Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

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Zwölftes Kapitel

Wir alle, die wir die Kette des Alltagsberufs an den Füßen mitschleppen – diese lästige, garstig klirrende Kette, von der wir uns leider nicht losreißen können, weil sie mit dem anderen Ende an den Brotbaum befestigt ist – wir segnen und preisen die heilige Ordnung, die segensreiche Himmelstochter, in deren Namen uns die Weisheit einer gottgewollten Obrigkeit in ihre Stacheldrahtverhaue von Vorschriften, Gesetzen und Verordnungen sperrt.

Wir beugen uns vor dieser Ordnung, weil wir wissen, daß sie stärker als der Wille des Einzelnen ist; weil die meisten von uns, zu schwach, sich selbst Gesetze zu geben und sie zu halten, sich mit Haut und Haar an diese Ordnung ausliefern, um sich von ihrer Strenge stützen zu lassen.

Ach – und trotz alledem streben wir zu gewissen Zeiten unseres Lebens – zumeist in der Jugend, aber sehr oft auch noch in reifen und überreifen Jahren – hinaus aus den wohlweise abgezirkelten Kreisen dieses geordneten Daseins und greifen nach den hübschen Siebensachen einer fremden und abenteuerlichen Welt, die 222 uns gar nichts angehen, wie das Kind nach dem Mond greift.

So erging es auch Professor Scheidemantel.

Er war ein Mann der Ordnung und ein tüchtiger Berufsmensch; aber gerade deshalb mußte er mit bitteren Entsagungsschmerzen dafür büßen, daß er sein Herz an etwas gehängt hatte, das nun einmal nicht in den Grenzen dieser geheiligten Ordnung lag.

Einsam streifte er in den Wäldern umher, lag unter brausenden, breitästigen Tannen, saß am Ufer des braunen Flusses auf einem moosbewachsenen Felsen, sang Schuberts »Aufenthalt« in das Rauschen der Wellen und empfand ein tiefes Mitleid mit sich selbst.

Die gemeinsamen Waldspaziergänge mit der Pirsch auf Heidelbeeren und Pilze hatten aufgehört. Mama Regenfeld war seit der abenteuerlichen Flucht ihrer Tochter aus Magdalenenbad noch viel nervöser und rheumatischer als sonst und hielt sich meist zu Hause, und die kleine Maus mußte ihr Gesellschaft leisten und den Blitzableiter für ihre schlechte Laune machen – eine Geduldsprobe, die sie standhaft ertrug, wenn sie abends nur neben Professor Scheidemantel sitzen durfte, der allerdings in diesen Tagen oft noch zerstreuter und verlorener war, als Professoren gewöhnlich zu sein pflegen.

Und wenn er sich dann ermannte und den Geschehnissen der letzten Zeit mit jener kühlen Logik zuleibe 223 ging, die ihm als einem gelehrten und verständigen Manne geziemte, so mußte er sich sagen, daß er schwere Fehler begangen und aus einer unreifen Herzensregung heraus gehandelt hatte; just vor Frauen von der Art Auras hätte er sich seiner ganzen Natur nach am sorgfältigsten hüten müssen; denn an allem Unglück in der Liebe, an allen Bitternissen, die wir erleben oder anderen bereiten, sind ganz allein wir selber schuld, weil wir uns von belanglosen Äußerlichkeiten blenden lassen, statt bei der Liebeswahl jenem Kompaß des Herzens zu folgen, der die Nähe einer wahlverwandten Natur mit unfehlbarem Instinkt anzeigt.

