Irene Forbes-Mosse
Kathinka Plüsch
Irene Forbes-Mosse

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II.

Nachdem Frau von Rosendorp an jenem regnerischen Frühlingstag den Mietkontrakt unterzeichnet hatte und mit feucht glitzerndem Haar, etwas mitgenommen von der bindenden Handlung, heimgekehrt war, ließ sie sich auf dem teckelbeinigen Sessel neben dem Ofen nieder und duldete ohne Protest, daß ihr die Perle Mariette die nassen Schuhe losband. Dann schlüpfte sie in ein weiches Hauskleid, dehnte die Arme und sah sich in den vier Wänden um, als ob sie eben erwachte. Die Reiseuhr auf dem Schreibtisch tickte eilig, als mahnte sie, die Zeit nicht zu versäumen; aber der Veilchenstrauß daneben, im silbernen Becher, duftete still und eindringlich; der hatte Reserven für die Ewigkeit. Das Zimmer sah sie fast vorwurfsvoll an, nun sie wußte, daß sie's bald für immer verlassen würde.

»Will Madame unten speisen?« fragte die Perle, die graue Perle. Sie stand an der Tür, 28 Frau von Rosendorps regenfeuchte Kleider über dem Arm. »Wissen Sie, was es gibt, Mariette?« fragte Frau von Rosendorp mit plötzlichem Interesse; sie spürte Rekonvaleszentengelüste nach irgend etwas Unbeschreiblichem, aber sehr Raffiniertem.

»Ich glaube Kalbsragout und nachher Apfelkompott.«

»Gott, wie phantasielos,« meinte Frau von Rosendorp; ihre Stimmung sank zusammen wie ein Soufflé nach dem ersten Stich, »nein, wegen Kalbsragout zieh' ich mich nicht wieder an; machen Sie mir Kaffee, Mariette, dann will ich lieber faulenzen.«

Dann legte sie sich auf das harte Empiresofa, auf dem sie sich, wenn sie so die Füße kreuzte, immer vorkam wie Madame Récamier; dank vieler Kissen war es behaglicher, als es aussah. Sie ließ ihre Blicke im Zimmer hin und her spazieren. »Partir, c'est toujours un peu mourir;« oh, wie richtig, dachte Frau von Rosendorp, die vielfach von Zitaten heimgesucht wurde. Seltsam, auch die langweiligste Wohnung, wenn sie ihr anfangs noch so schrecklich erschienen war, nach einiger Zeit wurde sie ihr vertraut, und dann war der Abschied wie ein Riß. Nicht daß sie wie so viele ihrer Bekannten Bilder und Kissen und bunte Stoffe auf Reisen mitnahm, um fremde Räume wohnlicher zu gestalten; nur einige ganz unmögliche Dinge 29 wurden auf diplomatische Weise – denn gerade die ärgsten Schrecknisse waren immer die den Inhabern teuersten Heiligtümer – hinauskomplimentiert; hier zum Beispiel eine künstliche Palme auf ihrem Sockel von Pseudoporphyr und die farbige Wiedergabe eines gemalten Bismarckkopfes, dessen vorwurfsvolle Tränensäcke sie in allen Zimmern verfolgt hatten. Im übrigen konnte man sich an vieles gewöhnen, sogar an den Lutherstuhl vor dem Schreibtisch mit dem ganz unmotivierten Löwenkopf in der Mitte seiner Lehne, der ihr in ruhebedürftigen Momenten plötzlich in den Rücken fuhr. Er paßte recht zu der ältesten Majorstochter, der eigentlichen Inhaberin der Pension; so fest und unentwegt und grundsätzlich, so ganz preußische Tüchtigkeit, vom blonden, schon am frühen Morgen tadellos ondulierten Scheitel bis hinab zu den großen schlanken Füßen in starksohligem Schuhwerk. Aber die künstlerische Ecke im Musikzimmer, wo ein Abruzzenteppich, zwei römische Öllampen und ein Abguß der »Schlafenden Furie«, von getrockneten Flaschenkürbissen flankiert, nach dem sinnenfrohen Süden wiesen, war das Werk der jüngeren Schwester, die außerdem im vierten Stock ein Atelier innehatte, wo sie zuweilen Feste gab, mit versteinertem Ingwer aus einem chinesischen Topf, Benediktinerlikör und Zigaretten. Beethovens Totenmaske an der Wand, zwischen 30 zwei Tamburinen aus Capri, hing leidvoll über diesen Exzessen, Zarathustra lag aufgeklappt auf dem Diwan, und eine Laute mit vielen seidenen Bändern gab ihre Wandervogelnote dazu.

