Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

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Zehntes Kapitel

In Wolfgangs Ferienparadies war die Schlange der Enttäuschung gekrochen.

So hübsch hatte dieser Sommer begonnen: mit Onkel Rhodes Geschichten, mit Entdeckungsreisen in die Dschungelwildnisse hinter dem Kurhauspark, mit seligen Träumen von einem richtigen Luftballon, die durch die tatkräftige Hilfe Onkel Rhodes zur bunten, feierlich emporsteigenden Wirklichkeit geworden waren.

Und jetzt, gerade jetzt, da die goldene Ferienzeit mit Riesenschritten ihrem Ende entgegenging und jeder Tag kostbar war, schien es just, als wolle ihm ein boshafter Kobold alle seine harmlosen Freuden vergiften.

Natürlich war in erster Linie dieser Herr von Döbrenday schuld, der nach Wolfgangs tiefster Überzeugung an keinem Orte der Welt so überflüssig war wie gerade hier. Warum machte er sich beständig an Mama heran? War es wirklich so wichtig, was er ihr zu sagen hatte, und mußte er sich dabei in einemfort die Hände in der Luft waschen und seine weißen Zähne fletschen wie Peter, wenn man ihn beim Fressen störte? Und warum mußte er, Wolfgang, immer 186 in der Nähe bleiben, wenn Herr von Döbrenday mit Mama redete, und sittsam auf einem Stuhl hocken und in einem langweiligen Buch lesen, während der Sonnenschein in die Ferne lockte, die stachligen Kastanienschalen platzten und runde, braune, glänzende Früchte auf das Dach des Kurhauses herunterpolterten?

Und dann kam Mama zu ihm und küßte ihn ab – – aber es war ihm ganz und gar nicht um zärtliche Mutterküsse zu tun, und er hätte sich lieber mehr Auslauf gewünscht. Fürchtete sich Mama am Ende vor diesem Herrn von Döbrenday, weil er so ein gelbes Gesicht hatte und so funkelnde Augen, und wollte Wolfgang zum Schutz bei sich haben? Merkwürdig, wie feige die Erwachsenen sind!

Und Onkel Rhode – mit dem war Wolfgang auch nicht zufrieden. Warum erzählte er ihm keine Geschichten mehr? Warum hatte er ihn gestern erst wieder gewarnt, allein auf die Ruine zu gehen? Und warum ging er nicht mehr mit ihm spazieren? Wollte er allein sein? Gut so. Auch Wolfgang konnte allein sein, war sich selbst genug und brauchte die Erwachsenen nicht.

»Es ist gefährlich auf der Ruine, du könntest irgendwo herunterstürzen«, hatte Onkel Rhode gesagt. So ein Unsinn. Onkel Rhode war eben gerade so furchtsam wie die Mama. Ja – und jetzt wußte Wolfgang auch, was ihm damals an der Geschichte von der 187 Sibylle nicht gefallen hatte. Dieser König, der die Schicksalsfrau zweimal fortschickt und sich dann erst noch von ihr betrügen läßt – der ist ja ein Feigling und fürchtet sich vor einem dummen alten Weib.

Gelehrte Köpfe haben nachgewiesen, daß der Mensch in seiner Entwicklung vom Säugling bis zur völligen Reife alle historischen Kulturstufen der Menschheit durchläuft – wobei allerdings mancher geistig Minderbemittelte zeitlebens in der Pfahlbau oder Steinzeit steckenbleiben kann.

Was Wolfgang betraf, so durchlebte er gegenwärtig etwa den Beginn der fälschlich so genannten Neuzeit, wo die großen Seefahrer, Eroberer und Konquistadoren stehen und war sohin ein Artgenosse der Columbus, Cortez und Pizarro; und es war durchaus im Sinne jener Gewaltmenschen, daß sich in ihm der flammende Bubentrotz erhob, der alle von Erwachsenen gesetzte und behütete Ordnung reckenhaft durchbricht, und den die Eltern und beamteten Erzieher mit dem schnöden Worte Lausbüberei oder Flegelhaftigkeit bezeichnen.

