Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

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Zweites Kapitel

Wie ein ungeheurer ausgehöhlter Backenzahn hockt der Wartturm der Ruine Kronstein auf schroff zu Tal stürzender Felsenklippe.

Ein Klingsteinbrocken ist's, von den vulkanischen Gewalten der Vorzeit aus der Tiefe gehoben – – denselben Gewalten, denen die kleine Magdalenenquelle ihr Dasein verdankt.

In die zerfressenen Mauern des Turmes ist eine kleine Aussichtswarte eingebaut. Dort stehen zwei Menschen im Licht des späten Nachmittags und lassen Blicke und Gedanken über die sonnengebadete Landschaft fliegen.

Das sind Ingenieur Heinrich Rhode und seine alte Freundin Frau Elfriede Trautmann, die der Zufall nach jahrelanger Trennung hier zusammengewürfelt hat.

Er ist ein Herbstmensch.

Sicher und beherrscht in jeder Bewegung der kurzen, stämmigen Gestalt; und doch liegt über dem braunen Gesicht mit den klugen Augen, in das die Zeit ein 17 Spinnennetz von feinen Fältchen gezeichnet hat, etwas wie Weltscheu und verträumte Einsamkeitssehnsucht.

Auch die Frau neben ihm steht in jenem Lebensalter, wo die naive Hingebung unbefangener Jugend längst von klarem Wissen um die eigene Persönlichkeit abgelöst ist; wo sich jener Übergang vom Weib zum Menschen vollzieht, den so viele nicht finden können, die ihre besten und reifsten Frauenjahre mit der Lächerlichkeit erlogener Jugend beladen.

Aber der sehnige, sportgeübte Körper scheint in seiner biegsamen Schlankheit beinahe mädchenhaft; die schmalen Füße sind fein gefesselt, das Gesicht mit dem ruhigen, gesammelten Ausdruck wie aus Holz geschnitten; da ist nichts Weiches und Süßes, und der, dem sie sich zu eigen gab, hat wohl niemals eine bequeme Geliebte in ihr gefunden.

Ein Leuchten ist in der Luft, als sei sie erfüllt mit unendlich fein verteiltem Goldstaub, und in Waldestiefen blühen die Veilchen zum zweitenmal.

Nachdenklich betrachtet Heinrich Rhode die Stadt seiner Kindheit. Seine Blicke verfangen sich in dem bunten Häusergewirr, suchen Ruhe auf den grünen Rasenflächen des kleinen Stadtparks, klettern den gotischen Steinzierat der Domkirche auf und ab, bleiben endlich an dem großen gelbgestrichenen Kasten hängen, der Gymnasium heißt und ihn vor mehr als einem Menschenalter als jungen Abiturienten in die Welt entlassen hat. 18

Philosophie hat er studieren, aus dem duftigen, regenbogenfarbenschimmernden Schaum eigener und fremder Gedanken ein Weltbild bauen wollen . . . doch der rauhe Wind der Erwerbsnot zerriß die bunten Seifenblasen, und der stud. phil. Heinrich Rhode mußte auf die Technische Hochschule und später in die große Fabrik, wo man einen handfesten, praktischen Maschineningenieur brauchte und bezahlte.

Aber es ist etwas Eigenes um die Träume unserer Jugend. Du kannst sie einschläfern und niederdrücken und ihnen Fesseln anlegen im Zwang des Alltags – – aber töten kannst du sie nicht. Und in erinnerungstrunkenen Nächten kommen sie und setzen sich an dein Bett und schlagen mit den großen bunten Schwingen.

Auch der Blick der Frau geht hinaus in die Fernen des Ortes und der Zeit.