Die Rückständige ist mir lieber, dachte Frau von Rosendorp; an ihr ist alles unverfälscht; diese selbstverständliche Pflichttreue, die Küchenschürze und dazu der Wappenring am Finger. Auch die Chaussure so gesinnungstüchtig. Oh, wie paßt das alles zum Urahn; der natürlich ein hoher Beamter war, zur Zeit, als Napoleon unser Vaterland erniedrigte, seine Stelle aber niederlegte und mit elf Kindern Armut und Verbannung vorzog. Gewiß stammt von ihm dies steiflehnige Sofa, auf dem die Gedanken nur rechtwinklige Wege gehen. Aber die zweite mit ihren Bernsteinketten und Carmenallüren ist ein Staubfänger und ihr Atelier ein Sammelsurium. Ja, Hausmacherleinen kann etwas Edles sein, aber Baumwollplüsch ist fürchterlich.

Frau von Rosendorp fröstelte. Sie gab die Récamierstellung auf, kroch zusammen, machte sich klein und japanerhaft. Derweil brummte der Ofen gemächlich.

Kurios, dachte sie, in Italien ist der Ofen weiblich, la stufa, gerade wie la mamma; ja gewiß, eine richtige Mamma sollte einer guten warmen Stufa ähnlich sein. Aber für mich ist 31 der Ofen nun einmal ausgesprochen männlich. Von der wohlgenährt-phlegmatischen Sorte, wie so ein dicker Münchener Chauffeur, der väterlich für alles Rat weiß, oder ein Berliner Gepäckträger, einer jener wohlwollenden Riesen, die einem Ankunft und Abfahrt derartig verklären, daß man nie ganz objektiv über jene im Grunde reizlose Stadt urteilen kann. O wie gut, daß auch in der neuen Wohnung Öfen sind. Denn solche wärmenden Schlangengewinde sind schon das Unpersönlichste, was es gibt; sie bullern nicht, sie knacken nicht, und zarte Blumen sterben in ihrem Hauch. Alte Damen können sich den erübrigten Kaffee nicht darin warmhalten, Kinder keine Äpfel darauf braten, Königstöchter ihr Leid nicht hineinklagen. Oh, und eine Lampe werde ich auch wieder haben, eine richtige Öllampe; ich werde das verlorene halbe Stündchen wiederfinden, wo man auf sie wartete und sich derweil am spannenden Roman die Augen verdarb oder ans Fenster ging und der Reihe nach an allen sechs Hyazinthen roch, ehe die Blende herunterschnurrte . . ., aber jetzt knipst man, und das Licht ist da, genau so unvermittelt wie im ersten Buch Mose, und nicht die kleinste Ausrede hat man wenn man lieber ein bißchen dämmern möchte.

Ja, die neue Wohnung war ein rechtes Himmelswunder, ganz und gar nach ihrem Sinn. Daß es so was überhaupt noch gab! Aber 32 in jenem Stadtviertel hatten früher fast nur Künstler gehaust, und da waren ein paar solcher altmodischen Anwesen übriggeblieben, etwas wehmutsvoll zwischen den Neubauten verstreut wie verirrte Kinder zwischen hastenden Erwachsenen. »Stark wiederherstellungsbedürftig,« hatte der Agent gesagt, kein Licht, keine elektrischen Klingeln, ja, und die Badeeinrichtung äußerst primitiv. Darum aber auch so billig, so viel Raum; ach, und die tiefen Fensterplätze! Sie konnte es nicht fassen, daß ihr das alles zugefallen war, hatte sie doch sonst in der Lebenslotterie nicht viel Glück gehabt. Jedem, dem sie auf dem Heimweg begegnete, hätte sie gern den Arm gestreichelt und gesagt: »Ja, ich begreife es gut, daß Sie außer sich sind, zu spät gekommen zu sein; aber nicht wahr, Sie gönnen mir's, ich habe mich doch seit Jahren so sehr danach gesehnt.«

