Irene Forbes-Mosse
Kathinka Plüsch
Irene Forbes-Mosse

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XIII.

Bürschel trat in den Vorraum, wo das Büfett mit all den durstreizenden Gerichten aufgemacht war, ein Aufbau von Hering, Gurken und kleinen lederartigen Pilzen, der ihm aus östlichen Quartieren her bekannt war. Der Wirt, ein schwammiger Mann mit blondem Vollbart und schweren Augenlidern, begrüßte die Eintretenden würdig verbindlich, manch einem streckte er die fette, mit Türkisen geschmückte Hand hin. Der Raum dahinter, durch einen Vorhang 197 abgetrennt, war noch ziemlich leer. Russische Kellner in weißen Jäckchen kamen dienstbereit, mit sanften Stimmen und ohne alle Aufdringlichkeit, brachten den fremdartigen Speisezettel und stellten als selbstverständliche Vorbereitung eine Karaffe Wodka auf den Tisch. Es lag verschleiertes Licht über dem Raum und überall der Dunst der blonden russischen Zigaretten. Im Hintergrund saßen in farbigen Seidenkitteln mit Silberlitzen die Balalaikaspieler, auch ein halbes Dutzend junger Frauen, in hübsche Pelzmäntel gewickelt, unter denen die florbestrumpften Beine vorsahen; auf dem Kopf hatten sie farbige Seidentücher. Später am Abend würden sie Volkslieder singen und tanzen. Einzelne Pärchen saßen schon an den kleinen Tischen, noch fehlten die Stammgäste. Bürschel hatte einen Platz gewählt, der die Eingangstür übersah, schon ein paarmal hatte ihm das Herz geklopft, wenn eine Gestalt mit zierlichen Beinen und Füßen unter dem Pelzmantel hereingehuscht war – die Frauen sahen dieses Jahr alle ein bißchen aus wie Colombine. Aber nachdem er längere Zeit die Tür nicht aus den Augen gelassen, verpaßte er den Augenblick, denn ein Aufsatz im Abendblatt, eine Besprechung der durch Professor Rosenzweigs Forschungen eröffneten Möglichkeiten hatte ihn ein paar Minuten völlig beschäftigt. Ein Rücken und Rascheln und leichter Sandelholzduft ließen ihn 198 aufblicken. Am Tischchen vor ihm saß eine Gestalt – er sah sie nur von rückwärts – in eine Pelzjacke gekleidet, das passende Käppchen über den Kopf gestülpt; aber zwischen Kragen und Mützenrand ein aschblonder Schopf, der war ihm bekannt. Und dann die Bewegungen, lässig und doch abrupt, die Art sich zu setzen, den Arm auszustrecken, sich aufzustützen, während sie den Speisezettel studierte. »Mokka, bitte, Sahne, Papyros,« sagte sie, und dann: »Wo ist Iwan?«

Der Kellner mit dem gütigen Leidenszug ging ohne Hast zu einem anderen Tisch, hob die Decke an einem Zipfel hoch und holte aus dem tiefen Strohsessel einen schwarzen Kater mit weißem Brustlatz hervor, den er der Neuangekommenen so selbstverständlich überreichte, als sei es das Abendblatt. Dann brachte er den Mokka. Die Dame goß Sahne in die Untertasse und reichte sie dem Kater. Er leckte blasiert und legte sich dann auf dem Schoß seiner Freundin zurecht. Diese schenkte sich schwarzen Kaffee ein und begann sofort zu rauchen.

Sie schien im Lokal wohlbekannt und wohlgelitten. Von den Tischen im Hintergrund, wo die Sänger und Balalaikaspieler saßen, wurde ihr zugenickt und zugerufen. Aber sie war wohl müde oder geistesabwesend, denn sie antwortete nicht, zog auch ihre Pelzjacke nicht aus, saß eingemummelt und stumm. Wie auf einem 199 Bahnhof. Aber nicht, als warte sie auf jemand; sah vor sich hin, wie einer, der gedankenlos die Zeit versitzt, was ihm zwar gleichgültig ist, denn er hat nichts zu versäumen, aber auch weiter kein Vergnügen macht.

»Kitty – Käthchen – Käthchen Pelzer . . .« sagte eine Stimme hinter ihr. Bürschel hatte sich über seinen kleinen Tisch gestreckt, er berührte sie fast mit der Hand.

