Egid von Filek
Verwirrung in Magdalenenbad
Egid von Filek

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Erstes Kapitel

Man wird nicht leicht eine freundlichere und allen billigen Wünschen der erholungsbedürftigen Menschheit entgegenkommendere Kuranstalt finden als Doktor Burmesters Sanatorium Magdalenenbad.

Es ist ein kleiner stiller Winkel von entzückender Weltverlorenheit, wo man sich von den Staubwolken, Lichtreklamen und Tanzdielen der Großstadt wunderbar ausruhen kann; wo die Zeit nicht so rasend schnell mit uns davonrennt, sondern behäbig daherschlendert, im genießerischen Bummelschritt einer vergangenen, glücklicheren Generation.

Vor einigen Jahren hat Doktor Burmester das kleine Barockschlößchen um wenig Geld erstanden und seinen Zwecken entsprechend umgebaut.

Wie leuchtet es in sattem, klarem Gelb aus dem Dunkelgrün der kühlen Tannenwälder! Wie wölbt sich der schöngeschweifte Balkon mit seinem schmiedeeisernen Gitter dem Beschauer entgegen gleich einem riesigen Blumenkorb! Blaugrün, wie mit Milch übergossen, steigen drei Douglastannen aus dem hellen Samt des Rasenplatzes; allsonntags spielt unter dem 6 hölzernen Riesenblätterpilz des Pavillons eine Kapelle aus dem Städtchen; und aus einer sehr wirkungsvoll in einen künstlichen Felsen eingebauten Gießhüblerflasche sprudelt das Wasser der Magdalenenquelle, über dessen vorzügliche Heilwirkung bei Verdauungsstörungen, Rheumatismus und beginnender Arterienverkalkung Doktor Burmester nach genauer Analyse in der Medizinischen Wochenschrift ausführlich berichtet hat.

Unterhalb des Sanatoriums streckt sich das kleine Städtchen in Behaglichkeit und Sonnenschein in seine blühende Talmulde hinein wie ein gutes, schläfriges Haustier.

Rathaus und Domkirche blicken aus stolzen gotischen Fenstern auf das bunte Volk der kleinen Bürgerhäuser mit ihren lächelnden Biedermeiergesichtern. Auf dem lindengeschmückten Stadtplatz rauscht ein Neptunbrunnen, fröhlich funkelt der Dreizack des Gottes im Sonnenlicht, in den Schaufenstern der Kaufläden sieht man sittsame Frauenwäsche, sittsame Schuhe, sittsame Bücher.

Und auf der kurzen Strecke zwischen Rathaus und Neptunbrunnen wandeln täglich von elf bis zwölf Uhr mittags die Damen und Herren der guten Gesellschaft auf und ab, bevor sie sich zum Mittagessen setzen. Man glaubt nicht, wieviel Zeit sie haben, die Menschen in einer kleinen Stadt – – und wie wenig sie damit anzufangen wissen. 7

Doktor Burmesters Feinde und Rivalen behaupten, er sei viel mehr Geschäftsmann als Arzt, seine Kuranstalt nichts als eine Sommerfrische und das Wasser der Magdalenenquelle ohne jede ersichtliche Heilwirkung.

Aber das sind nur Verleumdungen.

Allerdings hat Magdalenenbad seit Menschengedenken noch nie einen Schwerkranken gesehen; wer aber kann im Angesicht dieses reizenden Fleckchens Erde an Krankheit und Leiden denken! Die sechsunddreißig Paragraphen der Kurordnung, die in ihrem breiten schwarzen Rahmen in der Vorhalle sehr dekorativ wirkt, werden so leicht gehandhabt, als es die Forderungen der Wissenschaft nur irgendwie vertragen; und für ganz unvorhergesehene Fälle, in denen der Anstaltsleiter allein die Verantwortung nicht tragen will, ist unten im Städtchen Doktor Hermann Grädener – jung, energisch und sehr tüchtig.

Während also Doktor Burmester, ohne seine Patienten mit langwierigen und schmerzhaften Kuren zu quälen, nach bewährter Methode mit klugem Bedacht die Natur in ihren Heilwirkungen unterstützt, sorgt er unermüdlich für die Verschönerung der Anstalt und für die Bequemlichkeit seiner Gäste.

Es gibt da eine neue Liegehalle, ein Sonnenbad, einen Rasenspielplatz für die Kinder; bequeme Ruhebänke auf den Promenadenwegen, die durch die harzduftende Stille des Nadelwaldes zur Ruine Kronstein 8 führen; und während der ganzen Saison flattert vor dem Haupteingang auf weithin sichtbarem Flaggenmast eine hellgrüne Fahne als fröhliches Sinnbild der Gesundheit und Lebensfreude.