Streichelt die Wellenzüge des Waldgebirges, auf denen es liegt wie rötlichgelber Schaum als erste leise Mahnung des Herbstes. Haftet an einem leuchtend grünen Fleck zwischen schwarzen Tannenwäldern, wo ein schlankes Kirchtürmchen aufsteigt wie ein gespitzter Bleistift. Neben ihm schwimmt und zittert im Flimmerdunst der Ferne ein weißer Punkt – – das Herrenhaus des kleinen Landgutes, das ihre Kindheit beschirmt hat. In dem Garten des Todes, dem Kirchturm zu Füßen, unter einem Obelisken von schwarzem Marmor, ruht ihr Vater von einem krausen und verfehlten Leben aus. »Kinderland«, flüstert sie vor sich 19 hin, und die scharfen Züge des Gesichtes werden milder . . . An den verwachsenen Park denkt sie, an die Nixe mit den schreckhaft großen Augen und den abgebrochenen Armen, die in dem leeren Brunnenbassin steht; an das Türmchen in der grünen Wildnis von Klettenblättern und Brennesseln, mit seinen kleinen eirunden Fensteraugen und der kreischenden Wetterfahne – – ein Hahn ohne Kopf . . . An sonnenfrohe Morgenspaziergänge zwischen goldgelben Ährenfeldern, empor auf selig einsame Höhen mit köstlichem Fernblick. An Mondscheinabende im dämmerkühlen Garten, an ernste Gespräche mit einem, der ihr einmal gestanden hat, daß sie ihm teuer ist . . . und der ihrer lachenden Jugend doch nur ein älterer Freund war, vor dem sie etwas wie Ehrfurcht empfunden hat und heimliche Scheu, aber nie das besinnungslose Glück der Leidenschaft . . .

Und dennoch: kann je ein Weib denjenigen vergessen, der ihr zum erstenmal von Liebe sprach?

Da steht er neben ihr, ruhig, selbstsicher, blickt den Schwalben nach, die mit scharfem Schrei die alten Mauern umschwirren. Und der Mund, der damals jenes Wort gesprochen, ist fest geschlossen – – dieser Mund, der soviel sagen und noch mehr verschweigen kann.

Ob sie wohl den Mut zu der Frage finden wird, die ihr seit Wochen auf den Lippen schwebt: war es wirklich bloßer Zufall, der ihn hierher geführt? Denn 20 heute – – heute fühlt sie mit leisem Erschrecken, daß ihr im innersten Winkel des Herzens vor seiner Antwort bange ist.

Vom Fuß des Turmes, wo ein weißes Tüchlein flattert wie eine Fahne kindlicher Lebensfreude, dringt helles, scharfes Jauchzen an das Ohr der beiden, knabenhaft, augenblicksfroh, alle Schleier des Vergangenen zerreißend.

»Wolfgang!«

Sie beugen sich über das Eisengeländer, sehen hinab in die schwindelerregende Tiefe auf das lachende, strohblonde, zappelnde Stückchen Jugend. Und wundern sich ein wenig, warum der Bub, der doch sonst das lebendige Quecksilber ist, diesmal nicht mit ihnen auf die Plattform hinaufgehen wollte.

Aber Wolfgang ist müde, und das ist durchaus kein Wunder. Erwachsene haben keine klare Vorstellung davon, was solch eine zehnjährige Tatkraft im Laufe eines langen Tages leisten kann. Wolfgang hat heute seine Zeit ausgenützt. Er hat den ganzen Morgen, während Mutter im Lesezimmer saß, physikalischen Studien gewidmet: mit einem Leseglas, das vor einiger Zeit auf geheimnisvolle Weise aus Doktor Burmesters Kanzlei verschwunden war, das Bild des Fensters auf ein Stück Papier geworfen, sodann ein paar Fliegen mikroskopisch untersucht und endlich, weil die Sonne so kräftig schien, die Linse als Brennglas benützt und damit ein paar tüchtige Löcher in den 21 Bettvorleger gebrannt – – hat sodann, etwas erschreckt von der unheimlichen Wirkung, die glimmenden und rauchenden Stellen solange mit den Händen bearbeitet, bis die Glut erlosch und nur die Löcher übrigblieben, wobei er sich die Finger verbrannte, und es zum Schlusse vorteilhaft gefunden, ein böses Gewissen und zwei schmerzende Hände aus dem mütterlichen Machtbereich zu entfernen.

Er schlendert die Treppe hinab, langsam, mit gespielter Gleichgültigkeit.

Vor der Eingangstüre ins Sanatorium liegt Peter, der schwarzweiß gefleckte Kurhauskater, und läßt sich die Sonne auf den Pelz brennen. Der Naturforschertrieb, der in jeder Bubenseele schlummert, verführt zu weiteren Experimenten. Wolfgang unternimmt es, dem Peter kräftig das Fell zu streichen, weil er gehört hat, daß ein so behandelter Kater elektrische Funken sprüht. Aber Peter sprüht keine Funken, sondern legt die Ohren zurück und faucht, und als das nichts nützt, macht er mit einem kräftigen Tatzenhieb allen weiteren Versuchen ein unerwartetes Ende und rettet sich auf den nächsten Baum.

