Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

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Dreizehntes Kapitel

Im Kurpark flattern die roten Blätter von den Bäumen und es weht ein Reisewind; der treibt die Wolken am Himmel zusammen und verhängt mit ihnen die Sonne, und abends ist es schon so empfindlich kühl, daß Mama Regenfeld das Schachbrett ihres Kleides mit einem großen Wollschal umhüllt und sich bald nach Eintritt der Dämmerung ins Musikzimmer zurückzieht.

Dort sitzt sie mit der kleinen, glückstrahlenden Maus und Professor Scheidemantel, dem frohen Bräutigam, am Kamin, in dem allabendlich schon ein kleines Feuerchen flackert und knistert, und bespricht voll Eifer und Sachkenntnis die tausend herzerfreuenden Dinge, die hinter einer bürgerlichen Verlobung einherziehen wie das strahlende Gefolge hinter einem Fürstenpaar.

Und neben ihr sitzt Frau Burmester und nimmt herzlichen Anteil an dem jungen Glück, sehr befriedigt, daß der legendäre Ruhm von Magdalenenbad als Verlobungsnest wieder fest begründet ist.

Natürlich muß sich Mama Regenfeld um alles sorgen, denn bei der kleinen Maus weiß man wirklich 240 nicht, was größer ist, ihre Verliebtheit oder ihre Unerfahrenheit, und Scheidemantel kommt als Professor und glücklicher Bräutigam für die Angelegenheiten des praktischen Lebens schon gar nicht in Betracht.

Zimmer und Küchenmöbel müssen angeschafft werden, die Wohnungsfrage löst eine lange Reihe von sorgenvollen Erwägungen aus, die Ausstattung bedarf noch sehr der Ergänzung – wer hätte auch ahnen können, daß der kleinen Maus schon im zarten Alter von achtzehn Jahren das Glück der Ehe beschieden sein würde?

Aber Mama Regenfeld, nun auf Jahre hinaus der frohen Betätigung aller ihrer mütterlichen und hausfraulichen Kräfte sicher, nimmt gern und freudig die vielen neuen Sorgen auf sich, und von ihren runden Wangen leuchtet die Befriedigung, das Töchterchen ihres Herzens so gut versorgt zu wissen, wie es in diesen unsicheren Zeiten überhaupt möglich ist.

Und diese Befriedigung hat so mächtig auf ihr ganzes Wesen eingewirkt, daß sie zum Erstaunen aller übrigen Kurgäste von ihrem quälenden rheumatischen Leiden mit einem Schlage vollkommen geheilt ist.

Niemand freut sich darüber so sehr wie Doktor Burmester, der diesen Erfolg in erster Linie der vortrefflichen Wirkung der Magdalenenquelle zuschreibt und daran geht, den interessanten Fall in der »Medizinischen Wochenschrift« in einem wissenschaftlichen 241 Aufsatz, mit vielen Tabellen und Temperaturkurven belegt, ausführlich zu beschreiben.

Und wenngleich Mama Regenfeld mitunter lächelt, wenn sie erkennt, wie wenig Professor Scheidemantel in den Dingen des wirtschaftlichen Lebens Bescheid weiß, so hat er doch auf der höheren Ebene der Betrachtung menschlicher Dinge die Erkenntnis gewonnen, daß ihm die kleine Maus als Lebensgefährtin unendlich viel besser taugt als ihre schöne, wilde Schwester; und so leid es ihm tut, daß sie auf dem Gebiet des Musikalischen weit hinter ihm zurückgeblieben ist, so hofft er dennoch, sie in dieser Hinsicht zu sich emporziehen zu können, und freut sich schon jetzt auf die schöne pädagogische Aufgabe – denn in allen Männern steckt ja der Schulmeister, auch wenn sie nicht als staatlich anerkannte Professoren tätig sind, und dieser Schulmeister sucht sich mit Vorliebe die Frauen seines Herzens als dankbare Objekte aus – wenigstens solange die Verlobungszeit dauert.

Und von Tag zu Tag fallen die rotbraunen Blätter dichter von den Kastanienbäumen, und immer schneller und unregelmäßiger geht der Pulsschlag des Hauses; überall herrscht schon Abreisefieber, und im Konversationszimmer werden eifrig die kommenden Herbstmoden, die neuen Theater- und Kinostücke, die in der Zeitung angekündigten Konzerte, Operetten, Revuen und all die anderen Überraschungen beredet, welche die 242 Großstadt für ihre aus den Sommerfrischen heimkehrenden Kinder bereit hält.