Aber der Professor empfand nicht nur die bittere Enttäuschung seines eigenen Gefühls als tiefen Seelenschmerz; sondern darüber hinaus, auf der höheren Ebene allgemeiner Betrachtung, erhob sich die Frage: Wo blieb das Ideal der edlen und reinen Weiblichkeit, das er von seiner grünen Jugend an mit sich herumgetragen – wie mußte die sittliche Welt aussehen, wenn alle Frauen so hemmungslos ihren persönlichen Neigungen und Antrieben folgen wollten, ohne Rücksicht auf Familie und Umgebung? Dann waren ja Keuschheit, Zucht und Moral überwundene Begriffe – dann war das ideale Bild des echten Weibes in den Staub getreten, entehrt und besudelt – es war nicht auszudenken!

Das alles erwog Professor Scheidemantel auf jenen langen, einsamen Wanderungen durch die Wälder, in 224 leise vor sich hingemurmelten Selbstgesprächen – er gehörte zu den Menschen, die gern Monologe halten und sich dabei starker Ausdrücke bedienen. Und er war eben noch immer beneidenswert jung und wußte nicht, daß alles Glück der Persönlichkeit darauf beruht, anders zu sein als solch ein anerkanntes Ideal.

Es war ein windiger, etwas trüber Nachmittag – Stimmung Tannhäuser, dritter Akt, da Wolfram mit der Harfe aus waldiger Höhe ins Tal hinabkommt, Herbstblätter von den Bäumen fallen und der Beleuchtungsmeister schon sachte das Licht für den Abendstern aufdreht – da schritt Professor Scheidemantel in Wolfram-von-Eschenbach-Stimmung den Weg von Kronstein hinab und fand auf dem Liebesbänklein zwar nicht die sehnsuchtskranke Elisabeth, die vergeblich die Heimkehr ihres Tannhäuser erwartet, sondern die kleine Maus, in die gänzlich unmusikalische Beschäftigung des Strümpfestopfens vertieft.

Statt des weißgetupften Röckleins vom Hochsommer trug sie heute ein anderes, ebenso kurz und formenfreigebig, aber in den Farben des Herbstes gehalten, mit kupferroten, rostbraunen, gelben und violetten Streifen, das ihr allerliebst von den Hüften herabfiel.

Neben ihr aber, unsichtbar für Professor Scheidemantels kurzsichtiges Auge, saß mit ausgespannten Flügeln ein farbenschillernder Schmetterling, der gute Geist von Magdalenenbad, der Genius loci, humanistisch gesprochen – ein wenig müde schon von der 225 Arbeit dieses ganzen Jahres und voll heimlicher Sehnsucht nach einem geruhsamen Winterschlaf; denn es ist keine Kleinigkeit, auf den tausendfach verschlungenen Pfaden der Gefühle die Herzen zueinander zu führen. Alle Mächte der Natur hatte er in seinen Dienst gestellt, daß sie die Menschen auf die süßen Irrwege der Liebe locken sollten, den frischen Morgenwind und die träumerische Mondnacht, das sehnsüchtige Blau der fernen Berge, die verschwiegene kühle Dämmerung des Waldes und die herbstliche Buntheit im einsamen Kurpark; und doch durfte er sich noch immer keine Ruhe gönnen – noch war sein Werk nicht ganz vollendet.

Professor Scheidemantel, im Bann eines eigenartigen Gefühls, das zum Teil Wehmut und Sehnsucht nach Herzensfrieden, zum Teil eine gewisse Wertschätzung für soviel zur Schau getragene häusliche Tugend war, blieb vor der kleinen Maus stehen und sah zu, wie die flinken Mädchenfinger Stopfholz und Nadel regierten, während der obere Teil des Strumpfes, züchtig eingerollt, hin und her pendelte, bis die Maus mit einem Seufzer der Erleichterung die inhaltsschweren Worte fallen ließ:

»So, jetzt bin ich endlich fertig.«

Sie hob sich von der Bank, nahm das Stopfzeug zusammen und versenkte es in ihr Täschchen, während Professor Scheidemantel einen prüfenden Blick zum Himmel sandte und der Vermutung Ausdruck gab, 226 daß es bald regnen werde; denn auch am Himmel war Wolfram-von-Eschenbach-Stimmung, die dem Weinen näher ist als dem Lachen.