Und nur, weil sie in die neue Wohnung so mit Haut und Haar verliebt war, hatte sie es vermocht, mit Fräulein Marie Agnes' Fremdenheim Schluß zu machen. Denn so was war nun einmal eine brutale Sache. Wie brachten es Frauen nur fertig, sich bloß so »aus Abneigung« – »in vacuo« würde der selige Rosendorp gesagt haben – scheiden zu lassen, wenn da nichts anderes war, das sie zog und zerrte wie der Mond den Schlafwandler! Und doch betonten jene es allemal, als sei es verdienstvoll, 33 dergleichen mit kühlem Herzen zu tun. Ihr kam es übermenschlich, ja unmenschlich vor. Herrgott, allein schon einer Köchin zu kündigen, gewissermaßen mit dem Dolch im Gewande auf die vielleicht Ahnungslose loszugehen – wo holte man sich den Mut dazu, wenn es nicht »im Affekt« geschah! Dabei fiel ihr die neue Theres ein, die sie engagiert hatte; »treu und willig und in Mehlspeisen firm«. Und morgen mußte sie schon wieder auf das schreckliche Bureau, denn für die graue Perle hatte sie noch keinen Ersatz. Diese war ja leider Gottes verheiratet und erhielt jede Woche einen erregten Brief ihres Gatten, der in Athen Gesandtschaftskoch war und hitzig, wie Köche sind, erklärte, daß er ohne Gattin und Häuslichkeit in diesem »sale pays« – o ihr Götter Homers! – nicht weiter zu leben gewillt sei. Und nun stand der Abschied von Mariette bevor, eine jener Amputationen, wie sie ihr das Leben schon allzuoft beschert hatte.

So, da war Mariette mit dem café au lait nach dem guten Pariser Rezept, und dazu ein Ei und zwei Schinkenscheibchen mit Petersilie garniert; das traditionelle Abendessen alleinstehender Damen. O du Ei, sei frisch, betete Frau von Rosendorp, indem sie es aufklopfte, denn die absolute Zuverlässigkeit der preußischen Offizierstochter erstreckte sich leider nicht auf die sogenannten Trinkeier. 34

Derweil setzte sich Mariette an den Schreibtisch und zog mauvefarbige Bändchen in Frau von Rosendorps feine, mürbgewordene Leibwäsche.

»So ist's recht, Mariette,« sagte Frau von Rosendorp, »bleiben Sie bei mir; Sie wissen, es bekommt mir nicht, immer allein zu essen wie Ihr geistliches Oberhaupt, der bedauernswerte Papst. Ach, Mariette, ob die Neue wohl daran denken wird, rechtzeitig Bändchen einzuziehen? Sie wird gewiß einen gekniffenen Mund haben und Karoline heißen oder Ottilie oder am Ende gar Thekla – und es gibt nur eins, was noch schrecklicher ist: wenn ein Mann Emil heißt.«

Sie spielte gedankenvoll mit dem lila Band. »Mariette,« sagte sie, »als ich vierzig Jahre wurde, kauften Sie zum erstenmal lila Bändchen. Es war ein Abschnitt in meinem Leben, wie die Pastoren sagen, wenn sie einen trauen oder konfirmieren. Nein, entschuldigen Sie sich nicht, Sie machen's nur schlimmer; gewiß dachten Sie sich nichts dabei, das eben ist's, was mir den Dolch im Herzen umdrehte. Es war Ihr blinder, untrüglicher Instinkt, der Sie nach dem lila Bande greifen ließ, und neuerdings halten die Philosophen wieder große Stücke auf den Instinkt – denn er ist das Unbewußte und daher ganz unbestechlich und bedeutet viel mehr als alles, was man dazu spintisiert und obendrauf pappt. So, das mußte ich 35 Ihnen doch sagen, ehe Sie nach Athen fahren, wo nur Staub ist und edle Trümmer und sehr viel Fliegen. Aber, Gott ja, Sie haben nun einmal den Mann . . .«


Tags darauf engagierte Frau von Rosendorp die jugendliche Kitty alias Käthchen Pelzer. Sie war zwar mit der Absicht auf Menschenjagd gegangen, wieder eine angegraute Perle zu gewinnen, irgendeine Witwe mit eingemotteten Schicksalen oder eine Verlassene, die eine verblaßte Soldatenphotographie über ihrem Bett aufhängen und zu Weihnachten Pakete an einen fernen kleinen Jungen in einem fernen kleinen Dorf adressieren würde. Etwas Leises, Behutsames hatte ihr vorgeschwebt, ein Wesen, ihr selbst verwandt, mit einem schlecht gekitteten Knacks oder auch zwei am Herzen, das dennoch wie so mancher gesprungene Lampenzylinder bei vorsichtiger Behandlung noch lange seinen Dienst tut. Etwas, das Verständnis hätte für des Lebens Strandgut, kleine verirrte Katzen in abendlichen Straßen auflesen und die alten fadenscheinigen Tischtücher achten würde in ihrer Gebrechlichkeit.