Sie wandte sich um, ihre Pupillen weiteten sich, bis die Augen fast schwarz wurden. Es war ein rasches gegenseitiges Erkennen, denn auch Bürschels glattrasiertes Gesicht bewahrte viele Züge der Kinderzeit; nur die Buckel über seinen Augen hatten sich noch mehr gewölbt, und Momente scharfen Erkennens und raschen Entschließens hatten die Mulden an Wangen und Mundwinkeln tiefer gemeißelt.

»Sie hier?« sagte Kitty und drehte sich ihm ganz zu, so daß sie nun ihre Stuhllehne wie ein Gitter zu fassen bekam.

»Ja, ich, Käthchen – sag doch du, wie in der alten Zeit.«

Er stand auf, faßte ihre Hände und zog sie in die Höhe.

»Setz dich an meinen Tisch,« sagte er, »da haben wir die Wand im Rücken und können ungestört schwatzen.«

Sie stand auf; sie war nicht groß, aber auch er war nicht über Mittelgröße, breit und stämmig; 200 so reichte sie ihm bis an die Augenbrauen. Iwan der Schreckliche hatte sie nicht losgelassen; mit sybaritisch zugekniffenen Augen und hörbarem Geschnurr hing er ihr am Halse.

»Komm her, du fetter Parasit,« sagte Bürschel und setzte ihn auf einen Sessel, was Kitty mit großen Augen geschehen ließ. Sie war ein bißchen verwirrt, dabei auch in einer ihrer Schlafwandlerstimmungen, die sie tagelang überwältigen konnten; dann nahm sie alles, ohne sich groß zu verwundern, hin.

»Nun mußt du etwas Vernünftiges essen, Kitty,« sagte Bürschel. Er hatte die Eigenschaft seiner gastfreien, behaglich tafelnden Heimat, daß er bei frohen wie bei traurigen Anlässen zunächst das leibliche Wohl seiner Mitmenschen bedachte.

Er reichte ihr den Speisezettel. »Dimitri –,« sagte Kitty, kaum hörbar. Sofort kam der mit dem Leidenszug und beugte sich zu ihr nieder; er sprach in weichen, überredenden Tönen.

»Beefsteak à la tatare,« entschied Käthchen; ihre Augen glitzerten.

»Diese Kellner hier sind so wehmütig,« sagte Bürschel, »wenn sie reden, ist's wie Chopinsche Berceusen.«

»Heimatlose,« sagte Kitty, »es wird ihnen schwer, sich einzugewöhnen; es sei hier alles so herzlos ordentlich, sagen sie.« 201

»Wie glücklich wird Mutter sein, Kitty,« sagte Bürschel, »sie macht sich schwere Gedanken um dich; ich sollte dich in München suchen, und nun denke dir, wie ich dich fand.« Und er erzählte ihr sein Erlebnis im Kino.

Kitty glitt über Maria Reicherts Namen weg, als erinnere sie sich ihrer nicht mehr. Aber bei Erwähnung der Reklamebilder wurden ihre Augen böse.

»Red mir nicht davon,« sagte sie, »dieser langweilige Kerl mit seinen Betten! Was hat er mich geschunden. Ich war ja Angestellte in seinem Geschäft. Mein Gott, wenn man sich morgens mal verschlafen hatte, gleich gab's Krach, als ginge die Welt unter. Dann ließ ich mich zu den Bildern beschwatzen. Man verdiente ja dabei, aber was war es auch anstrengend! Oh, was war ich immer müde! Und dann noch diese Kerle hinter einem her. Und immer so häßlich. Ah . . .«

Bürschel warf einen Blick über sie. War das der instinktive Abscheu eines Mädchens, das sich angetastet fühlt von zudringlichen Blicken? War sie noch Knospe, die sich hart stellt gegen Sonne und Regen? Ihre lässigen Hände, wie sie weich mit dem Kaffeemaschinchen umgingen, dem kleinen Pelzhut einen Schubs gaben, die Haare über die Ohren zupften, sie hatten nichts mehr von dem rührenden Ungeschick der unschuldigen Röte jener kleinen zerkratzten 202 Mädchenhände, die beim Klettern auf Speicher und Lagerräumen, ja über Dächer hinweg ohne Fehl einen Halt zu finden wußten; nein, diese lagen blaß und wissend und müde in ihrem Schoß, beinahe krank sahen sie aus. Das waren Hände, die geliebkost hatten, Herrgott, vielleicht ums liebe Brot, und das mochte mitunter schwerer sein als Straßenfegen.

