Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Am dunkelblauen, wolkenlosen Himmel hängt hart und silbern der Mond.

Hinter der Ruine Kronstein ist er aufgestiegen, eine riesige Scheibe aus rotglühendem Kupfer, mit zitternd verschwimmendem Rand; und je höher er stieg, desto lichter wurde seine Farbe, desto schärfer die Runzeln und Falten in dem Rundgesicht, und nun flutet sein Licht grellweiß über die Dächer, sammelt sich hier zu kleinen Seen, tropft dort in schimmernden Kaskaden von den Ästen der Bäume auf den blaugrünen Rasen hinab, leuchtet in alle Ecken und Winkel der Häuser und der Herzen und weckt zu heimlichem Leben, was sich bei Tage scheu verbirgt.

Auch Peter, den schwarzweiß gefleckten Kurhauskater, hat es aus seinem Schlummerwinkel gelockt und mit magischen Kräften auf den höchsten First gezogen, wo er nun im stolzen Gefühl seiner Männlichkeit sitzt und sich noch einmal sorgfältig die Pfoten leckt, bevor er seine abenteuerliche Gebirgswanderung über die Dächer antritt – – Peter, der Kurhauskater!

Haben wir ihn schon kennengelernt? Kein Wunder, 96 wenn er uns bis jetzt entgangen wäre; sein Auftreten ist leise und diskret, sein Stolz verbietet ihm aufdringlich zu werden, und dennoch besitzt er ein sehr ausgeprägtes Bewußtsein seiner Persönlichkeit. Er sitzt tagsüber mit graziös geringeltem Schwanz vor irgendeiner der weißlackierten Zimmertüren, und sein scheckiger Pelz macht auf dem dunkelroten Fußabstreifer einen wirkungsvollen Farbenklecks; wenn man ihn streichelt, so krümmt er den Buckel zum Halbkreis, streckt den Schweif senkrecht empor, und ein grüner, schielender Blick trifft das höhere Wesen, das sich mit ihm beschäftigt – – jener Blick, den die Menschen falsch und hinterlistig nennen und der doch nichts anderes sagt als: Gib mir zu essen, ich habe Hunger! Und Peter hat immer Hunger, weil er immer Kräfte zu ersetzen hat; er führt eine sehr aufreibende und durchaus nicht einwandfreie Lebensweise, woran die Tatsache, daß er sich bereits in gesetztem Alter befindet, nichts zu ändern vermag; er macht die Nacht zum Tage und treibt sich zwischen den bedenklichsten Abenteuern herum. Was wir Moral zu nennen pflegen, existiert für ihn nicht. Vergangene Woche hat er sogar seine Jungen aufgefressen, fünf wunderschöne kleine Katzenjungen, trotzdem die Kätzin sie täglich an einen anderen Ort verschleppt hat. Warum er das getan, ist für Menschenhirne einfach nicht faßbar. Vielleicht deshalb, um der geliebten Katzenfrau die Muttersorgen abzunehmen, so daß diese scheinbar so grausame und 97 verabscheuungswürdige Tat nur aus zarter Rücksicht geschah. Tatsache bleibt, daß er sie gefressen hat, eines nach dem andern, ebenso ernsthaft und sachlich, wie er jetzt unter Mondscheinbegleitung auf dem Dachfirst sein Lied anstimmt, mit dem er Steine erweichen und Menschen rasend machen kann; denn Peter betreibt alle seine Angelegenheiten viel ernsthafter und sachlicher, als Menschen dies gemeinhin zu tun pflegen.

* * *

Der Mond hebt sich höher.

Er läßt das heilkräftige Wasser der Magdalenenquelle wie flüssiges Silber aus der Gießhüblerflasche sprudeln, zeichnet die regungslosen zackigen Blätter der Jasminlaube scharf und tiefschwarz vom feinen Sand des Bodens ab; die großen Douglastannen sind wie mit Milch übergossen, finster und schweigend steht der ferne Wald, und die Nacht ist lau und schwer von unbestimmten Düften, als sei der Sommer noch einmal zurückgekehrt.