Aber auch die Ereignisse dieses Sommers huschen in flüchtigen Bildern durch das Gespräch, und schon hat sich jener glänzende Erinnerungsschleier um sie gelegt, mit dem die zeitliche Entfernung alles Geschehen verklärt; nur von Fräulein Aura und dem sittenlosen Maler wird niemals gesprochen, als bestünde eine geheime Verabredung, die Namen dieser beiden schwarzen Schäflein nicht zu nennen, die die Wohlanständigkeit des Burmesterschen Sanatoriums so wenig zu achten wußten.

Und Peter, der Kurhauskater, liegt in den Mittagsstunden noch immer vor der Eingangstüre und sammelt die merklich sinkende Sonnenwärme auf seinen Pelz; aber mit den nächtlichen Hochgebirgswanderungen ist's vorbei, weil das Dach ganz naß von Tau und nächtlichen Regenschauern ist und Peter nichts so sehr verabscheut wie die Nässe. Er sitzt des Abends in einem Winkel beim Kamin, putzt sich das Näschen, hört dem Gespräch der Damen Burmester und Regenfeld zu und blickt ernsthaft in die zuckenden Flämmchen. Und dabei zieht er die Bilanz des vergangenen Sommers – wer wagt es, in unserem Zeitalter höchst gesteigerter Naturbeobachtung zu bezweifeln, daß ein intelligenter Kater ebensogut Erinnerungen an sommerliche Erlebnisse haben kann wie irgendein Kurgast von Magdalenenbad? Wir wenigstens glauben ganz fest 243 daran und bedauern nur, daß die Natur den Katern keine Möglichkeit gab, sich mit Menschen sprachlich zu verständigen.

Auch die drei Nornen in Gelb, Braun und Steingrün sind zufrieden – sie haben ihre leibliche Erholung gehabt und wohltätige Aufmischung des Gemütes durch einen kleinen Skandal –, kann man mehr von einem Landaufenthalt verlangen? Und alle die interessanten Erinnerungen an den Magdalenenbader Sommer sind in ihre Handarbeiten hineingewebt und auf diese Weise dauernd festgehalten. Auf dem bunten Schal für die armen Heidenkinder fehlt nicht eine einzige Farbe des Sonnenspektrums, das Penelopeische Gewebe mit dem doppelten Mäander ist endlich doch fertig geworden und von den Taschentüchern mit den kunstvoll geschriebenen Anfangsbuchstaben ist das dritte Dutzend voll.

Durch genaue Wägungen auf der Personenwaage im Ordinationszimmer hat Doktor Burmester festgestellt, daß das Ehepaar Niemaier in der Zeit seines Aufenthaltes in Magdalenenbad um sieben Kilogramm zugenommen hat; davon fallen drei Kilo auf den Gatten und die restlichen vier auf seine bessere Hälfte, und wenn Herrn Niemaiers dickes, braunes Gesicht den allerdicksten und bräunsten Semmeln aus seiner Backstube gleicht, so sieht seine Gattin wie eine Schokoladentorte aus.

Die Fenster in Frau Elfriedes Zimmer stehen weit offen, und auf dem Fensterbrett sitzt klein Wolfgang, 244 so pausbäckig wie der rosigste der Amorettenlausbuben im Musikzimmer, und statt des Köchers hängt die grüne Botanisierbüchse an seiner Hüfte; Pfeil und Bogen führt er nicht, aber dafür ein Blasrohr, mit dem er unermüdlich auf die Spatzen in den Kastanienbäumen schießt, ohne einen einzigen zu treffen.

Im Hintergrund des Zimmers aber sitzt Onkel Rhode neben der Mutter auf dem Sofa, und sie halten sich bei den Händen und sprechen von Wolfgangs Zukunft – der Onkel meint, daß ein Ingenieur in ihm steckt, Mama will sein Talent zum Naturforscher entdeckt haben; das gibt den ganzen Vormittag ein eifriges Hin und Her von Meinungen, aber Wolfgang interessiert sich nicht im mindesten für seine Zukunft, er ist ganz Gegenwartsmensch, und in diesem Augenblick beschäftigt ihn die Frage, was für ein Geschoß sich für ein Blasrohr besser eignet, Bolzen oder Tonkugeln, viel mehr als seine ganze Laufbahn als Ingenieur oder Naturforscher; die einzige Zukunftssorge gilt der Schule, die leider ach so bald wieder beginnt, und in der er eine sehr unangenehme Unterbrechung seiner Ferien erblickt.