Aber wie sie so oft in ihrem Leben eine Sache wollte, aber eine andere tat, wählte sie statt dessen Kitty Pelzer, die inzwischen in allerhand deutschen Gauen gewesen war, erst als Kindermädchen, dann als Zimmermädchen, als 36 Verkäuferin und auch als Masseuse; die aschblondes, ja beinahe aschgraues Haar hatte, mit silberflaumigen Schläfen, in die sich die schräg gestellten Brauen verliefen, und ebensolchem silberflaumigen Genick. Die kein Soldatenbild auf der Kommode stehen hatte, in einem Kasten aus imitiertem Krokodilleder aber desto mehr Bilder romantischer Jünglinge mit Prießnitz-Krawatten, wie sie in diesem Stadtteil horsteten. Die Sache war folgendermaßen zugegangen. Zunächst hatte Frau von Rosendorp wohl eine Stunde lang bei der säuerlichen Bureaudame im Marthaverein Perlen interviewt. Diese aber hatten unangenehme Physiognomien oder scharfe Stimmen, betonten auch ihren streng moralischen Wandel auf so aggressive Art, daß Marianne Rosendorp wie vor den Röntgenaugen Gottes die eigenen Augen niederschlug und längst vergessener Sünden gedachte. Das magere Fräulein am Pult rieb indessen seine Frostbeulen und ließ den spitzen Zeigefinger die Reihen der Listen hinunterschlittern, als verfolge er ein bestimmtes Individuum, das in die untersten Reihen gerutscht sei, worauf er die Sache in umgekehrter Richtung, gleichsam als Fassadenkletterer, wiederholte. Frau von Rosendorps Gehirn wurde blutlos bei der Aufzählung so vieler seltener Eigenschaften, die bei dem freudlosen Wesen der Besitzerinnen doch nur Verschwendung schienen, und tiefe 37 Niedergeschlagenheit überkam sie bei dem Gedanken an endgültige Wahl. Plötzlich tauchte, wohl als Gegensatz zu dem härenen Gewand, das der Tugend wohl ansteht, der Gedanke an erlesene Modeerzeugnisse, die zu besichtigen sie eine gedruckte Aufforderung erhalten hatte, in ihr auf. Mit einigen stammelnden Worten gelang es ihr, vom Bewußtsein eigener Inkonsequenz gepeinigt, das Lokal zu verlassen; und erst als Fräulein Schellenbach, Direktrice bei Schepler, sie in den lavendelgrauen Probiersalon führte, wo man auf Stecknadeln wandelte, begann sie wieder aufzuleben.

Fräulein Schellenbach, in ihrem strenggeschnittenen schwarzen Crêpe de Chine ganz Linie und bedeutend stilvoller als alle Damen, die sie bediente, berichtete in gezügelter Ekstase über eben eingetroffene Wiener Modelle.

»Ich lasse Fräulein Senta bitten,« rief sie, kaum die Stimme erhebend, zur Tür hinaus, mit der unerbittlichen Sanftmut einer Äbtissin, die da befehlen würde: »Schwester Addolorata zur Geißelung.« Fräulein Senta, führender Mannequin, erschien, breitschultrig, aber mit schmalen Hüften, dunkle Ränder, sowohl vom Kohlenstift wie von bewegten Nächten herrührend, unter den Nixenaugen im schönen, gepuderten Antlitz. Etwas zu walkürenhaft vielleicht für diese knisternden Abendmäntel, die mit bewegten Falbeln und schattenwerfenden 38 Kapuzen an schmale Venezianerinnen gemahnten, wie sie, blindschleichenhaft, Liebestücke im Herzen, durch dunkelnde Gassen schlüpfen. »Malmaisonrose« war Fräulein Sentas Erkennungswort in Mariannes Register, denn sie hatte die Witterung eines Sammlers für die Eigenart ihrer Exemplare, und es war etwas in Fräulein Sentas verblühter Anmut, dem schon leise welkenden Umriß ihrer Wangen, das sie an jene fürstliche Rose denken ließ, wenn ihr der erste Herbstfrost die Kelchblätter bräunt.