Regungslos liegt das rotblonde Fräulein Aura im Korbsessel; die schlanken Beine mit den weißen Schuhen lang ausgestreckt, die Arme nach rückwärts verschränkt, den Kopf mit den flatternden Haaren weit zurückgebogen, blickt sie mit glimmenden Augen in den Mond. Und sie trägt das grüne, mit Schwarz geputzte Kleid, das im fahlen Mondlicht noch 98 verführerischer wirkt als im Glanze der Burmesterschen Konversationszimmerlampen. Hinter ihr, umhüllt von Dunkel und Schweigen, Professor Scheidemantel. Auch er ist tadellos gekleidet, denn seit Herr von Döbrenday seine Budapester Schneidereleganz nach Magdalenenbad gebracht hat, bemüht sich Professor Scheidemantel noch mehr als sonst, in seinem Äußeren in keiner Weise an jene fragwürdigen Professorengestalten mit Gorillabart, Zugstiefletten und herabhängenden Unterhosenbändchen zu erinnern, denen die älteren Jahrgänge der Fliegenden Blätter so tief verschuldet sind.

Lange hat er zu ihr gesprochen, wie nur ein kluger und liebenswürdiger Professor der klassischen Philologie sprechen kann: vom Weibe als dem Fatum des Lebens, vom Schicksal, das sich die Alten nur als Weib denken konnten, von den drei Parzen, den symbolischen Gestalten der Jungfrauenschönheit, der Frauenreife, der Wollust des Todes. Und immer enger hat er die Gedankenkreise gezogen um den einen Punkt, von dem aus alle seine Sehnsucht zu stillen ist; nun muß sie ihn doch endlich verstehen! Wie – – oder hat er sich noch immer nicht klar genug ausgedrückt? Ach Gott, daß man ihnen mit der Logik so gar nicht beikommen kann, den Frauen – – und den reizvollsten am allerwenigsten!

»Armer Professor Scheidemantel«, denkt der Mond und lächelt ironisch mit seinem kalten 99 Messinggesicht, »du bist so klug und gelehrt, und wirst sicherlich noch einmal Oberstudienrat werden, und wenn du fleißig strebst vielleicht sogar Unterrichtsminister – – aber vom Leben, vom wirklichen Leben verstehst du gar nichts, und vor dem Schicksalsbuch ›Weib‹ stehst du mit allen deinen glänzenden Prüfungszeugnissen doch als Analphabet. Und einer deiner Unterprimaner könnte dich vielleicht belehren – –«

Professor Scheidemantel schweigt. Er ist seelisch und geistig erschöpft und kann nichts mehr sagen, so gründlich er sich auch auf seine Rede vorbereitet hat; und in dumpfer Sehnsucht hebt er die Augen zum Mond, als wollte er ihn bitten, das spröde Herz zu rühren mit seinem Lichtzauber – – aber ach, seine Augen sind kurzsichtig, getrübt von zu vielem Studium über der Lebensweisheit verschollener Geschlechter; er sieht nicht, daß der Mond, der heute am Himmel steht, nicht der stille, vertraute Freund romantischer Seelen ist, die alles durch den Tränenschleier der Gefühle sehen – – nein, das ist die harte, höhnische Luna der alten Völker des Orients, die Göttin der grausamen Liebe, Astarte, gierig nach Herzblut und Menschenopfern.

Und das Schweigen, das zwischen den beiden liegt wie ein dunkles wollenes Tuch, ist nicht jene süße Lautlosigkeit des Gefühls, die den Atem anhält, dem Herzschlag des geliebten Wesens zu lauschen – – 100

Und endlich spricht sie, und die Worte fallen in seine Seele, kalt und hart wie Steine.

»Ich habe Sie reden lassen, lieber Freund, und Sie haben so hübsch geredet, daß Ihnen viele andere Mädchen gewiß mit Vergnügen zugehört hätten; aber es wäre doch besser für Sie gewesen, wenn Sie den Reiz dieser Stunde nicht zerstört hätten mit Ihren Schicksalsgöttinnen und dem Fatum der alten Griechen und so . . . Denn Sie hätten wissen müssen, daß ich Ihnen nichts, gar nichts von dem sein kann, was Sie ersehnen, und Sie haben es auch gewußt; es ist nicht meine Schuld, wenn Ihnen meine Worte wehe tun . . .«

»Aura!« stöhnt es aus dem Dunkel der Laube und alle Bitterkeit verschmähter Liebe und sinnlosen Begehrens zittert in dem einen Wort.