Und dazu war heute ein Tag, an dem alle Geister der Pfadfinderromantik losgelassen waren und die Luft geradezu nach Abenteuern roch; tief dunkelblau spannte sich der Himmel mit seinen schimmernden Silberwölkchen über die in roten und gelben Flammen lodernden Wälder, und die ganze Welt war so voll von phantastischer Buntheit wie eine Karl-May-Geschichte. 188

Nach dem Vorbild der berühmtesten Häuptlinge der Indianerliteratur hatte Wolfgang alle Vorbereitungen für die geplante Expedition ins Land der Abenteuer getroffen. Seine Bewaffnung bestand in einem Blasrohr und einem Bogen samt Pfeilen; statt des Tomahawks steckte in seinem Gürtel ein großes Taschenmesser. Proviant in Gestalt von Buttersemmeln, Schokolabebonbons und Mohnkipfeln aus Frau Dora Burmesters Küche füllte die Hosentaschen, die außerdem noch Bindfaden, Zündhölzer, Roßkastanien, Bolzen für das Blasrohr, Farbstifte, Glaskugeln, Fischangeln und ein Fläschchen Spiritus zur Heizung des Luftschiffes enthielten und aussahen wie zwei sehr schlimme Geschwülste.

Als erstes Ziel war die Ruine Kronstein in Aussicht genommen, wo das neue Luftschiff wieder einmal steigen sollte; aber im Hinblick auf die mehrfach erlassenen Verbote schien es durchaus überflüssig, die Öffentlichkeit von dem geplanten Unternehmen in Kenntnis zu setzen.

Die Expedition begab sich also mit dem Luftschiff so unauffällig als möglich zur hinteren Türe des Kurhauses, die ein gänzlich unbeobachtetes Entschlüpfen in die schrankenlose Wiesenfreiheit erlaubte; aber hier zeigte sich schon das erste Hindernis, da besagte Tür heute versperrt und trotz allen Rüttelns nicht aufzubringen war.

Man mußte also den Weg durch den 189 Hauptausgang nehmen; und richtig, kaum hatte man die Deckung des geschweiften schmiedeeisernen Balkons verlassen, da klang schon droben ein Fenster und Mama steckte den Kopf heraus:

»Wohin, Wolfgang?«

Aber am Ton der Frage merkte Wolfgang sofort, daß kein tieferes sachliches Interesse hinter ihr stand und daß sie eigentlich nur zur Beruhigung des mütterlichen Gewissens gestellt war, da Herr von Döbrenday nicht in der Nähe weilte; und weil es gerade hier geboten schien, Ziel und Zweck des Unternehmens in Dunkel zu hüllen, so gab er die etwas gewundene Antwort:

»Ich will nur ein Loch in meinem Luftballon verkleben.«

Dies schien allerdings ein harmloses Vorhaben, das den unruhigen Geist wenigstens eine Zeitlang zur Seßhaftigkeit zwang; trotzdem flatterte noch eine mütterliche Mahnung hinter ihm drein:

»Geh nicht zu weit fort, hörst du?«

Aber Wolfgang watete bereits bis zu den Knöcheln in dem raschelnden Herbstlaub und erzeugte so viel Lärm, daß er sich im Notfalle, wenn Mama aus seiner harmlosen Fahrt ins Blaue wirklich ein hochnotpeinliches Verbrechen machen wollte, darauf ausreden konnte, er habe die Mahnung nicht gehört oder mindestens nicht recht verstanden – eine kleine, aber oft geübte Heuchelei, die im Kirchenrecht reservatio mentalis genannt wird. 190