»Mein Gott«, klagte die kleine Maus, »und ich will doch noch in den Wald, Herrenpilze suchen.«

»So, so«, erwiderte er mit artiger Zerstreutheit.

»Wissen Sie denn nicht, daß ich es gestern Mama versprochen habe?«

Nein. das wußte Professor Scheidemantel wirklich nicht.

»Ja. Und ich fürchte mich so ganz allein. Wohin gehen denn Sie, Herr Professor?«

Scheidemantel, als ein zartbesaiteter Mann, merkte wohl, daß sich hinter dieser Frage ein Schwänzlein ringelte: Komm und begleite mich. Trotzdem hätte er noch immer, seinem Hange nach schwermütiger Einsamkeit folgend, mit einer artigen kleinen Lüge den Hut ziehen und auf Wolfram von Eschenbachs Spuren weiter wandeln können.

Aber da gab der Genius loci der Maus ein, daß sie eine kleine, eine ganz kleine bettelnde Bewegung mit den Händen machte wie ein Kind und dabei einen Blick auf Professor Scheidemantel warf, dem auch ein Mensch von viel härterem Gemüt nicht hätte widerstehen können.

Er verneigte sich: »Wenn Sie gestatten, Fräulein Helene . . .« 227

Fräulein Helene gestattete es. Sie gestattete sogar, daß Professor Scheidemantel ihr den Arm bot, während sie auf einem schwankenden Brettersteg den Bach überschritten, und gab diesen Arm, trotzdem der Steg längst zu Ende war, erst am Rande der Waldwiese frei, weil das Pilzsammeln eine Beschäftigung ist, zu der man notwendig beider Arme bedarf.

Es war eine sehr schöne Waldwiese mit violetten Herbstzeitlosen und einem vielfach geschlängelten Bächlein, voll von romantisch blauen Vergißmeinnicht, buttergelben Ranunkeln und wehmutsvollen Unkenseufzern; aber trotz eifrigen Suchens zeigten sich durchaus keine Pilze, sei es, daß die Rehe sie gefressen oder daß der Liebesgott sie in den Boden gezaubert hatte, um die beiden noch tiefer ins Waldesdunkel zu verführen.

»Wir wollen zum Fuchsloch gehen, dort gibt es sicher Pilze«, schlug die Maus vor.

Professor Scheidemantel war einverstanden. Und damit die Maus mit den zu erwartenden Pilzen nicht ihr Täschchen beschmutzte, wo sich schon das Stopfzeug befand, stellte er sein Taschentuch zur Verfügung, nachdem er sich rasch und heimlich von dessen fleckenloser Reinheit überzeugt.

Das Fuchsloch war eine etwas unheimliche Stelle mitten im Walde, wo vor Jahren einmal Wilderer einen Förster erschlagen hatten; Riesentannen standen schwarz und schweigend, in langen grauen Bärten hing das Moos von den Ästen herab, das dumpfe 228 Hämmern eines Spechtes in der Ferne klang wie angstvoller Herzschlag; es war also durchaus begründet, daß sich die Maus immer recht nahe an ihren Gefährten hielt.

Und da hob auch schon der erste Pilz sein braunes rundes Köpfchen aus den bleichen Tannennadeln des Vorjahrs, die den Waldboden deckten; natürlich bemerkte ihn die Maus zuerst und warf sich mit einem kleinen Jubelruf auf die Knie, um ihn abzuschneiden; nicht weit davon standen ein zweiter und dritter, und die Maus, die anfänglich noch hie und da ängstlich ins Waldesdunkel geguckt hatte, als müsse jetzt und jetzt einer von den vierzig Räubern Ali Babas daraus hervorbrechen, verlor ihre Scheu im Vertrauen auf den männlichen Schutz und war sehr eifrig bei der Sache. Professor Scheidemantel half nach besten Kräften, wenngleich er, zufolge seiner Kurzsichtigkeit, die Herrenpilze oft mit Teufelsschwämmen und Schmalzlingen verwechselte und zumeist nur jene sah, die ihm die Maus zeigte; aber die Männer merken ja alles immer erst dann, wenn es vorbei ist.