»Sie sprechen vom Schicksal. Aber ich bin nicht Ihr Schicksal. Sie könnten eine Frau wie mich auf die Dauer gar nicht ertragen. Was Sie Ihr Schicksal nennen, das ist ein kleines, gefälliges und anschmiegsames Wesen, eine bequeme Frau, neben der Sie mit Ihrer Geistigkeit glänzen können, die Ihnen das Glück des Schlafrocks und der Pantoffeln fertig ins Haus liefert und zu Ihnen aufblickt als dem Herrlichsten von allen . . .«

Seine Hand erhebt sich wie in stummer Abwehr und sinkt wieder kraftlos zurück. 101

Ihre Stimme klingt weicher als vorhin:

»Ich will Sie natürlich nicht kränken, aber es muß doch einmal klar werden zwischen uns. Ich werde Ihnen immer ein guter Freund sein, obgleich ich glaube, daß Menschen Ihrer Art nicht zur Freundschaft taugen, am wenigsten zu einer Freundschaft zwischen Mann und Weib. Auch musizieren mag ich gern mit Ihnen, denn Sie sind äußerst musikalisch und singen gut, obgleich Sie gestern im »Wanderer« das »Ich komme vom Gebirge her« viel zu sentimental genommen haben. Gefühl an unrechter Stelle scheint überhaupt Ihr Fehler. Sagten Sie etwas?«

Nein. Professor Scheidemantel sagt nichts mehr. Er liegt reglos, starrt ins Leere, sieht sie nicht mehr an.

Sie hebt sich aus dem Korbstuhl:

»Ich gehe hinauf. Mir ist kalt. Gute Nacht!«

Ihr schlanker Körper dehnt sich, langsam, ohne umzublicken, schreitet sie auf dem leise knirschenden Sand dem Hause zu und läßt ihn allein, hilflos und beschämt; und in jeder ihrer trägen, aufreizenden Bewegungen ist die wollüstige Grausamkeit des Weibes, das seine Macht fühlt und in den Ekstasen der Leidenschaft unendlich besser Bescheid weiß als der Mann; vom tiefdunkelblauen Himmel lächelt höhnisch und böse das Mondgesicht . . . 102

* * *

Das große Schlafzimmer im ersten Stockwerk, das zum Appartement des Herrn von Döbrenday gehört, ist mit seinem graziösen schmiedeeisernen Balkon, seiner Stuckdecke und seinen Wandmalereien einer der schönsten Räume des Hauses und durchaus passend für einen so vornehmen Gast; aber der Mond hat noch ein Übriges getan und den Parkettfußboden unter den Fenstern mit breiten Silbertafeln belegt, deren eine bis zum Bette Herrn von Döbrendays reicht; als Fußteppich liegt dort ein angebliches Eisbärenfell, der holzgeschnitzte Kopf mit grellrot lackierter Zunge fletscht dem Mondgesicht grimmige Zähne entgegen und ein Paar gestickter Pantoffeln versinkt zur Hälfte in dem molligen Weiß wie in einem Schneehaufen.

Auf der Marmorplatte des Nachttischchens glänzt eine Kognakflasche, die halb leer, und ein Revolver, der nicht geladen ist; es sieht sehr kavaliermäßig aus, und durch die abgelehnte Türe dringt aus dem Vorraum, wo der Kammerdiener Lajos schläft, lautes Schnarchen.

Auch Herr von Döbrenday schläft; schwer geht sein Atem, er hat abends gut gespeist und einen kräftigen Schlaftrunk zu sich genommen; mag nun dieser die Ursache sein oder sind in dem stillen Kurleben von Magdalenenbad Erinnerungen an vergangene glanzvolle Zeiten aufgewacht – – genug, er träumt, und wie gewöhnlich träumt er von Frauen. Hinter der gerafften, dunkelroten Portière steckt die kleine 103 goldäugige Erzci das kokette Köpfchen hervor, kräftig greift die rosige Faust mit spitzen Fingerchen in die Falten des schweren Stoffes, ein leichter Schritt nach vorwärts und sie steht vor ihm, den entzückend modellierten Körper in ein durchsichtiges rosa Schleiergewand gehüllt – – und an ihrer linken Brust schimmert der Schmetterling in Brillanten, den er ihr zum Abschied geschenkt hat.