Es braucht auch nicht erst gesagt zu werden, daß das Loch im Ballon nur in Wolfgangs Phantasie vorhanden war, und Professor Scheidemantel oder sonst ein mit staatlicher Autorität gerüsteter Jugendbildner hätte diese offenkundige Lüge sicherlich zum Anlaß einer heftigen Anklage gegen die Sittenverderbnis der gegenwärtigen entarteten Zeit genommen, wobei allerdings die Frage offen geblieben wäre, wie oft die Ankläger sich selbst des gleichen Vergehens schuldig gemacht hatten; denn erwachsene Jugendbildner – und jeder Erwachsene hält sich für einen geborenen Pädagogen – huldigen Kindern gegenüber sehr gerne dem Grundsatz: Handelt nach meinen Worten, aber nicht nach meinen Taten.

Aber es ist schon so auf der Welt, daß man sich ohne Lüge nicht einmal durch einen Kurpark, geschweige denn durch das Leben schlagen kann; und Wolfgang hatte schon mehrmals in den wenigen Jahren seines bewußten Daseins die Erfahrung gemacht, daß es allerlei Dinge gab, die Erwachsene nicht zu wissen brauchen. Sie sagten ja den Kindern auch nicht immer die Wahrheit. Wolfgang wußte zum Beispiel schon längst, daß es kein Christkind gab und keinen Nikolo, obwohl ihm Mama immer von ihnen erzählte; aber er mußte gläubig tun, wollte er ihr nicht die Freude verderben. Unglaublich, wie schwer es manchmal für einen Zehnjährigen ist, Erwachsene zu behandeln. 191

Und er warf mit den Füßen die rauschenden dürren Blätter immer höher empor, bis er ans Ende der Kastanienallee kam und zurückblickend bemerkte, daß Mamas Fenster geschlossen war und das gelbe Haus ganz still und einsam im Sonnenschein dalag. Somit konnte die Expedition ungehindert ihr Ziel weiter verfolgen, und Wolfgang verließ nach einem letzten scheuen Blick auf das Kurhaus den gebahnten Weg, um durch die pfadlose Wildnis der sumpfigen Wiese, durch die Dunkelheit des Waldes, über eine sonnige Halde voll von Granitblöcken, auf einem ungeheuren Umweg der Ruine Kronstein zuzustreben, die zum ersten Lagerplatz bestimmt war.

Keine Sorge, lieber Wolfgang! Mama hat heute an anderes zu denken als an deine romantischen Fahrten und Abenteuer. Sie steht vor dem Spiegel, eine hübsche, gepflegte, noch immer jugendliche Frau; sie ist zufrieden, sie sieht gut aus, die Augen sind blank, auf ihren Wangen blühen die Rosen der Lebensfreude; aber in den Augenwinkeln, wo die Zeitspinne doch schon ein Netz von feinen, ganz feinen Fäden gesponnen hat, dort zittert etwas wie heimliche Angst vor der Zukunft; da reckt und ringelt sich die bange Frage: Wie lange wird sie noch dauern, die große Macht, die von ihr ausgeht, die Macht, die beim Weibe gleichbedeutend ist mit Jugend und Schönheit? Warum hat sie gestern bei der Abendtafel das schwermütige Wort des alten Freundes Rhode so nachdenklich gestimmt, als er 192 das Leben mit den sibyllinischen Büchern verglich, weil es um so köstlicher wird, je weniger davon übrigbleibt . . .

Wenn Frauen philosophieren, steckt gewöhnlich ein Mann dahinter. Und in diesem Falle war Ausgangspunkt und Anlaß von Frau Elfriedes Philosophie eine Einladung, die sie heute früh erhalten hatte – die Einladung Herrn von Döbrendays zu einer gemeinsamen Autofahrt für den morgigen Tag.