Und die kleine Helene bückte sich zu Boden und hob sich wieder empor, auf und ab, elastisch wie eine Springfeder, wandte sich dahin und dorthin, mit der ganzen unbewußten Koketterie ihrer achtzehn Jahre, und Professor Scheidemantel sah das Spiel der blühenden Glieder durch den dünnen Stoff des kurzen Kleidchens und empfand unter der Schwelle des Bewußtseins ein 229 tiefes Wohlbehagen an soviel reizvoller und gesunder Jugend.

»Merkwürdig«, dachte er, »wenn sie lacht, hat sie etwas von ihrer Schwester – etwas Sinnenfrohes, beinahe Sündhaftes –, man könnte glauben Aura zu hören, wenn man die Augen schließt . . .«

Als genug Pilze beisammen waren, setzten sich die beiden nebeneinander auf einen mächtigen Baumstumpf, wo just Platz für zwei war, und Professor Scheidemantel durfte zusehen, wie die Maus mit Hilfe seines Taschenmessers die Pilze putzte und sorgfältig alle wurmigen Stellen wegschnitt.

Aber wir würden dem guten Genius loci schweres Unrecht tun, wollten wir annehmen, daß er unterdessen müßig gewesen wäre. Hatte er nicht schon in der vergangenen Woche die schönsten Herbstzeitlosen aus der braunen Erde gelockt und die Vergißmeinnicht und Ranunkeln mit kühlem Morgentau aufgefrischt, damit das Pärchen, auf das er es abgesehen, auf einem recht fröhlich-bunten Teppich in sein Glück hineinschreiten sollte? Und einen warmen Regen hatte er nächtlicherweile ins Land geschickt, die Pilze aus dem Boden zu treiben, und den schwermütig süßen Duft des Herbstes über den Wald ausgegossen; denn ach, was muß nicht alles geschehen, um ein kleines Fünklein allgemein menschlicher Zuneigung zu jener Flamme aufzublasen, die man Liebe nennt!

Jedenfalls hatte der kleine Gott alles nach 230 Möglichkeit vorbereitet und bedurfte nur noch eines erregenden Momentes, um die Sache in Schwung zu bringen; und zu diesem Behufe winkte er ein paar dicke, alte, graue Regenwolken herbei, die sich über den Baumwipfeln so lange aneinander drängen und reiben mußten, bis den Pilzsuchern auf dem Baumstumpf dicke Tropfen auf die Köpfe fielen und es erwiesen war, daß Professor Scheidemantel mit seiner Wettervoraussage doch das Richtige getroffen hatte.

»Mein Gott – es regnet!« klagte die Maus, obwohl das eine gänzlich überflüssige Feststellung war, denn Professor Scheidemantel spürte die Regentropfen genau so wie sie, »was fangen wir jetzt an!«

Es war nicht viel anzufangen; man zog sich unter eine breitästige Tanne zurück und drückte sich mit dem Rücken an den Stamm, wo es noch leidlich trocken war, nicht achtend der Gefahr, Harzflecken in die Kleider zu bekommen; es wurde ziemlich kühl, die Maus zitterte in ihrem leichten Fähnlein, da zog Professor Scheidemantel seinen Lodenrock aus und nötigte sie hineinzuschlüpfen.

Der kleine Genius loci aber beobachtete von einem der größten Tannenäste, langsam auf und nieder schaukelnd, sehr aufmerksam, was da unten auf dem grünen Waldmoos geschah; denn er wußte, jetzt kam der entscheidende Augenblick.