Nun tauschten sie Nachrichten aus. Käthchen erzählte von ihrem Leben; kleine Ausschnitte. Bürschel merkte wohl die Lücken, die sie unausgefüllt ließ, aber er maß sich kein Recht zu, sie auszufragen, Richter zu spielen über sie. Hatte er doch allzulange nicht um sie gesorgt. Untreue? Vergeßlichkeit? Ach, wie bei den meisten waren diese Jahre und ihre unmenschlichen Forderungen mit Bleisohlen über seine kleinen Privatsorgen gegangen; all das Heimliche, Umhegte, Umwölkte war zerstoben, ihm dahingeschwunden, weil er anderes erfüllen mußte und nicht mehr hüten konnte was früher selbstverständliches Eigentum gewesen. Nur die Musik brachte ihm dann und wann jene Bilder zurück: das Licht, das rot zwischen Maria Reicherts schützenden Fingern glomm, wenn sie abends spät – als Wanderratte, wie er's nannte – durchs ganze Haus ging, nach dem Feuer sah und an den Fensterläden rüttelte; den Torfrauch in den Straßen, vom Nebel niedergedrückt, den gelben Abendhimmel, sich spiegelnd in den 203 Kanälen. Anderes tönte und glühte und dunstete nun hinein; sterbende Jugend zumeist. Ach, die heroischen Töne Beethovens, aber auch seine tiefe, wunde Zärtlichkeit, er mochte sie nicht mehr hören, sie tat ihm weh, schmolz seinen Widerstand; nein, er spielte Bach und immer nur Bach, wenn er sich noch – selten genug – ans Klavier setzte. Ja, das war Ingenieurarbeit, ameisenhaftes Wiederaufbauen zertretener Gemeinschaft, was er heraushorchte aus diesen hundertfach verflochtenen, scheinbar verworrenen und doch unbeirrbaren Wegen. Herb mußten die Menschen werden, mit ausgeglühten Schwären, schmerzhaft entgiftet; Hunger und Not mit denen der Feind sie bezwungen, sie wurden nun zu Pfählen, an denen die Mühsamen sich aufrichteten, ein neues Geschlecht, hager, sehnig, in allen Sinnen geschärft, hellseherisch durch Leid. Das war sein Hoffen, sein Glaube, und es waren damals noch viele, die dieser Zuversicht lebten.

Iwan der Schreckliche hatte sich Kitty wieder genähert und rieb sich an ihren dünnbeflorten Beinen. Witterte er das Tatarengericht, das Dimitri soeben mit sanften Begleitworten niedersetzte? Diese jungen Russen hatten nichts von dem »style flamboyant« italienischer Camerieri, die einen dampfenden Risotto mit weitausholendem Luftschwung auf den Tisch stellen, eine Gebärde, deren verkleinertes Echo sich in 204 der Schneckenspirale wiederfindet, die ein Florentiner Postbeamter mit der Feder in der Luft ausführt, ehe er sich entschließt, seinen unleserlichen Namen unter die Quittung eines Telegramms zu setzen. Jenen Orestes, Ercoles und Annibales mit ihren lackierten Stirnlocken, Gemisch von lyrischem Tenor und schwarzglänzendem Hornschröter, waren diese Dimitris und Pjotrs und Alexeis nicht gewachsen; schweigsam wandelten sie mit beinahe orientalischer Diskretion und hingen zärtlich wie wehmütige Kinderfrauen die einst im Schnee ihrer Heimat lebendig gewesenen Pelzmäntel an die Riegel. Alles unauffällig, gedämpft, wie mit der Sordine.

Sie sind eben musikalisch bis in die Fingerspitzen, dachte Bürschel; moll-musikalisch, wie alle diese Steppenmenschen, die bei Grillengefeil und Troikaglöckchen groß geworden sind; und unwillkürlich versuchten die langen, wohlgepolsterten Finger seiner Linken am Tischrand eine Tonfolge zu spielen; mit jenem vibrierenden Aufdrücken, womit der Cellist das Letzte aus dem Instrument hervorholt.