Sie hatte nicht ja und nicht nein gesagt . . . das Leben einer Frau, solange sie noch jung und hübsch ist, ist ein einziges Vielleicht. Und er hatte sich artig und gemessen wie immer zurückgezogen und eine ruhig zuwartende Haltung angenommen, die ihr sehr gut gefiel. Und nun wollte sie das prickelnde Lustgefühl auskosten, ihn noch weiter auf die Probe zu stellen: würde er seine Haltung bewahren oder nicht? War er wirklich der Kavalier, für den sie ihn hielt? Oh, sie wußte es genau: sein Atem ging schneller in ihrer Nähe; nein, nein, noch hatte sie nichts zu fürchten, noch war sie im Vollbesitz der großen Macht . . .

Inzwischen war die Wolfgangsche Expedition auf ein neues Hemmnis gestoßen: auf keinen feindlichen Indianerstamm auf dem Kriegspfade, keinen Grizzlibären oder Königstiger, sondern auf Lajos, der auf dem Liebesbänklein mit den verdrehten Buchstaben saß, jedoch nicht allein, sondern, wie es schon bei solchen Lust- und Liebesbänklein ist, in inniger Umschlingung 193 mit einem Wesen des den Mann ergänzenden Geschlechtes, das sich bei näherem Zusehen den Späherblicken Wolfgangs als die kleine rundliche Hanni entpuppte. Die beiden betrieben ihre Sprach- und sonstigen Studien mit solchem Eifer, daß sie blind und taub für ihre Umgebung waren; aber Wolfgang, die Möglichkeit eines Verrates erwägend und in ausgeprägter Abneigung gegen alles, was mit Herrn von Döbrenday zusammenhing, fand es doch für geraten, mit indianischer List das Liebesbänklein in einem weiten Bogen zu umschleichen.

Die List war überflüssig. Weder Lajos noch sein Herzgespiel merkten etwas von dem geschickt durchgeführten Umgehungsmanöver. Hannerl, unter kühlerem Himmel aufgewachsen, war noch nie mit solcher Glut geküßt worden und schwamm in namenloser Seligkeit. Sie begriff nur nicht recht, daß der Lajos, obwohl sie schon bei verschiedenen Gelegenheiten immer wieder vom Heiraten gesprochen hatte, trotz bedeutender Fortschritte in der deutschen Sprache durchaus nicht verstehen konnte, was sie meinte, und nahm sich vor, die Unterweisung noch sorgfältiger und gründlicher zu gestalten.

Der braune Rattenfänger aber nutzte beflissen eine Gelegenheit, die sich ihm auf so hübsche Weise bot, obwohl ihm ein wenig bange vor der Zukunft war; denn er war lange genug der Schüler und Vertraute seines Herrn gewesen, um zu wissen, daß man zarte 194 Beziehungen viel leichter und angenehmer anknüpfen als lösen kann, und die kleine schwarze Hanni nahm ihm die ganze Sache zu ernst; er war nun einmal mehr für ein prasselndes und zischendes Strohfeuer als für langweilige Herdflammen.

Immerhin stieg auf beiden Seiten die Liebestemperatur immer höher, und wer weiß, was noch alles geschehen wäre, hätte nicht plötzlich die Hanni vom Kurhause her ihren Namen rufen hören; sie wand sich aus den sie umschlingenden Armen, mit zerrauftem Haar und rotem Gesichtchen, und lief durch die raschelnde Kastanienallee dem Hause zu. Da erinnerte sich auch Lajos, daß ihm sein Herr aufgetragen hatte, für einen allfälligen Automobilausflug zu zweien in der Stadt noch allerlei Einkäufe zu besorgen: Sardinen und Büchsenhummer, Kognak und Likörbonbons, Naschwerk und was sonst noch zu einem fröhlichen Imbiß im Freien gehört; er stand auf, dehnte sich behaglich, spitzte die beiden Bleistifte seines Schnurrbartes und schritt würdevoll den Waldweg nach der Stadt hinab, jeder Zoll ein Magyar.

