wenn Sie mich mitnehmen wollen? Auf gute Kameradschaft!«

Und die beiden schlugen herzhaft ein.


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