Bei manchen dieser Benennungen zitterten auch Untertöne mit, die sie mit anderen, kostbaren Vorstellungen verband. So war Fräulein Senta mit der Erinnerung an Frau von Rosendorps einzigen Bruder verflochten, der als Gymnasiast gestorben war und dessen Tod ihr jetzt noch, nach so vielen anderen Tragödien, vorkam wie das Ausbrechen ihres ersten, aufrechten Mitteltriebs. Hansjürgen war im letzten Jahr seines kurzen Lebens von einer Schwärmerei für eine Schießbudendame erfaßt worden, der Fräulein Senta ähnlich sah wie ein etwas verschwommener Gipsabguß einem lebensvollen Tonmodell. Mit weiten, herrlichen Schultern und unsäglicher Menschenverachtung im Blick, stand »die erste Pistolenschützin der Alten und Neuen Welt« in ihrer Bude, lud die Flinten und reichte sie lässig den Sonntagsschützen hinaus. Sie schossen schlecht, diese Ladenschwengel; 39 wenn sie einmal einen Treffer machten, war ein Triumphgeschrei, ein Gewieher, über das sie geringschätzig die Lippen verzog. Wenn dann aber der langaufgeschossene Tertianer kam mit seinem Pierrotgesicht, wo allemal der Mund traurig war, wenn die Augen lachten, oder umgekehrt – dann erwachte in den grauen, dunkelbewimperten Augen der Schießbudengöttin ein Strahl belustigter Kameradschaft, wie ihn die jagende Diana bei den ersten Sprüngen eines jungen Windhunds gehabt haben könnte. Sie zeigte ihm die Systeme der altmodischen Büchsen, der alten Reiterpistolen und neuerer Fabrikate ihrer Sammlung, und bald traf er das tanzende Ei auf dem Wasserstrahl, ohne je zu fehlen. Wilde verschwiegene Wünsche bemächtigten sich seiner, er wollte Großtaten vollbringen, um der waffenkundigen Jungfrau würdig zu sein, sie erlösen aus dieser Fron um in Wildwest ein Herrenleben mit ihr zu führen, einsam und gefahrvoll, mit Büffeljagden und Hyänengeheul in dunstigen Nächten, Aber es gab auch Stunden, wo Hansjürgen sich schwach und verlassen fühlte und am liebsten still auf den Schoß der Göttin gekrochen und wunschlos, wenn auch in Tränen, an ihrem gastlichen Busen eingeschlafen wäre.

Nach acht Tagen zog die erste Pistolenschützin der Alten und der Neuen Welt weiter, wie es ihr Beruf mit sich brachte, zusammen 40 mit der Schlangendame, dem Rattenfänger von Hameln, dem Gespensterhaus, den Russischen Schaukeln. Aber nun kam das Verhängnis, denn am Samstag verließ ihr jugendlicher Anbeter die väterliche Wohnung und verbrachte den Sonntag in der fremden Stadt, wo zur Zeit die Jahrmarktbuden errichtet waren. Bald ereilte ihn eines jener plumpen Strafgerichte, die mit Bleisohlen über Kinderseelen gehen, und er kam in ein adeliges Knabeninstitut, wo mit der Zeit der geltende Komment und der den meisten Kindern angeborene Snobismus vielleicht mit der unstandesgemäßen Schwärmerei fertig geworden wäre; aber ehe es soweit war, zog Hansjürgen noch weiter; und wenn er die Wahl gehabt hätte und bei ganz klarem Bewußtsein gewesen wäre, würden die ewigen Jagdgründe wohl das Ziel seiner Wünsche gewesen sein, denn sie dünkten ihm begehrenswerter als der christliche Himmel, auf den ihn in fieberfreien Momenten der Anstaltsgeistliche verwies.