In der anderen Ecke des Zimmers aber, geisterhaft vom Mondlicht überflossen, steht Frau Elfriede im weißen Kleid, mit über der Brust gekreuzten Armen, und ein gotischer Spitzbogen aus vergoldetem Schnitzwerk steigt über ihrem Kopf empor; und sie lächelt, aber ganz anders als die kleine Erzci – – sie lächelt Herrn von Döbrenday an, wie die Madonna im Dom das Jesuskind anlächelt. Und er breitet die Arme aus und will die schöne weiße Madonna an sich ziehen, aber zwischen die beiden tritt die rosenrote kleine Erzci und legt den Finger an die Lippen. Horch, was ist das? Wahrhaftig, sie spielen einen Csardas! Ja, mein Gott, wo ist er denn? Das ist ja die Margareteninsel mit Geigen und Zimbalmusik und Schlagobers, und es klingt und rauscht aus den grauen Wellen der Donau zu ihm herauf in schwermütiger Melodie – – und am anderen Ufer liegt die wunderschöne, lichterfunkelnde, lebensprühende Stadt, die ewig unerschöpfliche Quelle aller süßen Freuden; und nun hebt die kleine Erzci die zierlichen Beine, lauter 104 erklingen Zimbal und Geigen, schneller und schneller wird der Rhythmus des Tanzes, und die hohe weiße Frauengestalt sinkt zusammen wie Schlagobers, das zu lange steht, und Herr von Döbrenday sieht nichts mehr als die Erzci, die in süßer Erschöpfung an ihm niedergleitet, hört nichts als die heiße Pußtamelodie, die ihm der Zigeunerprimas jetzt leise, ganz leise ins Ohr fiedelt; er will den Arm um die kleine Freundin legen, aber die Brillanten an ihrer Brust stechen so seltsam scharf in seine Augen – – da fährt er mit einem halblauten Schrei aus seinem Traum und starrt in den Mond, der gerade in sein Gesicht scheint, und merkt, daß er nicht die kleine Erzci, sondern die Kognakflasche um den Hals genommen hat; in halber Bewußtlosigkeit schenkt er sich zur Beruhigung seiner allzu wilden Lebensgeister ein Gläschen ein, wirft sich auf die andere Seite und schlummert weiter.

* * *

Rechts neben dem Schlafzimmer Herrn von Döbrendays, durch eine stets versperrte Doppeltüre von ihm getrennt, liegt ein kleiner, aber sehr bedeutsamer Raum, die Herzkammer des ganzen Kurhauses; denn hier schlummert das Ehepaar Burmester. Das heißt, nur der Doktor schlummert – – er ist abends, nach der Anstrengung des Berufes, immer recht müde, und heute schläft er besonders gut, denn er hat die 105 vorläufige Bilanz dieses Sommers gemacht und einen schönen Reingewinn seines dem Wohle der leidenden Menschheit gewidmeten Unternehmens herausgerechnet.

Frau Dora, mit Flanelljacke und Nachthäubchen, blinzelt aus halbgeschlossenen Augen in ein Bündel vorwitziger Mondstrahlen, das seinen Weg durch einen Schlitz zwischen den keusch und streng geschlossenen Vorhängen gefunden hat; der Mond, der alte Kuppler, hält gute Freundschaft mit Frau Burmester und hat ihr schon zu manchem schönen Verlobungserfolg verholfen, und wir hörten ja längst aus dem klassisch gebildeten Munde Professor Scheidemantels, daß Hymen, der kleine Ehegott, Genius dieses Ortes ist.

Allerdings ist der Mond ebensowenig verläßlich wie irgendein anderer Kuppler, denn die Wege des Herzens sind unberechenbar, und seit einiger Zeit haben sich auf Frau Doras Antlitz verschiedene Sorgenfalten gebildet. Der Gatte neben ihr kann ruhig schlafen; er hat seine Bilanz ins Trockene gebracht; aber sie ist mit dem Ergebnis dieses Sommers keineswegs zufrieden; trotz verheißungsvoller Anfänge ist es noch immer nicht zu der traditionellen Verlobung gekommen, mit der bislang jede Sommersaison in Magdalenenbad ihr fröhliches Ende gefunden hat.

Aber warum verhält sich auch das rotblonde Fräulein Aura so ablehnend gegen die immer wärmer werdenden Bemühungen Professor Scheidemantels um 106 ihre Gunst? Und warum will Frau Elfriede Trautmann nicht mit dem Ingenieur Ernst machen, der doch ein alter und bewährter Freund aus ihrer Mädchenzeit ist? Sie will ihrem Kind leben, sagt sie – – Unsinn. Das glaubt Frau Dora nicht. So sprechen alle jungen Witwen mit Kindern, damit sie länger Zeit gewinnen, bis endlich der Rechte kommt – – Sie ist sehr, sehr wählerisch, diese Frau Elfriede – – Warum paßt ihr der Ingenieur nicht? So ein feiner, stiller, vornehmer Mann! Ist er ihr vielleicht zu alt? Nun ja – – in ihren Jahren sehnt man sich nach einer letzten großen Passion – –

Aber wie – – vielleicht wäre eine andere Kombination möglich! Wenn es gelänge, Elfriede mit Herrn von Döbrenday zusammenzubringen! Frau Dora, mächtig ergriffen von der Kühnheit dieses Gedankens, richtet sich unwillkürlich im Bette auf. Wenn es in den großen Budapester Blättern unter den Personalnachrichten hieße: »Herr Istvan von Döbrenday, der bekannte ungarische Großgrundbesitzer, hat sich in Doktor Burmesters Sanatorium Magdalenenbad mit Frau Elfriede Trautmann verlobt – –«, wie prachtvoll müßte sich das ausnehmen, wie stiegen der Glanz und das Ansehen der Kuranstalt!