Während Klein-Wolfgang, nach einem gewaltigen Umweg endlich im Burghof angelangt, Vorbereitungen zum Aufstieg seines Luftschiffes traf, Lajos im Warenhause Ticho zwischen Konservenbüchsen, Likörflaschen, Bonbonschachteln und Keksdosen mit den Handlungsgehilfen herumkommandierte und Herr von Döbrenday, in Vorahnung eines galanten 195 Abenteuers, in seinem Zimmer mit dem angeblichen Eisbärenfell auf dem Sofa lag und eine seiner extrafeinen Importen rauchte: während all dies geschah, wanderte Ingenieur Rhode langsamen Schrittes, in tiefes Sinnen verloren, durch den Park gegen die Ruine Kronstein.

Er ging dahin wie einer, der Klarheit über sich und sein Dasein gewinnen will; ihm war, als hebe er sich aus sich selbst, als stünden alle Geschehnisse seines Lebens scharf umrissen vor ihm da in der leuchtenden Luft dieser herbstlichen Tage; er fühlte, wie der Herbst gleichsam seine, des spät Gereiften, Jahreszeit war, mit der wunderbaren Klarheit des tiefblauen Himmels, mit dem roten Blättergold und den reifen Früchten dazwischen, duftend wie Frühlingsblüten und süßgekocht von der Sonnenglut des Sommers.

Er sah die Frau, die ihm als die Krone des Lebens erschien, dem jüngeren Manne entgegengleiten, der mit anderen Mitteln zu werben wußte als er. Jene halb angedeutete Einladung zu dem Ausflug im Auto: er hatte sie, so leise auch gesprochen wurde, über den Tisch hinüber deutlich gehört, mit der aufs höchste gespannten Aufmerksamkeit, die er allem zuwendete, was Elfriede anging. Und er hatte das plötzliche Aufflammen aller Sinne in dem Gesicht des Lebemannes wohl bemerkt . . . Jenes Aufflammen, das ein Mann beim andern mit unfehlbarer Sicherheit erkennt. Aber er empfand keinen Groll gegen sie, keinen Haß gegen ihn; 196 es war nur eine leise Traurigkeit und ein stilles Verwundern in ihm, wie schwer es die Natur den Frauen macht, zu begreifen, daß Menschsein mehr bedeutet als Weibsein oder Mannsein.

Eine Erinnerung, die um Jahre zurücklag, stieg vor ihm auf mit der Deutlichkeit einer Vision: eine grauseidene, schimmernde Seefläche, auf der draußen, weit entfernt, ein dunkles, einsames Boot schwamm. Am Ufer aber, mitten unter einer wimmelnden, neugierigen Menschenmenge, stand ein Mann an einem Apparat mit metallenen Hebeln und Zahnrädern, mit zitternden Drähten und weißen Zifferblättern, auf denen die langen schwarzen Stacheln der Zeiger langsam hin und her pendelten; und diesem Apparat gehorchte das dunkle Boot draußen auf dem See. Es schoß pfeilschnell über das Wasser, daß die Wellen am Bug aufschäumten, es trieb ganz langsam, näherte sich dem Ufer, entfernte sich von ihm, drehte sich im Kreise, beschrieb Kurven und Schlangenlinien, aus der Ferne gelenkt von den geheimnisvollen Strahlen ätherischer Kräfte.

Und so, schien es ihm, hatte sie ihn, den weit Entfernten, ohne ihr Wissen immer und immer wieder in seltsamer Weise beeinflußt; damals schon, in den Tagen der Nixe mit den schreckhaft großen Augen und abgebrochenen Armen, in der Zeit der Mondscheinnächte im duftenden Park und der quälenden, dunklen Sehnsucht seiner Jugend; und dann später, als er mit dem harten Leben ringen, durch unantastbare Arbeit 197 in seinem Beruf den geachteten Platz erkämpfen mußte, auf dem er heute stand; damals, als er sie herausreißen wollte aus der Behaglichkeit ihres gesättigten Lebens, und sie den Mut nicht fand, ihm zu folgen. Und doch blieb sein Herz bei ihr. – Der Mann, mag sein Leben noch so sehr auf Arbeit und Tatkraft gestellt sein: er kann nicht schaffen ohne die Illusion des Gefühls.