Frau von Rosendorp, die nicht gern in Gedanken an verlorene Möglichkeiten wühlte – dazu taten sie ihr zu weh –, hatte sich nur allmählich an Fräulein Sentas Züge gewöhnen können; nein, es waren wohl mehr die Linien, die Bewegungen, die Art, wie diese stand, wie sie rasch und zielbewußt den Arm ausstreckte, was sie an jene erste und letzte Flamme ihres 41 kleinen Bruders gemahnte; aber in ihrer Begrüßung der Probierdame hatte immer eine persönliche Note geklungen, und Fräulein Senta dankte es ihr durch Gefühle fast backfischartiger Schwärmerei. »Diese Mäntel sind gottlob so teuer, daß man erst gar nicht in Versuchung kommt,« sagte Frau von Rosendorp. Daraufhin gab es zunächst ein graziöses Geplänkel von seiten Fräulein Schellenbachs, die es stets als Witz aufzufassen vorgab, wenn von einer Kundin die Worte »teuer« oder »billig« fielen. Dabei kam die Rede auf die graue Perle und ihr unbestreitbares Talent, aus alten Gewändern neue zu machen. Das Thema der Nachfolgerin wurde sachlich erörtert, und plötzlich, wie inspiriert, begann Fräulein Senta ein junges Mädchen anzupreisen, das schon in mancherlei Stellung gewesen, zuletzt bei einem Kürschnermeister – Firma Flecklmayer und Hasenbalg– und dort auch für Schepler gearbeitet habe. Aber die Luft, immer zwischen Pelzen und Fellen, sei nicht gut für die Brust, und o wie dankbar würde sie für ein gutes Platzerl sein wie bei der Gnädigen! Übrigens ein herziges Ding, halt ein arms Hascherl, aber anstellig zu allem. Frau von Rosendorp, die einem neuen Besuch im Marthaheim mit innerer Abwehr entgegensah und sich gern von den Ereignissen treiben ließ, wobei sie Gottes Finger nannte, was ihre eigene Trägheit war, erkannte in diesem 42 Zusammentreffen eine geheimnisvolle Fügung; sie schrieb einige Einzelheiten für die Kandidatin auf, und man schied mit herzlichen Grüßen.

Tags darauf erschien Käthchen, schmiegsam und etwas wehmütig, mit einem recht verschabten Katzenpelzchen angetan – Erinnerungen aus der Kürschnerzeit –, das mit ihrem aschblonden Haar silbrig verschmolz. Sie hatte ein allerliebstes gerades Näschen, schräggestellte Augenbrauen, die seitlich in die flaumigen Schläfen übergingen, ein kleines spitzes Kinn und große Achataugen, die sie, ohne zu zwinkern, weit offenhielt. Ja, sie sei ein Jahr bei Flecklmayer gewesen, dazwischen auch einmal sechs Wochen im Krankenhaus, denn die Frau habe ihr nebenher so viel harte Arbeit zugemutet, daß sie über der Arbeit immer eingeschlafen wäre. Ja, und das Massieren hätte sie auch gelernt, denn der Herr Hofrat habe gesagt, sie hätte ein angeborenes Talent dafür, ja, und anfangs sei es im Sanatorium sehr gut gegangen, aber dank den Machenschaften der Oberschwester (welche in Frau von Rosendorps Vorstellung sofort den stechenden Blick der Ibsenschen Diakonissin annahm) habe sie ihre Stellung verloren. Darauf produzierte sie ein enthusiastisches Zeugnis von Assistenzarzt Doktor Werner Ottokarl, der sich offenbar von der ränkevollen Oberschwester nicht hatte beeinflussen lassen. 43

»Die Grille sang
Den ganzen Sommer lang,
Im Winter war sie traurig und voll Sorgen . . .«

Ja, aber die Rolle der selbstgerechten Ameise lag Marianne fern wie der Nordpol, ach, und das armselige Katzenpelzchen hatte ihr einen Stich ins Herz gegeben. Denn es schien ihr das so besonders bitter für ein Wesen, das ein volles Jahr mit Zobelfellen und Silberfüchsen hantiert hatte. Jetzt kam noch eine schmale Hand in einem alten verschrumpelten Glacéhandschuh zum Vorschein und versuchte unbemerkt eine Träne wegzuwischen, hinterließ aber eine schwärzliche Spur. Dabei mußte Käthchen trotz alledem lachen, leise gurrend wie eine Wildtaube.

All dem war Frau von Rosendorp nicht gewachsen. »Erst mal auf Probe, Mariette,« sagte sie, gewissermaßen entschuldigend, während ihr am selben Abend die graue Perle die Haare bürstete. Aber ein wenig Herzbeklemmung hatte sie doch.

 


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