Und der Ingenieur Rhode – – nun, für den bliebe als Trost und Herzgespiel die kleine braune Anni. Man kann sie ein wenig mit Kleidern und Wäsche ausstatten – – die Eltern sind ja leider so 107 blutarm. Und der gute Ingenieur wird schon für sie sorgen. Sie wäre die erste nicht, die von Magdalenenbad aus in ein sonniges Zukunftsland gezogen – – und der Frau Dora klug und vorsichtig die Wege geebnet hätte – –

Ihre Phantasie arbeitet mächtig. Vielleicht steht doch noch etwas unerwartet Schönes und Glanzvolles am Endpunkt dieses Sommers! Aber das Glück will, daß man es würdig empfange. Ein ganz besonders schönes und eigenartiges Fest soll die Freuden der Saison beschließen. Eine romantische, bunte, recht phantastische Maskerade – – ein mittelalterliches Ritterfest. Das wäre etwas! Der Burghof von Kronstein würde sich als Schauplatz vorzüglich eignen. Professor Scheidemantel als Sänger mittelalterlicher Verse, von Fräulein Aura auf der Laute begleitet – – ein mächtig loderndes Feuer im Burghof – – Zigeunerlager, Kartoffelbraten; man könnte Gäste aus der Stadt dazu laden, der Wirt vom Weißen Ochsen müßte ein Faß Bier heraufbringen lassen und im Hof anzapfen. Und zum Schlusse natürlich gefühlvoller Heimweg nach Magdalenenbad, mit Lautenspiel, im Scheine bunter Lampions.

Frau Dora sah Szenen vor sich, so farbenfroh, stimmungsvoll und ausgelassen wie auf den Bildern der niederländischen Meister in ihres Gatten großer Kunstgeschichte.

Schon hat der Mond in kühler Gelassenheit ein 108 gutes Stück seiner vorgeschriebenen Himmelsreise erledigt und noch immer sitzt Frau Dorothea aufrecht in ihrem Bette und läßt Schicksalsfäden durch die Finger gleiten – eine liebenswürdige, wenn auch nicht mehr jugendliche Parze in Flanelljacke und Nachthäubchen, so ganz anders von Gestalt und Aussehen als Professor Scheidemantel in seinem Gespräch mit Aura die Schicksalsgöttinnen der Alten geschildert hat.

Aber wir wollen hoffen und wünschen, daß sie bald jene Ruhe finde, die die sorgenbeladene Hausfrau eines so gut geleiteten Sanatoriums verdient, wie es dasjenige Doktor Burmesters ist.

* * *

Das Zimmer zur Linken der Appartements des Herrn von Döbrenday bewohnt Frau Regenfeld mit ihrem Töchterchen Helene, weil Fräulein Aura, unter vergeblichem Protest Mamas, ein Stübchen im oberen Stockwerk für sich allein gemietet hat. Die Kraft des Mondlichtes ist hier durch weiße, breite Vorhänge mit einem höchst soliden Kränzleinmuster gebrochen, und es herrscht eine weiche, familientrauliche Dämmerung, die so recht zu den beiden Bewohnerinnen paßt.

Mama Regenfeld schläft fest und tief, mit ihrer breiten Vollbusigkeit das ganze Bett bis zu seinen Rändern erfüllend; sie atmet durch den halbgeöffneten Mund und zeigt große, plombierte Zähne; ihr 109 Promenadenkleid hängt nachlässig über der Stuhllehne – – die Damen von Magdalenenbad finden das Muster, große braune und weiße Quadrate, etwas stark aus der Mode, aber es war ein fester Stoff und eine billige Kaufgelegenheit, auf die sich das sparsame Hausfrauengemüt gestürzt hat wie der Raubvogel auf die Beute, und es berührt Frau Regenfeld nicht, daß sie beim Spaziergang mit ihren breiten Hüften wie ein auf zwei Beinen dahinwandelndes Schachbrett aussieht.

Schmal, bescheiden und schüchtern drückt sich das Bettlein der kleinen Maus an die Wand; da schläft sie den tugendhaften Schlaf eines braven, so recht nach dem Mutterherzen gearteten Haustöchterleins; der braune Kopf mit den roten Wangen liegt auf dem runden Arm, in ungefügen Falten zeichnet die Bettdecke die schlanken Mädchenglieder ab, und auf dem Tischchen daneben flimmert ein rötliches Lämpchen vor einem kleinen, in Silber getriebenen Madonnenbild; denn die Maus ist fromm und trägt die heilige Jungfrau, die ihr der Herr Katechet beim Austritt aus der Schule zur Behütung ihrer Mädchentugend geschenkt hat, in einem kleinen Lederetui stets bei sich.