Und nun ist sie abermals in sein Dasein getreten und hat alles wieder zum Leben erweckt, was längst schon erstorben und tot schien, begraben unter der Last der Jahre; hat ihm noch einmal alle Träume seiner Jugend gezeigt, ihm neue, herrliche Illusionen geschenkt – die schönsten, die köstlichsten, weil hinter ihnen die Entsagung das verschleierte Haupt erhebt; denn er weiß, wenn er jetzt von ihr gehen muß, darf er nie mehr wiederkommen – nie mehr.

Und er muß gehen, wenn er sieht, daß sie sich dem anderen zugewendet hat. Das wird bald entschieden sein – morgen, übermorgen, vielleicht schon heute abend. Und so hat er alles zur Abreise vorbereitet, die Rechnung beglichen, in seinem Zimmer stehen die Koffer gepackt – jeden Augenblick kann er verschwinden, still und unauffällig, wie er gekommen ist. Vielleicht wird er ein paar freundliche Zeilen an sie zurücklassen – vielleicht nicht einmal das, wenn er glaubt, daß sie keinen Wert darauf legt. Und dennoch – dennoch – dennoch wird er ihr dankbar sein für die Gabe, die sie ihm gereicht hat – die Gabe des Schmerzes. Die 198 Herrin hat's gegeben, die Herrin hat's genommen, der Herrin Namen sei gepriesen.

Da steht er am Fuße des Burgberges.

Noch einmal will er hinauf, an die Stelle, wo er vor wenigen Wochen gestanden und in das Land seiner Kindheit hinabgeblickt hat. Man kann den Wartturm mit der Aussichtswarte von hier aus nicht sehen, weil die zinnengekrönte, geborstene Mauer des Palas sich vorschiebt. Langsam schreitet er die Serpentinen des schmalen Weges empor, höher und höher. Steine knirschen unter seinem Tritt, Dohlen flattern auf, mißtönig zerreißt ihr scharfer Schrei die Luft.

Er sinnt in die Zukunft hinaus.

Noch eine kleine Weile, dann werden ihn wieder die Mauern seiner Fabrik umgeben. Er wird wieder herrschen in seinem stillen Reich, in dem weiten, hellen Saal mit den ungeheuren weißen Reißbrettern und blitzenden Meßgeräten; wird sich auf seine Arbeit werfen, um dem Unternehmen, dem er schon so lange und erfolgreich dient, neues Land zu erobern.

Als einer der ersten unter den Leitern des großen Betriebes hat er die Wege erkannt, die aus der blutigen Finsternis des noch immer furchtbar nachwirkenden Krieges in eine bessere Zukunft führen. Er hat die kleinen vorzüglichen Motoren, die seinen Namen tragen und damals, ohne seinen Willen, auf Flugzeugen, in Munitionsfabriken, auf Kriegsschiffen dem grauenvollsten Massenmord dienen mußten, in jahrelanger 199 emsiger Arbeit immer besser, immer leistungsfähiger gemacht und für die friedlichen Zwecke der Industrie und Landwirtschaft umgeschaltet. Und nun wollen sie seine Erfindung in fernen Ländern einführen. Ungeduldig erwartet man im Betrieb seine Rückkehr, die er bisher immer wieder hinausgezögert hat. Und nun darf er nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ungeheure Mühe und Arbeit steht ihm bevor, aber auch neuer Erfolg.

Er fühlt, wie eine jener seltenen, köstlichen Stunden tiefster Einkehr über ihn kommt, wo alle Mächte des Geistes und der Seele sich entfalten und alles Lebensbejahende in unserer Brust zusammenströmt; wo wir unser heiligstes Ich aus dem geheimen Tabernakel des Herzens holen und der Ewigkeit entgegenhalten, wie der Priester am Altar der unbekannten Gottheit ihr strahlendes Symbol entgegenhält. Ihm ist zumute, als müsse seine Seele Flügel ausbreiten, ihn zu heben und zu tragen, aufwärts, um so brausender und mächtiger, je mehr Leid ihm das Leben zugefügt; denn wer einmal den Zenit des Lebens überschritten hat, der trägt an seinem Glück und seinem Leid unendlich schwerer als die Jugend.