Und er tat so wie ein kluger Angelfischer, der sich hütet, die Schnur anzuziehen, wenn der Fisch am 231 Köder herumnascht, sondern geduldig wartet, bis er ordentlich angebissen hat; er störte die beiden durchaus nicht in ihrer traumhaften Regenstimmung, die sie das Maß der Zeit verlieren ließ; Minuten und Viertelstunden raunen an ihnen vorüber, mit leisem Rauschen fielen die Tropfen, im Nu aufgeschluckt von den Nadeln und dem Moos des Waldbodens, endlos, unaufhörlich, und es sah ganz danach aus, als wolle es sich sachte in den Spätherbst hineinregnen.

Und die beiden standen noch immer schweigend nebeneinander wie zwei verirrte Kinder – Professor Scheidemantel in Hemdärmeln und verlorenen Gedanken und die Maus rechts von ihm, wie es sich gehörte, im ernsten Schmuck seines braunen Lodenrocks, der mit einem schmalen Samtkragen geziert war.

Da geschah es, daß weit hinten in der Waldestiefe der Specht wieder zu klopfen begann, als wolle er den Takt zu der Regenmusik schlagen – und im selben Augenblick guckte die Maus ein wenig nach links und Professor Scheidemantel ein wenig nach rechts, so daß ihre Blicke sich trafen, und die Maus fröstelte und schob sich näher an ihren schweigsamen Gefährten, der unwillkürlich den Arm um ihre Hüfte legte; aber da lag sie auch schon an seiner Brust, und alle ihre seit vielen Wochen mühsam unterdrückte Sehnsucht brach aus ihr heraus und ergoß sich in einen kleinen Wasserfall von blinkenden Tränen.

Fassungslos ließ Professor Scheidemantel das 232 seltsame Elementarereignis über sich ergehen; endlich fragte er sanft:

»Warum weinen Sie denn, liebes, gutes Fräulein Helene?«

Und sie, unter neuerlichem Aufschluchzen:

»Weil ich – – weil ich doch – – gar nicht – – gar nicht Klavier spielen kann!«

Professor Scheidemantels Bestürzung stieg noch höher. Er wußte nichts zu sagen und beschränkte sich darauf, die Schultern der kleinen Maus zu streicheln, mit tröstender Gebärde, wie man ein ungerecht gescholtenes Kind tröstet.

Sie aber schluchzte weiter:

»Sie lachen mich aus, ich weiß es – und doch – – ich möchte Ihnen etwas sein, etwas Gutes und Liebes – – ach Gott, ich bin ja so unglücklich!«

Jetzt hatte Professor Scheidemantels Fassungslosigkeit ihren höchsten Grad erreicht; denn was da zwischen den zitternden Lippen der kleinen Maus hervorkam, war eine richtige Liebeserklärung, gewürzt mit salzigen Tränen, – – und Weibertränen gegenüber war Professor Scheidemantel vollkommen hilflos.

Aber da so viel ehrliche Bekümmernis doch einer Linderung wert war, so tat er, was wohl jeder andere junge Mann in seiner Lage getan hätte – er küßte die kleine Maus auf die Wange; sie aber schlug ihre Arme noch fester um ihn und küßte zurück, und ihre Küsse zeugten Kinder und Kindeskinder . . . 233

Nun hatte allerdings Professor Scheidemantel noch vor drei Stunden, bei Antritt seines einsamen Spaziergangs, keine Ahnung gehabt, daß derselbe auf solche Weise enden werde; dennoch empfand er die Situation als sehr angenehm, ja noch mehr – es war ihm zumute wie einem, der nach langer und gefährlicher Irrfahrt endlich den Weg nach Hause gefunden hat, zu einem ruhigen, dauerhaften Liebesglück, das still und zärtlich brennt wie die freundliche Arbeitslampe auf unserem Schreibtisch, ohne das unruhige Flackern und Schwelen der Leidenschaft.