Das frische Wasser des Baches, der sich hinter der Kegelbahn durch den Park schlängelt, kühlt Brand- und Kratzwunden – – aber die Abenteuerlust lockt unwiderstehlich nach dem unentdeckten Dschungelgebiet im tiefen Schatten von Erlen und Weidengebüschen, wo es allerlei Wassergetier gibt. Schade, daß man 22 ohne Angelgerät keine Fische fangen kann! Aber Wolfgang hat wenigstens ein paar kleine schwarze Krebse erbeutet und im Triumph in der Küche abgeliefert, unter mißbilligendem Kopfschütteln der Köchin.

Der Nachmittag gehörte der Beobachtung von Libellen und Wasserspinnen und einer Reihe vergeblicher Versuche, mit dem Schmetterlingsnetz einen Trauermantel zu fangen; und nun liegt der kleine Pfadfinder auf dem Rücken und blinzelt zur Höhe des Turmes, wo Onkel Rhode neben der Mutter steht und herunterwinkt, und dabei fällt ihm ein, daß der Onkel ihm gestern eine Geschichte versprochen hat.

Langsam steigen die beiden die steilen Holzleitern hinab, eine nach der andern, und Wolfgang schließt die Hände zur Faust, obwohl es ziemlich weh tut, denn Mutter darf doch die Brandwunden nicht sehen.

Der schroffe Klingsteinfelsen mit seiner Ruinenkrone glüht im Sonnenuntergangslicht. Von der breitästigen Buche, unter der die drei sich jetzt lagern, flattern braungrüne Blätter, – Schmetterlinge des Herbstes, – schaukeln hin und her, legen sich auf den Boden wie zu langem Schlaf. Seltsam mengt sich der scharfe Duft sterbenden Laubes mit dem Rauch eines Hirtenfeuers, der von einem nahen Feld herüberzieht, wo Bauernbuben Kartoffeln braten. Und die Silberfäden des Altweibersommers glitzern in der Luft.

»Onkel Rhode, wann erzählst du mir die Geschichte von der Sibylle?« 23

»Laß doch den armen Onkel in Ruh«, sagt Frau Elfriede. Ihre schmalen braunen Hände nesteln an Wolfgangs Rucksack und bringen Butterbrote, Keks, rotbackige Äpfel, eine Flasche Milch und einige von den vorzüglichen Mohnkipfeln ans Licht, die auf der ganzen Welt nur Frau Doktor Burmester zu backen versteht.

Man ergibt sich schweigendem Genuß, wobei Wolfgang bemüht ist, möglichst ohne Hilfe der Hände zu essen.

Es schmeckt ihm sehr gut, aber die Eintreibung seiner Schuld vergißt er darum doch nicht.

»Sag, Onkel Rhode, wer ist denn eigentlich die Sibylle?« fragt er und schluckt an einem großen Bissen.

Über das Gesicht des Mannes geht ein Lächeln – – ein ferner Glanz aus der Kinderzeit, aus den Tagen der Märchenlust und des Wunderglaubens, und schlägt eine feine, schimmernde Brücke zu der Seele des Kindes, das an seiner Seite sitzt und ihn erwartungsvoll anblickt.

»Die Geschichte von der Sibylle?« sagt er langsam, nachdenklich. »Nun ja. Wie ich so alt war wie du, hab ich sie auch zum erstenmal gehört – – da unten in der Stadt, wo ich in die Schule ging. Also paß auf. Die Sibylle war eine von den Schicksalsfrauen, wie sie in alten Zeiten durch die Länder zogen und den Menschen Segen brachten oder Unheil. Und 24 da kam sie einst zum stolzen Tarquinius, dem König von Rom, und bot ihm neun kostbare Bücher, in denen alle Weisheit der Welt enthalten war, und forderte dafür alles, was an Gold und Edelsteinen in seiner Schatzkammer lag. Aber dem König war das zuviel und er schickte sie fort. Da ging sie in den Hof des Palastes und verbrannte drei von den Büchern und verlangte für die sechs übrigen dasselbe wie früher für die neun . . .«

»Wie? Denselben Preis?« fragt Wolfgang empört.