An das freundliche stille Ding mit den braunen Augen denkt er, das er aus der Erde seiner Kindheit in das Treibhaus der großen Stadt verpflanzen will. Sie wird den Waldesfrieden der Heimat in sein einsames Arbeitsleben tragen, den Harzduft und das 200 verträumte Rauschen der Tannenwälder. Und er wird sie schützen und hegen wie eine liebe Blume und nichts von ihr verlangen, was sie ihm nicht gern und frohen Herzens geben will.

Aber vielleicht – wenn ihn seine Ahnung nicht trügt – vielleicht wartet auf ihn im Schoß der Zukunft doch noch etwas wie ein heimliches Glück. Wie lange es dauern wird, das Glück? Gleichviel! Wer kann Seligkeit nach Jahren, nach Wochen, nach Tagen messen? Ist das Leben nicht viel zu kurz, als daß man nur auf eine einzige Stunde restlosen Glücks verzichten könnte? Was ist die Zeit? Ein leerer Rahmen um wirkliches Geschehen, bloße Form des Denkens und Fühlens. Was ist Alter, was ist Jugend? Auf das Ich kommt es an, auf das Eine, Unzerstörbare, das in uns lebt und die Rechnung der Jahre nicht mitmacht. Die Seele ist nicht alt und nicht jung, sie ist ewig. Hast du das Ewige in einem Menschen angerührt, dann ist er dein für immer . . .

Nun hat ihn der enge gotische Toreingang aufgenommen, und die grüne Einsamkeit des Turnierhofes schlägt über ihm zusammen. Es ist, als sei die Zeit hier stille gestanden; die dichten Brennesselwälder längs der Umfassungsmauer, die breiten, riesigen Kletten, die gezackten Blätter des Löwenzahns, alles prangt im satten, saftigen Sommergrün. Fußspuren im Grase, die zum Turm hinführen . . . wer war der letzte Gast dieser Wildnis? 201

Und wie er so steht und sinnt, da dringt ein Schrei an sein Ohr – nein, kein Schrei, ein lautes, stöhnendes Rufen, wie es nur sinnlose Angst aus der Kehle eines Menschen pressen kann.

Er überblickt den leeren Hof, streift mit den Augen die Umfassungsmauer ab – nirgends ein menschliches Wesen.

Und wieder – wieder dieses furchtbare, qualvolle Rufen, diesmal zu einem Wort geformt . . .

»Hilfe! Hilfe!«

Er zuckt zusammen. War das nicht Wolfgangs Stimme?

»Wo bist du, Wolfgang?« ruft er, nun schon selbst voll Angst.

»Hier – an der Turmwand – ich habe mich verstiegen – hilf mir, Onkel Rhode!«

Jetzt begreift er. Der Bub hat – weiß Gott warum – von außen den Turm umklettern wollen und hängt nun über dem Abgrund. Und die Hilfe muß rasch kommen, bevor ihn die Kräfte verlassen und er in die Tiefe stürzt.

Was soll er tun?

Blitzartig zucken die Gedanken durch seinen Kopf, während er Rock und Weste herabreißt und ins Gras schleudert.