Neben dem Bildchen steht eine kleine Vase, Veilchen neigen sich über den Rand, – – Herbstveilchen, von Professor Scheidemantel, dem stets Galanten, eigens für sie im Walde gepflückt.

Wie sorgsam hat sie vor dem Schlafengehen die 110 Kleider über den Stuhl bei ihrem Bettlein hingebreitet – – das blaue, kurze, weißgetupfte Röckchen, die langen braunen Strümpfe, das schimmernde Weißzeug – nicht jedes Mädchen hält so rein; ein Paar zierlicher brauner Halbschuhe steht in sittsamer Zurückgezogenheit zwischen den Stuhlbeinen.

Nichts Böses kann sich hier regen, es ist als breite ein Engel seine Schwingen durch die Kirchenstille dieses Zimmers, nur das heidnische Mondlicht, das durch die Vorhänge sickert, kämpft mit dem frommen Muttergotteslämpchen, und die kleine Flamme, nicht größer als ein Vogelherz, zittert wie in heimlicher Angst vor dem Verlöschen.

* * *

Nun hat der Mond den Höhepunkt seiner Bahn am nächtlichen Himmel erreicht.

Über der Jasminlaube liegt samtenes Dunkel, tiefschwarz und hoffnungslos wie Professor Scheidemantels Stimmung an jenem für ihn so traurigen Abend. Die Silbertafeln, mit denen der Mond den Fußboden in Herrn von Döbrendays Appartement belegt hat, sind zu schmalen Streifen zusammengeschrumpft, dafür fließt jetzt das kühle Licht breit und voll in das Zimmer des Ingenieurs Rhode, dessen Fenster weit offen stehen.

Es scheint, als ob der Mond sich hier besonders 111 behaglich fühle, so wohlwollend betrachtet er die in tiefem Schlaf hingestreckte Männergestalt, so frech und selbstverständlich legt er die schimmernden Pranken über das Buch, das offen auf dem Tische liegt; es stammt aus der Kurhausbibliothek und ist Goethes Westöstlicher Divan, und die aufgeschlagene Stelle lautet:

»Du beschämst wie Morgenröte
jener Gipfel ernste Wand,
und noch einmal fühlet Hatem
Frühlingshauch und Sonnenbrand.«

Der Mond verzieht sein dickes Gesicht zu spöttischem Lächeln. Ein merkwürdiger Ingenieur, der Goethe liest, kleinen Jungen Luftballons baut und Märchen erzählt – – Aber der Mond hat nun einmal eine Schwäche für solche wunderlichen Käuze. Er erinnert sich noch ganz genau an einen jungen Leipziger Studenten, dem er erst kürzlich – kaum hundertsiebzig Jahre nach Menschenrechnung – auf allerlei verschlungenen Liebeswegen still und verschwiegen geleuchtet hat; ein hübsches, schwarzäugiges Bürschlein war's, mit Schnallenschuhen, Zierdegen, weißseidenen Strümpfen und krausgelocktem Haar, aber nach dem übereinstimmenden Zeugnis aller ehrsamen Leipziger Bürgersleute ein hoffnungslos verbummelter Taugenichts, der mit leichtsinnigen Demoisellen die kostbare Zeit totschlug, der statt seinen 112 Corpus juris zu studieren, um nach Vaters Wunsch später als tüchtiger Advokat sein Brot zu verdienen, in unnützen Gedichten den Mond besang: »Füllest wieder Busch und Tal still mit Nebelglanz . . .«

Ja – der Mond ist ein alter Herr, der sehr viel erlebt hat, und kramt gerne in Erinnerungen.