»Ja. Und wieder wies sie der König hinaus und wieder verbrannte sie drei Bücher und kam mit den drei letzten zurück. ›Willst du sie kaufen, König? Ich frage zum letztenmal.‹ ›Um welchen Preis?‹ ›Um denselben, den du für die nenn Bücher nicht zahlen wolltest.‹ Da wurde der König nachdenklich und gab der Sibylle alle seine Schätze – – und unter Blitz und Donner sank sie in die Erde und der König erkannte mit Schaudern, daß er mit einer der Überirdischen gesprochen.«

Wolfgang versinkt in Nachdenken. Etwas an der Erzählung ist ihm nicht recht, aber er weiß nicht was.

»Sag, Onkel Rhode: und ist das eine wahre Geschichte?«

»Ob es eine wahre Geschichte ist? Ja und nein. Wahrheit ist nur im Gleichnis, mein Kind.«

»Aber es gibt doch keine Schicksalsfrauen!« 25

»Doch. Es gibt Frauen, die ein Schicksal bedeuten«, sagt Onkel Rhode ganz leise.

Der Bub schüttelt den Kopf.

»Wenn ich der König bin, so zwinge ich die Hexe, daß sie mir alle neun Bücher geben muß. Und dann jage ich sie fort.«

Frau Elfriede lächelt über den Eifer ihres Kindes. Aber es ist ein verträumtes, abwesendes Lächeln, und ihr Blick geht dabei in jene unbestimmte Ferne, wohin alle Frauenaugen sehen, wenn das Köpfchen einmal ernstlich nachdenkt.

»Die Hexe ist stärker als du«, erwidert Onkel Rhode, »denn sie ist das Schicksal.«

Langsam wendet die schöne Frau den Kopf zu ihm hinüber – – er aber blickt starr geradeaus, als scheue er das Licht dieser großen, grünlichen Augen, in denen heimliches Fragen glimmt und jene leise Ironie, die ihn immer etwas befangen macht – – und vielleicht sogar ein wenig Mitleid . . .

Am Fuß des Wartturmes lagert schon die Abenddämmerung mit ihren kalten Farben, braun und bläulichgrau – – droben am Himmel aber flammt und loht der Feuerzauber des Sonnenuntergangs, eine wunderbare Farbensinfonie mit der Sonne als Orgelpunkt, umspielt von der bunten Melodik vielgestaltiger Wolken. Wie schwarze Notenköpfe schießen die Turmschwalben hin und her durch die leuchtende Luft.

Wolfgang ist aus dem Traumland des Märchens 26 wieder in den Bezirk seiner scharfbegrenzten Bubengedanken zurückgekehrt. Er deutet nach dem Turm:

»Schau, Onkel Rhode, sie sammeln sich schon zur Reise. In ein paar Tagen werden sie fortziehen.«

»Ja, und eine von ihnen wird das Däumelinchen auf dem Rücken tragen, weit fort, nach dem Süden. Möchtest du mit, Wolfgang?«

Aber Wolfgang ist ganz in der Wirklichkeit.

»Fliegen, ach ja – – das muß hübsch sein. Aber wenn ich schon nicht selber fliegen kann – – einen Luftballon hätt' ich gerne. Aber weißt du, nicht so einen von rotem Gummi mit einer dummen Schnur, wie man sie den kleinen Mädchen schenkt. Einen großen, richtigen Luftballon, der recht hoch fliegt. Sag, Onkel Rhode, kannst du mir einen machen? Du kannst doch alles!«

Und wieder einmal triumphiert die große, unbewußte Macht des Kindes über ein altes Menschenherz – – der Mann mit den ergrauenden Schläfen und der hohen Stirn, zerfurcht von den scharfen Gedanken eines schweren Berufes, ergreift die kühlen, biegsamen Kinderfinger, die sich ihm bittend entgegenstrecken, und sinnt ernsthaft über das Problem nach.

Und es ist gut für ihn, daß die Brüder Montgolfier es in ihrer Weise vor weit über hundert Jahren im wesentlichen schon gelöst haben.