Aber droben in ihrem Mansardenstübchen hält die kleine Anni das Samtetui in der Hand, in dem die goldene Uhr mit den Brillanten liegt, eine köstliche Perle zwischen schimmernden Schalen. Und wie sie das gleißende Ding herausnimmt und an die kleinen Ohren hält, zum hundertstenmal vielleicht seit dem 245 Augenblick, da es der Ingenieur Rhode in ihre Hände legte, da hört sie durch das leise Ticktack schon das Fragen und Bewundern, das Flüstern und Tuscheln, das sie am Sonntag nach dem Hochamt umschwirren wird, wenn sie auf dem Domplatz die funkelnde Pracht ihren Freundinnen zeigt; und der Loisl – – was wird der Loisl dazu sagen? Ein Schatten gleitet über ihr Gesicht, ihre Brauen ziehen sich zusammen – – nun ist sie ja sein und muß mit ihm gehen, wohin er will; hat er sie nicht an sich gerissen und gebunden mit den Banden des Blutes? Und er ist stark und jung und wird das Leben zwingen, und eines Tages wird sie als Herrin in dem hübschen kleinen Anwesen sitzen, das er ihr bereitet hat, und des Mannes Gut betreuen und seine Kinder pflegen, wie es alle die vielen anderen Frauen tun, denen das Alltagsbrot der Ehe gebacken ist.

Aber in die stille Freude der kleinen Anni mengt sich heimliches Weh. Denn diese goldene Uhr mit den hellen Steinen, den zierlichen Zeigern, dem mattsilbernen Ziffernblatt – sie ist der erste und der letzte Gruß aus der fernen, glänzenden Welt, die ihr nun verloren ist für immer; und er, der sie einst bei der Hand nahm und in jene Welt führen wollte, er hat mit diesem Geschenk von ihr Abschied genommen, und sie gleitet nun zurück ins Dunkel . . . Da beginnen die Steine vor ihren Augen zu flimmern, der goldene Glanz zerfließt, zwei große, kostbare Brillanten, Edelsteine des Herzens, rollen aus den Augen des kleinen Dings, das zum 246 erstenmal in seinem Leben ahnt, wie sich Lust und Weh, Liebesglück und bitteres Entbehren tausendfach verketten, wie wir, nach einem grausamen Gesetz, alle Lebensfreude Auge um Auge, Zahn um Zahn mit unserem Herzblut zahlen müssen.

* * *

So lebe wohl, du kleine Bühne von Magdalenenbad, mit deinen welkenden Baumkulissen, deinen Dekorationen von rauschenden Nadelwäldern, dem duftblauen Landschaftshintergrund mit dem schroffen Felsgipfel und der in ferne Vergangenheiten hinausträumenden Ruine; mit den schwankenden Gestalten deiner Schauspieler, tragischen und komischen und solcher, die beides zugleich sind, die in einem kurzen Sommer und Herbst ein paar Szenen aus dem unendlich bunten, tausendaktigen Drama aufgeführt haben, das unser Leben bedeutet, und in dem sich Tragik und Ironie, Haß und Liebe, stilles Heldentum und selbstgefällige Eitelkeit so wundersam ineinander schlingen.

Das ist nun vorbei, und im nächsten Sommer werden andere Schauspieler andere Szenen auf der kleinen Bühne spielen – – Professor Scheidemantel hat kein Verlangen, an einen Ort zurückzukehren, der für ihn doch manche trübe Erinnerung birgt, und Mama Regenfeld und die kleine Maus sind ebenfalls seiner Meinung; auch die drei Nornen wollen den 247 Schauplatz ihrer Beobachtungstätigkeit anderswohin verlegen, und Herr von Döbrenday weilt übers Jahr mit der Favoritin seines Herzens, mag sie nun Erzci oder anders heißen, gewiß an einem gesellschaftsfähigeren Orte als in dem stillen Magdalenenbad. Und ob Heinrich Rhode und Frau Elfriede wieder hierherkommen werden, steht noch dahin – – wer kann heute auf ein Jahr hinaus Pläne schmieden, solch ein Jahr ist eine lange, lange Zeit, wenn es mit werktätiger Arbeit und Sorgen aller Art ausgefüllt ist.

Und mit den Letzten, die morgen oder übermorgen die breite weiße Straße hinab zur Bahnstation ziehen werden, verlassen auch wir das liebe kleine Nest und senden nur noch einen langen Abschiedsblick nach den schönen blaugrünen Douglastannen, nach der sprudelnden Quelle, nach dem ziervollen Balkon mit dem geschweiften Eisengitter, nach den gastfreundlichen Fenstern, von denen jetzt die stillen Gardinen lang und weiß herabhängen, wie der Vorhang im Theater, wenn das Stück zu Ende ist.

 


 


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