»Komm, süßer kleiner Iwan,« sagte Kitty. Der Kater sprang zurück auf ihren Schoß; in Anbetracht seiner Korpulenz mit großer Grazie. Sie begann nun zu essen, eine Gabel voll sie, eine dem Kater. Bürschel war der Anblick unangenehm; er betrachtete den Schwarzrock mit Widerwillen. Wie ein fetter Kommerzienrat, 205 dachte er feindlich; es fehlte nur die Uhrkette über dem Bauch.

Auf Bürschels Wink brachte Dimitri Punsch und eine neue Mokkaauflage. Sie rückten näher zusammen. Kitty war aus der Pelzjacke geschlüpft. Sie hing ihr nur mehr lose über den Schultern. Zart stieg ihr Hals, stieg die leise Schwellung ihrer Brüste aus einer ziemlich schäbigen grauen Plüschbluse. Ach, auch das Futter der Jacke war mehr denn schäbig. Aber in dem hier herrschenden rosigen Dämmerlicht sah sie dennoch aus wie eine kleine erlesene Märchengestalt: Cenerentola. Der Name paßte besser zu ihr als das deutsche Aschenputtel.

Wieder begannen sie zu reden. Diesmal versuchte Bürschel, über ihr jetziges Dasein, ihre Pläne, ihre Aussichten etwas zu erfahren. Nicht eben viel. Sie war sorglos und planlos, was die Zukunft betraf; halb wie ein Kind, das gewohnt ist, daß im kritischen Augenblick ein leitender Geist die Führung übernimmt, halb wie ein müder Patient, der unbewußt schon die Stirn unter des Todes weichen Flügel birgt.

Was war es, das sie ihm erst kinderhaft vertraut, nun aber fremd erscheinen ließ, als könne alles – was er sagte – eine abwehrende Nebelschicht nicht durchdringen? Fremder als auf den Lichtbildern in der vierfachen Verkleidung, da er noch meinte, ein Blick, ein Wort des Anrufs würde 206 genügen, und all die Jahre der Trennung würden sein wie ein Tag.

Übrigens hatte das was Kitty von ihren äußeren Lebensverhältnissen erzählte aufrichtigen Klang. Sie wohnte bei einer jungen Filmschauspielerin, die sie zu der Zeit der Schlafesanft-Episode kennengelernt hatte; Lydia Hempel, welche dank Schlafesanft junior vor den ärgsten Miseren des täglichen Lebens bewahrt blieb. Bei ihr also hatte Kitty was sie eine Zuflucht nannte, was aber in Wirklichkeit nur aus einem ersteigerten Schlafdiwan (Baumwollplüsch mit Bommelchen), einem Kleiderriegel und einer Waschgelegenheit am Küchenausguß bestand. Aber, du lieber Himmel, sie nahm ja wenig Raum ein und ihr ganzes Hab und Gut fand in zwei runden Pappschachteln reichlich Platz. Freilich, wenn Schlafesanft junior auf Besuch kam, wurde sie ausquartiert, dann bekam sie eine Matratze in der Küche, und das war kein Ruheposten, da Lydia bis tief in die Nacht Punschwasser heiß machte und allerhand Zwiebeliges auf dem Gasherd brotzelte. Lydia war tagsüber selten daheim, sie verbrachte ihre ganze Zeit in der Filmstadt, Anfangs hatte sie Kitty mitgenommen. Dort war Indien, war Venedig und die Alhambra, auch alte Ritterburgen mit Zugbrücken, alles aus Kunststein, Gips und Pappe; auch Tiere gab es, Esel und Schafe, Kamele und Affen, sogar einen alten 207 halbblinden Bären, die dazwischen ein unwirkliches Leben führten, mal Zirkus oder Menagerie darstellten oder in indischen Stücken verwandt wurden, mit schönen Rajahfrauen und englischen Offizieren, dann wieder mit den heiligen drei Königen über märkische Sandhügel zogen, mit nachgemachten Palmen und Ziehbrunnen am Weg. Schrecklich zugig war es, dann wieder glühheiß in den Ateliers – erst hatte auch sie eine kleine Rolle erhalten, aber eine Erkältung löste die andere bei ihr ab und das ewige Husten verdarb die Aufnahmen. Und dann konnte sie's auch vor Müdigkeit nicht mehr aushalten, in den Pausen schlief sie ein, einmal in der Alhambra und einmal quer über den Tatzen der Sphinx; da hatte man ihr gekündigt. Jetzt arbeitete sie in Pro Bellezza, oh, kein Laden, ein feines Etablissement im zweiten Stock. Ganz diskret. Es kamen die merkwürdigsten Menschen hin, ganz zerzauste, aber auch schöne, elegante, die's eigentlich nicht nötig gehabt hätten. Die bediente Madame Bonifaz selbst. Manche kamen in Sonderkojen zu Massage und Magnetismus – sie lagen starr auf Ruhebetten, bis Herr Bonifaz sie wieder erweckte; alte, runzlige Madamen, die Angst hatten, daß ihre Liebhaber sie verließen, ließen sich die Haare färben, oder sie gebrauchten eine Schälkur; nachher sahen sie glatt und rosa aus wie junge Ferkel; aber es hielt nicht vor. Ihr hatte man einen Winkel im 208 Maniküresalon angewiesen. Oh, was kamen da für eklige, kurzfingerige Tatzen, die sollte sie nun schön machen, puh. Und immer der Geruch von Brillantine und versengtem Haar; die Kollegen aßen Wurst und Käsebrot dabei und wärmten sich Kaffee auf den Gasflammen; ekelhaft so zwischen Haarbürsten und Brennscheren. Abends wenn sie nach Hause kam, war sie dann so ausgehungert, daß sie nichts mehr herunterbrachte – aber na – es war immerhin gut geheizt bei Bonifaz, und ewig dauerte es ja nicht. Aber widerlich waren die bedienenden Jünglinge mit ihren fettigen Redensarten, und am widerlichsten Herr Bonifaz selbst mit seinen wabblichen Magnetiseurhänden. Oh, wären die doch alle krepiert in den Schützengräben – aber das waren lauter Drückeberger, die waren natürlich übriggeblieben. Na, sie ließ sich nicht an den Wimpern klimpern, nee, wenn se nich wollte, dann wollte se nich. . . . .