In selig wilder Knabenzeit hat er ja oft solch ein Ding in die Luft steigen lassen – – aus bunten 27 Streifen dünnen Seidenpapiers zusammengesetzt, unten mit einem Ring aus Pappe, an dem ein Stück Watte hing, mit Spiritus getränkt und entzündet.

»Wir wollen zusammen einmal einen bauen. Aber du mußt noch ein wenig Geduld haben, gelt?«

»Ja, o ja!« Wolfgang strahlt über das ganze Gesicht.

Es gehört so wenig dazu, ein Kind glücklich zu machen!

Der Abendwind springt auf, greift den Bäumen in die Kronen, wirft goldgelbe Blätter auf den Weg. Von den Wiesen heben sich duftigzarte Nebelschleier. Droben an einem apfelgrünen Himmel hängt ein Mond aus gehämmertem Messing.

Sie schreiten langsam dem Kurhaus zu. Wie sie da nebeneinander hingehen, das Kind zwischen sich, in ruhigem, von kleinen Pausen unterbrochenem Gespräch über Belanglosigkeiten, möchte man sie für ein zufriedenes Ehepaar halten, ohne Sorgen, ohne Wunsch und Sehnsucht, abgeschliffen vom Gleichmaß der Jahre und aufeinander gestimmt durch die Gemeinsamkeiten des Lebens.

Und dazwischen klingt das frohe Plaudern Wolfgangs, der immerzu von seinem Luftballon phantasiert, jenes Kindergezwitscher, das alle Befangenheit und allen Zwang aus der Gesellschaft Erwachsener fortnehmen – – oder ihn bis zur Unerträglichkeit steigern kann. 28

Die letzte Biegung des Weges gibt den Blick auf das Kurhaus frei. Im Abendwind weht die grüne Fahne der Gesundheit, die kleine Girlande von Glühlampen leuchtet bunt und verheißungsvoll über der Eingangspforte, blauer Rauch kräuselt aus dem Schlot, und drinnen tönen schon die drei Gongschläge, die zur Abendmahlzeit rufen, milde und gedämpft wie Avegeläute für hungrige Seelen.

Es ist alles wie sonst. Doch nein – – an der kleinen Auffahrtsrampe steht ein Auto. Ein schöner, bequemer, gelb und braun lackierter Wagen neuester Bauart. Vom Kühler flattert ein rotweißgrünes Fähnlein.

In Elfriedes Augen schimmert frauliche Neugier. Seit Menschengedenken ist noch nie jemand in einem so eleganten Auto in Doktor Burmesters Sanatorium gekommen.

»Ein Schwerkranker?«

»Ach du lieber Gott – – für Schwerkranke sind wir hier nicht eingerichtet.«

Fieberhafte Spannung im ganzen Hause. Die Hausmädchen mit ihren schwarzweißen Häubchen schießen umher wie aufgescheuchte Schwalben. Sogar Peter, der Kurhauskater, in Erwartung nächtlicher Abenteuer neben der Eingangspforte sitzend, macht die Augen noch größer und trägt den Schweif noch zierlicher emporgeringelt als sonst.

Ein neuer Gast – – zu so vorgerückter Saison 29 – – und aus Ungarn kommt er, wie Frau Dorothea soeben einer atemlos lauschenden Gruppe berichtet; wie er heißt hat sie in der Aufregung vergessen, aber der Name ist auch so furchtbar schwer auszusprechen, man bricht sich die Zunge dabei. Und der Chauffeur, der im Küchenstübchen sitzt und ein Glas Wein trinkt, heißt Lajos – – das bedeutet auf deutsch Ludwig, und er trägt einen verschnürten, pelzverbrämten Rock mit echten Silberknöpfen und redet so schlecht deutsch, daß die Küchenmädchen ihren hellen Spaß mit ihm haben.

Zum zweitenmal ertönt der Gong, und im Speisesaal beginnen die vollen Schüsseln ihren Rundgang, lange, goldgeränderte Schüsseln von beruhigender Breite und Tiefe, und Frau Dorothea, hoch aufgerichtet neben der großen Kredenz, überwacht die Tätigkeit der beiden Serviermädchen mit Feldherrnblicken.