Wie lange war das nun her – wohl sieben Jahre, und die Sieben ist eine heilige Zahl für den Mond und für die alten Völker, die ihn als Gott verehrten – – Es war eine Nacht wie heute, so glasklar und tiefblau; Laurentius stand im Kalender, und Sternschnuppen flogen kreuz und quer über den Himmel hin, ein überirdisches Feuerwerk dem Heiligen zu Ehren, dessen Seele einst in blauer Sternennacht nach bitterer Marter zur Himmelsglorie emporgeflogen ist. Wenn ein Stern vom Himmel fällt, steht den Erdenmenschen ein Wunsch frei, Sankt Laurentius bittet für sie am Throne des ewigen Vaters – –

Und damals hatte sich's gefügt, daß Frau Elfriede mit ihrem Freund auf der Terrasse des Herrenhauses stand, das sie mit ihrem Gatten bewohnte, eine junge, lebensfrohe, verwöhnte Frau, die alles haben konnte und sich vielleicht gerade deshalb nach dem Unerfüllbaren sehnte – – wer mag sich zurechtfinden im Wirrsal der Wünsche eines Frauenherzens? Hat dir die Ehe, nach der alle Frauen so heiß verlangen – – hat sie dir doch nicht das große Glück gebracht, das dir deine Mädchenträume vorzauberten, Frau Elfriede? 113 Warum füllen sich deine klaren Augen mit Tränen, warum drückst du so heiß die Hand des alten Freundes?

Siehe – – nun steigt aus schwarzen Tannenwipfeln der Mond auf. Und seine Lichtströme, die durch die Unermeßlichkeit des Weltalls fließen, durch unendliche schweigende Wälder, über die weiten Wüsten und Meeresflächen des Erdballs – – sie fließen auch über dein zitterndes Frauenherz, das ihnen entgegenschwillt gleich den Fluten des Ozeans, und ein Sehnen nach dem letzten, größten, rückhaltlosen Glück will dir die Brust zersprengen; und wie im Traume hörst du die leisen, bittenden, eindringlichen Worte des Mannes, der dich beschwört: Folge doch der Stimme in dir, wirf dein Leben hinter dich, sei mein, gib alles hin, um alles zu gewinnen – – aber du schauerst zusammen und wendest den Kopf, denn aus den Fenstern deines schönen, traulichen Zimmers fließt ein anderes Licht in die Nacht hinaus, goldig, warm und behaglich, und weißes Tischzeug schimmert da drinnen und silbernes Tafelgeschirr und Blumen in kleinen Kristallvasen und die ganze ruhige Sicherheit bürgerlichen Lebens. Und Herr Trautmann mit seinem schönen blonden Bart, jeder Zoll Gutsbesitzer und Ehemann, tritt fröhlichen Schrittes hinaus auf die Terrasse und bittet den Gast zum Abendessen; und es wird eine heitere Mahlzeit mit angenehmem Tischgeplauder – –

Und eine Stunde später steht Ingenieur Rhode mitten auf der breiten, mondbeglänzten Straße und 114 blickt nach dem gastlichen Hause zurück, als könne er seine Augen nicht lösen von dem goldigen Schein, der noch immer aus den kleinen Fenstern in die Einsamkeit der Mondnacht dringt.

Aber hinter den schwarzen Tannenwipfeln hebt sich aus dem Nebel, nur ihm allein sichtbar, eine hohe graue Frauengestalt. Und er weiß, das ist die Schicksalsfrau, sie, die zu uns allen kommt, zu dem einen früher, zu anderen später – – sie, die mit der Grausamkeit des Weibes die Hingabe und das Opfer der ganzen Persönlichkeit verlangt. Und was sie uns dafür gibt, ist ein Unbekanntes, verhüllt von den dunklen Schleiern der Zukunft.

Noch einmal wendet er sich um, und sein Blick umfaßt den goldigen Schein aus den hellen Fenstern und die zerfließende Nebelgestalt hinter den schwarzen Bäumen – – und an seinem Herzen reißt das tiefste Leid, das dem Menschen werden kann.

Aber dieses Leid trifft den Mann viel schwerer als die Frau. Die Frau kann weinen, kann ihren Schmerz pflegen und betreuen und mit traurigsüßen Erinnerungen füttern wie ein geliebtes Kind. Aber für Mannesleid ist nur ein Kraut gewachsen, und das heißt Mannestat . . .

Wirst du noch einmal kommen, du graue Schicksalsfrau? 115

* * *

Das Zimmer neben jenem des Ingenieurs Rhode hat das Ehepaar Niemaier in Besitz genommen.

Hier hat der Mond mit seinen Beleuchtungseffekten sehr gespart. Kaum daß er ein paar matte Silberstreifen an die eine Wand der Fensternische geworfen hat, wie ein verdrießlicher und schlecht bezahlter Zimmermaler. Man sieht: der Mond hat gar kein Verhältnis zu dem Ehepaar Niemaier, das seinerseits auch kein Verhältnis zu ihm hat; er weiß, es gibt unendlich viele Niemaiers auf der Welt und einer gleicht dem andern – – sie sind alle brave Steuerzahler, sie rauchen alle wochentags billige, Sonntags bessere Zigarren, bringen allem Bestehenden tiefe Verehrung entgegen, essen und trinken, schlafen und verdauen gut, machen zu zwölf ein Dutzend und kennen bei sich und bei anderen keine größere Sünde als die Originalität – – was soll sich da der Mond viel aus dem Ehepaar Niemaier machen?

