Irene Forbes-Mosse
Kathinka Plüsch
Irene Forbes-Mosse

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XI.

Später dann, in jenen Tagen, als die alte Hoffnung gestorben und noch keine neue erwacht war, als wie zur Zeit der Florentiner Pest die Verzweiflung sich auf fratzenhafte Weise kundgab und ein fieberhaftes Erraffen fragwürdiger Genüsse die dem Abgrund Zugleitenden sich noch einmal am Rand festklammern ließ, als überall in den Straßen jene fürchterliche Lustigkeit herrschte, die so gar nicht fröhlich war – in jenen Tagen kam Bürschel zurück in die Hauptstadt des Reichs.

Er war daheim gewesen, hatte Maria Reichert kurzatmig und unbewegsam wiedergefunden, mit geschwollenen Fußen und Händen im Lehnstuhl sitzend, den sie auch nachts nicht mehr verließ. Arme Mutter – da war nicht viel zu machen. Vorübergehende Erleichterung und die Aussicht auf ein nahes Ende, noch trauriger gemacht durch die Gewißheit, daß dem noch unvermeidliche Qual vorangehen mußte. Und er, der so Grauenvolles erlebt und immer wieder 166 mit angesehen hatte, erkannte, als ihm der hilflose Blick dieser klein gewordenen Augen, dies fast kindliche Lächeln auf den gedunsenen Wangen begegnete, daß das Leiden derer, die unsere ersten Kinderschritte behütet haben und nun in plötzlicher Unmündigkeit bei uns Rettung suchen, die wir doch nicht zu bringen vermögen, zu den allerraffiniertesten Vorrichtungen gehört, die das Schicksal in seiner Folterkammer aufbewahrt. Eigentlich hatten sie einander wenig zu sagen. Sie sah niemand, las die Zeitungen nicht mehr, ließ das Allgemeine stumpf an sich vorüberziehen; und er, was hatte er denn erlebt, das sich zu Erzählungen am Krankenbett verwenden ließ? Hatte er sich doch selber eine Hornhaut wachsen lassen müssen, um zwischen all dem Unabänderlichen nicht zugrunde zu gehen, denn auch die ans Wunderbare grenzenden Heilungen die seine Hände zuwege gebracht hatten, was zählten sie gegenüber den Tausenden von Malen, wo er machtlos gewesen! . . . Vergessen, nur vergessen erbat er, wie so viele, die ihre Erinnerungen innerlich verdrängten und durch neue Eindrücke zu verwischen suchten; oder sie endlich in der dünnen Luft jener Gipfel loswurden, auf die die Wissenschaft führt, die, scheinbar zwecklos, ihre Spiralen immer höher treibt, geahnten und ungeahnten Zielen entgegen. 167

Aber es besteht im Verhältnis von Mutter und Kind ein tierhafter Zug, eine wortlose Verständigung, welche das Aussprechen entbehrlich macht. Die körperliche Nähe, die Wärme, der Hauch, eine besondere Art, die Hände zu bewegen, die Augen beim Lachen zu verziehen, das alles wirkt mehr als Worte. So sprach er nur wenig, gleichsam tastend, von Dingen die weit zurücklagen; von seiner Musik und alten Bekannten im Städtchen, denen Maria Reichert in den schweren Zeiten ausgeholfen hatte; derweil er mit verständnisvollen Fingern leise der Mutter hilflose Arme streichelte. Dabei wurden auch die Namen Käthchens und des jungen Sally Immerwahr genannt. Letzterer war in einem Lazarett, leider nicht dort, wo Bürschel hantierte, einer Verwundung erlegen, der er, der zarte, übernervöse Mensch, wenn man wollte unnötigerweise, denen die seine Veranlagung kannten aber wohlverständlich, sich ausgesetzt hatte, als er im Morgendämmern aus dem Graben gekrochen war, um einen kleinen, skelettartigen Hund, der die ganze Nacht wehklagend in den aufgewühlten Terrainwellen aufgetaucht war, an sich zu locken und in Sicherheit zu bringen. Feinfühlig und jede Qual miterlebend, hatte er dies Winseln um Obdach und Nahrung nicht länger ertragen, hatte sich, strengstem Befehl zuwider, über den Rand des Erdwalls gestreckt und glücklich den armen Stromer an der 168 Genickhaut zu fassen gekriegt. Zurücksinkend war er dann bald jedem Vorwurf, jeder Strafe seiner Vorgesetzten entrückt. Dies aber behielt Bürschel für sich, denn um einen Hund sein Leben zu lassen, war wohl nicht das, worin Hinterbliebene eine ach so notwendige Erhebung fanden. Die Familie Immerwahr, wie Kellerasseln unter einem plötzlich hochgehobenen Blumentopf, durch mehrere alte, namenlose Anverwandte verdoppelt und verdreifacht, umwuselte ihn mit rastlosen Handbewegungen; bis auf das Elternpaar, das still und blaß, vom Schicksal gehetzt und nunmehr endgültig erledigt, still nebeneinander am Tisch saß und mit herzzerreißender Zuvorkommenheit die lederne Armbanduhr, die Brieftasche, ein Bändchen Schopenhauer und ein anderes von Heine vor Bürschel ausbreitete, »zur Auswahl«, als letztes Andenken an ihren Sohn; welche Gegenstände ihnen vor anderthalb Jahren der Postbote auf denselben Tisch niedergelegt hatte. Bürschel versuchte durch tröstende Redensarten von raschem, sanftem Tod, Opfer der Pflicht und dergleichen mehr einen Schleier über die Einzelheiten zu breiten; aber die großen, schwarzen, wie verbrannten Augen der Frau Rebekka Immerwahr schienen, derweil ihr Mund unverändert höflich lächelte, durch all seine Trostesworte hindurchzubrennen, tränenlos, wissend, in jener ewigen Mutterqual, die sich ihm hier 169 von neuem als das Tiefste in dem ganzen Abgrund des Leids offenbarte; etwas, das Menschenweib und Raubtier und brütende Grasmücke gemeinsam haben und neben dem der Schmerz der Gattin, der Braut, der Kinder blaß wird.