Gewaltiger Appetit herrscht in dem hell erleuchteten Raum mit seinen weißen duftigen Vorhängen, den bunten Astern und Dahlien, die sich so hübsch abheben von dem schimmernden Tischtuch – – gewaltiger Appetit, aber noch größere Neugier.

Denn der Platz an dem schmalen Tisch zwischen den Fenstern der Längswand, dem goldgerahmten Spiegel gegenüber, wo die Neuangekommenen dem Volk gezeigt werden, ist noch leer.

Doch jetzt – – ein leises Klingen von der Glastüre her – – im ganzen Saal einen Atemzug lang lautlose Stille – – er kommt! 30

Ein Bienenschwarm erwartungsvoller Blicke fliegt ihm entgegen. In ungezwungener, fast nachlässiger Haltung ist er eingetreten, etwas klein von Gestalt, doch gut gebaut – – kräftige Backenknochen, leicht bräunliche Gesichtsfarbe, so daß das Weiße im Auge lebhaft absticht, fast wie bei den Zigeunern – – und eine Narbe zieht sich vom rechten Ohr quer über die Schläfe hin. Stammt sie von einem Zweikampf oder einem Sturz beim Wettrennen oder sonst einem Kavalierserlebnis? Jedenfalls bietet sie Anlaß zu den interessantesten Mutmaßungen. Und wie tadellos sein Anzug ist – – alles sitzt wie angegossen, ein buntes Seidentüchlein zipfelt aus der Brustseite, im Knopfloch leuchtet eine weiße Aster.

Frau Doktor Burmester geht ihm drei Schritte entgegen, mit gerötetem Gesicht, doch in guter Haltung, um ihn mit ein paar verbindlichen Worten zu seinem Platz zu geleiten. Er verbeugt sich stumm – –.

Und dann gleitet er zwischen den Tischen hin, überall ein Kielwasser von verhaltener Neugier zurücklassend, streift hart an Frau Elfriede vorüber, ohne sie zu bemerken, weil ihn die gemessene Freundlichkeit Frau Doktor Burmesters schon in ein kleines Gespräch eingewickelt hat.

Einen scharfen prüfenden Blick wirft Heinrich Rhode auf das Gesicht des Fremden. Adonis von Friseurs Gnaden, denkt er, Held des Modejournals und aller seiner schönen Leserinnen – –. Doch was ist 31 das? Warum färben sich Elfriedes Wangen plötzlich dunkler, warum stockt sie mitten im Gespräch, um gleich darauf so hastig fortzufahren?

Leise, ganz leise schüttelt Rhode den ergrauenden Kopf. Und fühlt einen feinen Stich im Herzen.

Der Fremde sitzt. Aufatmen im Saal. Und die Abendmahlzeit geht weiter.

Die drei Bürofräulein in Braun, Safrangelb und Steingrün an ihrem schmalen Katzentisch, in geschützter Beobachtungsecke, gucken beständig nach dem Spiegel, der die Rückansicht des vornehmen Gastes zeigt, und tauschen flüsternd Beobachtungen aus. Sie sehen einen gut geformten Kopf, braunes Haar mit Lebemannsscheitel, einen kräftigen Nacken, breite Schultern. Die übrigen Damen im Saal sehen mehr. Und aller Augen sprechen das Urteil: ein hübscher Mann. Noch mehr: eine Persönlichkeit.

Doktor Burmester, harmonischer Dreiklang von ärztlicher Würde, Verbindlichkeit, Wohlwollen, beherrscht mit seinen Blicken den ganzen Raum. Er speist immer gemeinsam mit seinen Gästen und führt täglich an einem anderen Tische den Vorsitz. Heute sitzt er bei Professor Scheidemantel und seinen Damen, Frau Regenfeld, der rotblonden Aura und der kleinen Maus.

Die dicken Brillengläser glitzern so fröhlich wie nie, und von den braunen Wangen leuchtet die Freude des 32 Jägers, der ein seltenes Hochwild zur Strecke gebracht hat.

Man redet geflissentlich von ganz gleichgültigen Dingen und schielt von Zeit zu Zeit nach dem Platz unter dem Spiegel, von dem es herüberweht wie ein Hauch von seltsamen Abenteuern und wilder Pußtaromantik.

»Es lebe die edle Weiblichkeit!« sagt Professor Scheidemantel. 33

 


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