Die kleine Maus aber, nachdem sie das Bündel mit den Pilzen sorgsam beiseite gestellt hatte, damit es im Sturm der Gefühle nicht zerdrückt werde, gab sich so restlos ihrer Empfindung hin, wie nur irgendein braves Bürgermädchen am Tage der heiß ersehnten Verlobung.

Denn obgleich dieses verantwortungsvolle Wort bisher noch nicht gefallen war, so stand doch so viel fest, daß sich die Maus, nach ihrer Erziehung und Umwelt, die Liebe ohne öffentliche Sanktionierung und nachfolgende Heirat nicht denken konnte, und Professor Scheidemantel, wenigstens im gegenwärtigen Stadium seines Manneslebens, sich dieses Gefühl nicht anders vorstellen wollte; und so geschah dem Pärchen nach seinem Wunsch und Frommen und zu beiderseitiger Lust.

Wenn aber der Leser an dieser Stelle unserer 234 Geschichte den Kopf schütteln und Professor Scheidemantel unmännliche Passivität oder haltlose Hingabe an ein wandelbares Gefühl und an den Zufall eines sentimentalen Waldspazierganges und dergleichen vorwerfen wollte – denn in der Theorie sind wir ja immer sehr streng, namentlich wenn es sich um andere handelt –, so wird er doch, Hand aufs Herz, bei genauer Überlegung zugeben müssen, daß fast alle Ehen auf solche Art zustande kommen. Denn unser bürgerliches Leben besteht aus drei Hauptepochen, Geborenwerden, Heiraten, Sterben; und obwohl wir bei eins und drei stets überrumpelt werden und es daher unsere heiligste Pflicht wäre, auf die zweite Epoche ein besonderes Augenmerk zu richten und unsere Auswahl so sorgfältig als möglich zu treffen, so lehrt doch die Erfahrung das Gegenteil, und nirgends zeigt sich so deutlich wie hier, daß der Mensch, besonders der männliche, ein ganz blindes Zufallsgeschöpf ist.

Aber auch die verliebteste Waldidylle muß schließlich ein Ende nehmen, und da inzwischen der Regen ein wenig nachgelassen hatte, machten sich Professor Scheidemantel und die Maus eng umschlungen auf den Rückweg, und der kleine Genius loci flatterte ihnen voran.

Und als sie zur Magdalenenkapelle kamen, ließ die Maus sich's nicht nehmen, für einen Augenblick einzutreten – zu einem Dankgebetlein, weil ja die heilige Magdalena nach ihrer Überzeugung durch Gnade und 235 Fürbitte nun endlich doch den heißen Wunsch ihres Herzens erfüllt hatte; sie kniete vor dem Altar mit den vergoldeten, lockenkopfschüttelnden Engeln, und Professor Scheidemantel, obwohl keineswegs persönlich fromm, stand gerührt dabei, weil er von der segensreichen Wirkung der Religion auf die weibliche Seele tief überzeugt war.

Und sie trugen ihre andächtige Stimmung weiter durch den herbstbunten Laubwald, bis das Liebesbänklein mit den tanzenden Buchstabenpärchen in Sicht kam, und Professor Scheidemantel steuerte die Maus darauf zu unter dem Vorwand, daß sie dort unter den dichten Baumkronen vor dem Regen geschützt wären; die kleine Maus aber ließ sich gerne steuern, denn sie schwamm noch im willenlosen Taumel ihres Liebesglücks, obzwar ihr eine Ahnung sagte, daß sehr bald die Zeit kommen werde, die ihr für alle Zukunft das Steuer in die Hand gab.

Der Genius loci aber, unsichtbar über der Stelle schwebend, schüttelte die Regentropfen von seinen Schwingen und lächelte so zufrieden wie jeder Genius, wenn sein Werk vollbracht ist.