Aus seiner Knabenzeit weiß er, daß am Fuße des Turmes eine schmale Leiste von eingemauerten Steinen um die ganze Rundung läuft, eben noch breit genug, 202 um den Fuß darauf zu stellen. Die Mauer bietet leidliche Griffe für die Hände – wenn man geschickt und mutig ist, kann man rund um den Turm klettern. Die Stimme Wolfgangs kommt von rechts. Soll er ihm nach? Nein. Das morsche Mauerwerk hält vielleicht die neuerliche Belastung nicht aus. Er muß versuchen, ihm von der anderen Seite her zu Hilfe zu kommen. Und da steht er schon auf dem Steinband, setzt vorsichtig einen Fuß an den andern, greift mit den Händen die Steine, die Sonnenwärme ausstrahlen und sich anfühlen wie eine lebende Menschenbrust.

Gottlob, er ist schwindelfrei. Steil fallen die Felsen unter ihm zur Tiefe ab; aufgescheuchte Dohlen fliegen krächzend aus schwarzen Turmlöchern; dürre Grasbüschel, aus den Spalten des geborstenen Gemäuers wachsend, wehen wie lange Greisenbärte im Winde; tief unter sich sieht er die Häuschen der kleinen Stadt, wie aus der Spielzeugschachtel geschüttelt, ihren bunten Reigen um den grauen gotischen Turm schlingen; deutlich erkennt sein scharfes Auge in der klaren Luft das Zifferblatt – es fehlen noch zehn Minuten auf fünf.

Und er arbeitet sich langsam weiter, immer weiter. Von Minute zu Minute fühlt er sich freier. Er weiß, daß er zwischen Tod und Leben hängt, daß jeder unvorsichtige Tritt ihn in den Abgrund schlendern kann. Aber gerade das Bewußtsein der Gefahr schärft alle seine Sinne und erfüllt ihn mit ungeheuren Kräften. 203 Alle Muskeln seines Körpers gehorchen dem Willen, wie ein Schiff dem Druck des Steuers.

Jetzt – jetzt hat er den Knaben erreicht, der bleich und regungslos an der Turmwand klebt, die Hände in die Fugen gekrampft, die zwischen den mächtigen Steinblöcken klaffen. Im Bann einer lähmenden Angst hängt er da, wagt sich weder vorwärts noch rückwärts. Und über ihm, an einem Holunderstrauch, dessen Wurzeln sich tief in die Mauerrisse gesenkt haben, schaukelt der bunte Luftballon auf und nieder, gleichmütig, langsam, wie ein riesiger Schmetterling.

Der Mann greift mit der rechten Hand nach einer der zähen Wurzeln des Strauches, die sich wie braune Schlangen aus den Spalten ringeln, hält sich fest, verankert sich an der Mauer. Die Linke packt den Knaben am Gewand, hebt ihn, stützt ihm den Rücken:

»Ruhig bleiben, Wolfgang . . . den linken Fuß emporziehen, bis du den Stein erreichst – keine Furcht, du fällst nicht . . . gut so . . . nun greife mit der Linken nach oben, halte dich fest an dem Stein . . .«

Und von einem Block zum andern klettert der Bub, schweigend, mit zusammengebissenen Zähnen, bis er auf dem sicheren Felsenrande steht.

Der Mann, ermattet von der gewaltigen Anstrengung, packt die Wurzel des Strauches fester, um sich auf die letzte Steinplatte zu schwingen . . . da löst sich die braune Schlange, die ihm Halt gab, aus der Spalte, unter seinen Füßen weicht das morsche 204 Mauerwerk, er sinkt hinab, lautlos, wie verschlungen vom Abgrund; Steine poltern nach, Mörtel und Schutt rieselt herunter, die Dohlen, aus ihrer Ruhe gestört, kreischen wild auf und flattern schwarz und schwer in die blaue Luft hinaus.

Ein schreckensbleiches Knabengesicht starrt in namenlosem Entsetzen in die Tiefe.

Dann Stille. Der Wind spielt wieder mit den langen Bärten der Gräser, die aus den Spalten hängen; die Turmuhr der Stadtkirche schlägt die fünfte Stunde; droben an dem sonnenbeglänzten Holunderstrauch schaukelt der bunte Luftballon auf und nieder wie ein riesiger Schmetterling. 205

 


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