Ja also, nach Käthchen erkundigte sich Bürschel auch, mit plötzlichem, wenn auch noch undeutlichem Interesse. Das war alles so ewig lange her, und die große, allgemeine Pein hatte ihm, wie im Märchen jener eisige Kuß der Schneekönigin, das Gedächtnis eingeschläfert. So hörte er nur wie aus der Ferne, daß Käthchen schon lange nicht mehr schrieb, die kleinen Ersparnisse Laura Hagedorns aber bei deren Tod derartig zusammengeschmolzen waren, daß es ohne Maria Reicherts Einschreiten nicht einmal zu einem anständigen Begräbnis gereicht hätte. Käthchen solle in Berlin sein, man wisse nicht in welchem Berufszweig, besser vielleicht, sagte die Mutter mit kurzem, schmerzhaftem Luftholen, man forsche dem nicht nach. »Ja,« sagte Maria Reichert und hielt sich mit blassen, geschwollenen Händen am Arm des Sohnes fest, »ich hätte wohl besser aufpassen sollen, du hattest sie doch lieb, als sie ein Kind war; ein lieb's Mädele, wenn auch arg unzuverlässig. Aber das Schreiben wurde mir schwer. Aber unser Bürgermeister erkundigte sich, und da hatte sie zuletzt eine gute 170 Stelle in München und war ganz zufrieden; dort verschwand sie dann, wie gesagt, die letzte Spur führte nach Berlin. Ja, und in der Kriegszeit die Vereine und dann all die Schreiberei wegen der Fabrik . . . Dein Anteil . . . und alles umgestellt auf Munition . . . Glaub' mir und ich war damals schon immer so atemlos; Gott, in der Nacht mein Herz, wenn du lange nicht geschrieben hattest, wenn das so anfing aufzuquellen, als sei Hefe drin . . .« Sie weinte. Bürschel streichelte ihre Hände. »Laß gut sein, Mutter, ich werde sie schon finden; du mußt es nicht so schwer nehmen. Käthchen hatte so eine Art mit den Leuten. Sie fiel immer auf die Füße, wie die Katzen. Sie wird dem Schicksal schon ein Schnippchen schlagen. Aber ich werde mich nach ihr umtun. Bei unserem Meldesystem kann ja kein Floh entwischen.« Und dann redeten sie von anderen Dingen.

Aber als er über den verödeten Hof ging und dann durch die kleinen Straßen der inneren Stadt, wo Laura Hagedorn gewohnt hatte und die alten Ladenschilder leise im Wind klapperten, wie er von Brücken hinabsah in die raschen, engen Kanäle, die zwischen den Häusern flossen, Papier und Stroh und gelbe Lindenblätter dahintragend bis zur nächsten Stauwehr – da konnte er doch ein leises, inneres Nagen nicht betäuben, wenn ihm immer wieder eine kleine schmalhüftige Gestalt unter dunkeln 171 Torbögen oder auf verwitterten Treppchen und Schwalbengängen aufzutauchen schien. Oh, das Leben hatte ihn in seine grausigsten Werkstätten geführt, er hatte sich Nasen und Ohren, ja auch das Herz zustopfen müssen um seine Arbeit zu tun . . . nur die Augen mußten scharf und weit offen bleiben und die Hände ruhig und ohne Zittern. Nun versuchte er, seine Augen abzublenden, Schleier zu ziehen über das Gewesene, das nicht mehr zu ändern war; aber die anderen, vermummten Sinne, sie wachten auf und verlangten ihr Recht: er zog erkennend den moorigen Dunst der Kanäle ein, den Torfrauch, der so rund und ohne Eile aus den Schornsteinen qualmte, und die kleinen Gärten an den Kanälen sandten ihren wohlbekannten Geruch von Dill und Sellerie und modernden Blättern; ja, und sein Ohr war hellhörig wie nur je; das Rauschen vom Wehr in der Ferne, das Seufzen der kahlen Pappeln, die im Sommer wie Seide raschelten, dort, wo der Kanal die offenen Wiesen erreichte, er hörte es wieder; und da auf dem Gatter das Picken der Spechtmeise, die eine braune Samenkapsel mit dem Krällchen festhielt und mit zielsicherem Schnabel bearbeitete, er kannte es auch. Und auf einmal kamen Geigentöne dazwischen und auch Klavier, ja es war ein Doppelklang, Corelli, die unsterblichen Variationen. Da war Sallys schmales, musikverklärtes Mäusegesicht, zwischen 172 hochgezogenen Schultern, seine dünnen, durchsichtigen Ohren – Schallwelltrichter nannte er sie – o Sally! »Doch die Katze, die Katz' ist gerettet,« sang dein Lieblingsdichter, dessen verschabtes, verregnetes Bändchen deine Eltern zurückerhielten; aber in deinem Fall war's ein armer, verhungerter, flandrischer Köter gewesen . . . Ja, und nun spielen wir auch noch die Variationen aus der Kreuzersonate, Sally, feines, hartnäckiges Zikadengetriller, und eine kleine braune Hand wendet die Seiten um, ein sonnenbraunes Genick beugt sich vor, die Klavierlampe scheint auf aschblondes, fast silbernes Gekräusel . . .

 


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