Bürschel runzelte die Stirn. Daß Kitty so berlinerte, war ihm widerwärtig; aber dann sah er sie an, auf ihren Backenknochen brannte ein verdächtiges Feuer. Und auf einmal erschien sie ihm wie so ein armes Kätzchen, das sich aus der Gosse einen alten Heringskopf gefischt hat und nun, schmutzig und argwöhnisch, in einem Torweg kauert, von wo man es gleich wieder wegjagen wird. Arme Cenerentola! Und sein Gewissen nagte. 209 Findelkind – Schulkind – Konfirmationskind – und nun?

»Hast du den grünen Stein noch, den ich dir zur Einsegnung schickte?« sagte er plötzlich.

»Was werd' ich nich,« sagte Kitty, die verschwieg, daß der Gegenstand wochenlang auf dem Leihhaus gelegen hatte und erst vor kurzem, dank einer großmütigen Anwandlung Lydia Hempels, dort ausgelöst worden war. Sie zog an einem grünen Seidenband – das Kettchen war schon lange verloren –, und zwischen ihren kleinen Brüsten kam der Beryll hervor. Sie zog das Band über den Kopf und reichte den Anhänger hinüber; glatt und lauwarm lag er in Bürschels Hand. Herrgott . . . seine sorgenlose Knabenzeit, Maria Reicherts nachsichtiges Gutwetterantlitz, dämmernde Straßen, Lampenlicht und Musik . . . und neben seinem Notenpult Kittys kleiner, warmer Körper, dem er damals in seiner störrischen, verträumten Bubenart keine Beachtung schenkte, der aber nun in der Rückerinnerung so lebendig war! Oh, dachte er und das Blut stieg ihm bis an die Haarwurzeln, nur jetzt keine Musik, da müßte ich flennen.

»Da, Käthchen, da hast du's wieder,« sagte er und legte ihr das Band wieder um den Hals mit seinen behutsamen Arzthänden. Und es war ihm als habe er aufs neue Besitz von ihr ergriffen, als sei's der Anfang einer besseren Zeit 210 für sie, vielleicht auch für ihn; denn es mischte sich eine absonderliche Genugtuung in sein Mitleid, nun er sich vorgenommen hatte, dem kleinen verlaufenen Tier herauszuhelfen aus der Gosse, es zu sichern vor Hunger und Nachstellung; wir sind ja gern nachsichtig gegen jene, die uns des Gefühls, gut zu sein, teilhaftig werden lassen.


 


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