Denn auf der Bank mit den verrückten Lettern, wo in schwüler Nacht die kleine braune Anni mit dem Loisl gesessen, der dort wieder ihr Loisl geworden war – an derselben Stelle, wo der Lajos und die runde schwarze Hannerl ihre Sprachstudien zur letzten Vollendung gebracht hatten –, dort empfing die kleine 236 Maus, zitternd vor Schämigkeit und Freude, erst ihren richtigen ernsthaften Verlobungskuß, mit soviel feierlicher Andacht und tiefem Gefühl, wie zu einem so wichtigen Geschäft gehört.

Und weil der Regen immer schwächer wurde und endlich ganz aufhörte, schlug die Maus vor, nach Hause zurückzukehren und erkaufte sich die Erlaubnis dazu von Professor Scheidemantel durch einen neuerlichen Kuß – der war schon so wohlgesetzt und vernünftig wie ein Heiratskontrakt und schmeckte nach sicherer Versorgung mit dem Ausblick auf ein zweibettiges Schlafzimmer und eine reinliche Kinderstube; und als der kleine Liebesgott, der noch immer droben in den Zweigen saß, dieses sah, da breitete er seine Flügel aus, daß den Zweien da unten ein kleiner Sprühregen die Haare näßte, und schwang sich fort – hier hatte er nichts mehr zu suchen.

Die kleine Maus und Professor Scheidemantel aber arbeiteten sich vergnügt durch nasses Gras und kotige Fußwege dem Kurhause zu, und je schwerer ihre Schuhe von dem dicken, klebrigen Lehm wurden, desto vergnügter und leichter war ihnen zumute; und wenn sie sich ganz fest aneinander drückten, so geschah solches jetzt mit dem Rechte der tatsächlich vollzogenen, wenn auch noch nicht veröffentlichten Verlobung und bedurfte weder des Regens noch sonst einer Naturgewalt als Entschuldigung.

Und nun war die 237 Wolfram-von-Eschenbach-Stimmung ganz von Professor Scheidemantel abgefallen und er fühlte sich so stolz und hochgemut wie Lohengrin, da er mit seiner Elsa im Hochzeitsgepränge in den festlich geschmückten Dom einzieht – so stolz und hochgemut, daß er nicht einmal seinen Arm aus jenem der kleinen Helene löste, als sie die Stufen zum Eingang ins Sanatorium emporschritten.

Denn jedermann sollte erkennen, daß es sich hier nicht um zwei leichtsinnige Liebesleutchen handelte wie bei Aura und Herrn Seibold sündhaften Andenkens, sondern um ein sehr gediegenes Menschenpaar, erfüllt vom Bewußtsein seiner Pflicht gegen die Gesellschaft.

Aber in der Vorhalle des Kurhauses, neben der schwarzgerahmten Hausordnung, stand Mama Regenfeld, ein Schachbrett mit aufgesetztem rotem Kopf, und hielt besorgten Ausguck; und neben ihr standen die drei bunten Bürofräulein, Frau Dora Burmester und das Ehepaar Niemaier, wie der Opernchor in Erwartung der Solisten.

»Aber Helene, wo bleibst du so lange? Und bei diesem Wetter!«

»Mama«, sagte die kleine Maus und war sehr verlegen, »wir haben dir Pilze gebracht . . .«

»Pilze?« staunte Mama, »wo denn?«

Ja – wo waren die Pilze?

Und die Maus guckte Professor Scheidemantel an und dieser guckte die Maus an – und es kam zutage, daß das Bündel mit den Pilzen irgendwo vergessen 238 worden war; ob in der Kapelle oder auf dem Liebesbänklein oder anderswo, daran konnte sich keines der beiden erinnern.

Mama Regenfeld übersah die Situation und lächelte ihr mütterlichstes Lächeln.

»Ich weiß alles, mein liebes Kind«, sagte sie gerührt und küßte dem Töchterchen ihren Segen auf die rotglühende Wange. 239

 


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