* * *

Droben in der Mansardenregion, schon im Bereich der nächtlichen Hochgebirgswanderungen Peters, liegen noch ein paar Zimmer. Das größte gehört den drei Bürofräulein in Gelb, Braun und Steingrün, aber den Mond scheint es auch hier nicht zu interessieren, was drinnen vorgeht – – nur einen schiefen Blick sendet er durch die schmalen Fenster in die stille, 116 langweilige Altjungfernwelt mit ihren drei Feldblumensträußen auf der gehäkelten Tischdecke und den schauerlich schönen Öldruckbildern an der Wand »Ausbruch des Vesuv« und »Der Sonntagsjäger«. Da liegen sie in ihren weißen schmalen Betten, mager und lang hingestreckt wie drei Bleistifte, von der Bettdecke züchtig verhüllt bis an das spitze Kinn – – –

Aber warum ist im Zimmer nebenan trotz vorgerückter Nachtstunde noch Licht? Wahrhaftig – – da sitzt Fräulein Aura und schreibt, und es muß ein sehr wichtiger Brief sein, denn ihre rotblonden Haare umflattern gleich einer Waberlohe den Kopf, ihre Augen brennen so heiß, ihr Herz unter der dünnen Seide klopft so stark, wie es niemals in Professor Scheidemantels Nähe geklopft hat – – und der Mond lächelt wieder ein wenig, als wollte er sagen: ich weiß wohl, wem der Brief gilt, aber es geht mich im Grunde nichts an – – und wir wollen doch nicht weniger diskret sein als der Mond – –

* * *

Und ganz oben, wo die Hausgiebel spitz zulaufen und aus dem engen Raum nur ein kleinwinziges Stübchen mit schiefen Wänden herausgeschnitten ist, so klein, daß außer einem schmalen Eisenbettchen und einem Stuhl wirklich nichts mehr Platz hat, dort ist das Reich der hübschen braunen Anni. Auch sie schreibt 117 einen Brief, ebenso eifrig, wenn auch nicht so orthographisch wie das Fräulein Aura, und sie schreibt ihn beim Schein ihrer Küchenlampe, die sie heimlich heraufgebracht hat, weil die elektrische Leitung nicht so weit geht und nach der strengen Hausordnung auf dem Dachboden kein Licht gebrannt werden darf; an ihren Loisl schreibt sie, der eigentlich nicht mehr ihr Loisl ist, sie hätte sich alles sehr gut überlegt und er soll sich das nur aus dem Kopf schlagen sie zu heiraten, denn erstens heiratet sie überhaupt niemals nicht und dann nur einen gesetzten älteren Mann, bei dem sie gut gehalten wird und der dankbar ist für Liebe, denn die jungen Burschen aus dem Dorf sind doch alle miteinander nichts wert. Und außerdem wird sie in die große Stadt gehen und dort ihr Glück machen, und der Loisl soll sich eine andere suchen, es gibt so viele Mädeln, die hübscher und reicher sind als die Anni und sie läßt alle ihre Bekannten schön grüßen. Und dann steckt sie den Brief in die Hülle und leckt mit dem roten Zünglein über den Rand, drückt das Kuvert zusammen und liegt fünf Minuten später schon im tiefen, schweren, traumlosen Dienstmädchenschlaf.

* * *

Und endlich, endlich ist das letzte Lichtfünkchen erloschen und der Mond Alleinherrscher in Haus und Garten; und da taucht schon wieder auf dem höchsten 118 Dachfirst die schwarzweiß gefleckte Reckengestalt Peters, des Kurhauskaters auf. Zufrieden mit den Ergebnissen seiner nächtlichen Ausfahrt, setzt er sich nieder und leckt sich die Pfoten, und auf seinem Gesicht liegt ein Schimmer jener Raubtierwildheit, die allen Gliedern des Katzengeschlechtes eigen ist, das noch nicht wie das übrige zahme Hausvieh durch den Verkehr mit den Menschen stumpfsinnig wurde; in feierlichen, langgezogenen Tönen, deren Harmonie nur von dem musikalisch so ganz anders eingestellten menschlichen Ohr falsch gewertet und nicht verstanden wird, besingt er sein genossenes Liebesglück, und damit bringen auch wir dieses Kapitel endlich zu harmonischem Ausklang und Abschluß. 119

 


 << zurück weiter >>