Sogar eine historische Merkwürdigkeit ist da, ein Fresko aus dem achtzehnten Jahrhundert, das Doktor Burmester an der Stuckdecke des Konversationszimmers unter der Tünche entdeckt und selbst restauriert hat – – mit jener verschwiegenen Liebe zur Malkunst, die so viele Mediziner im Herzen tragen: zwölf geflügelte Liebesgötter mit dicken rosigen Hinterbäckchen, Pfeilen und Bogen und reizend zerzausten Lockenköpfen schlingen einen lustigen Reigen um eine Vase voll Rosen.

Die kleine Kuranstalt gedeiht aufs beste.

Von einem Jahr zum andern steigt die Zahl der Kurgäste, und Doktor Burmester verordnet mit ärztlicher Gewissenhaftigkeit einem jeden, was ihm frommt: den Herrschaften mit schwacher Verdauung das radiumhaltige Wasser der Quelle, Rheumatikern ein sonniges, Nervösen ein schattig kühles Plätzchen im Kurpark oder im Walde, oder als Terrainkur den Aufstieg zur Ruine Kronstein.

Und für ältere Herren mit Arterienverkalkung hat er einige von den sanften, freundlichen, braunäugigen Geschöpfen aufgenommen, die, zumeist Töchter der armen Bewohner der Umgebung, sich als 9 Pflegerinnen während der Sommerszeit der Kurhausverwaltung zur Verfügung stellen.

Man sieht: Doktor Burmester weiß, wie ein Sanatorium zu führen ist.

Aber auch seine Gattin, Frau Dorothea, weiß es.

Während er mit seinem schönen, von der Damenwelt bewunderten, silbergrauen Gottvaterbart, der funkelnden Goldbrille, den rotbraunen, gesunden Wangen verbindlich lächelnd zwischen den Kurgästen dahinwandelt und jedem etwas Angenehmes zu sagen weiß, wirkt sie auf ihre Weise für deren Wohlbefinden.

Sie steht in der Küche zwischen blitzblankem Kupfergeschirr, brodelnden Töpfen und dienenden Weibern. Sie sorgt für frische Blumen auf der langen, weißgedeckten Tafel, für wohlschmeckendes Essen, für heitere, geistig unbeschwerte Konversation in dem hellen, freundlichen Saal mit den geflügelten Liebesgöttern.

Sie erkundigt sich teilnahmsvoll nach dem Befinden der Damen mit schwacher Verdauung und jenem der älteren Herren mit den langsam verkalkenden Arterien.

Aber sie kann noch mehr.

Man erzählt sich, daß sie mit klugen, vorsichtigen Frauenhänden manche zarte Beziehung zwischen ihren männlichen und weiblichen Kurgästen eingefädelt hat, die später zur ersehnten Heirat führte; und boshafte 10 Junggesellen behaupten, ihre Arbeit sei von weit dauerhafterer Art als die ihres Gatten, weil man gewonnene Gesundheit wieder verlieren kann, eine Frau aber nicht so leicht los wird.

Und das ist das eigentliche Kurgeheimnis von Magdalenenbad, bedeutungsvoller als das radiumhaltige Quellwasser und der heilkräftige Ozonduft der Tannenwälder.

Solche Dinge sprechen sich herum. Und manches Mutterherz, mit Angst um die bürgerliche Versorgung der Tochter belastet, hofft hier auf Erfüllung seiner Wünsche. »Hymen ist der Genius loci – – das heißt, der Gott dieses Ortes«, pflegt Professor Scheidemantel zu sagen, der seit drei Jahren hier seine Ferien zubringt – – er ist zwar Historiker und klassischer Philologe, aber er begreift und verzeiht es, daß andere nicht Lateinisch können, und fügt darum die deutsche Übersetzung bei.

Und vielleicht hat er recht.

Vielleicht liegt im Bau dieser Landschaft, im sehnsüchtigen Dunkelblau der fernen Wälder, in der weißen Heiterkeit der rundgeballten Wolken, in den schwingenden Linien der sanften Hügelrücken etwas, das an letzte und tiefste Geheimnisse des Seelenlebens rührt und wohl imstande ist, Herzen zusammenzuführen, die einander heimlich suchen.

Und es geht die Sage, das zierliche Barockschlößchen sei vor Zeiten ein Liebesnest gewesen, in 11 verschwiegener Waldesstille von einem sehr hohen und mächtigen Herrn für eine kleine Freundin erbaut.

An einsamer Stelle mitten im tiefen Grün steht eine alte Kapelle mit einem holzgeschnitzten, reich vergoldeten Altar. Licht fällt von oben durch gelbes Glas, lockenkopfschüttelnde Engel mit bunten Flügeln neigen sich gegeneinander und schwingen Rauchfässer – – es ist wie eine kleine Theaterdekoration. Das Altarblatt aber, die Büßerin Magdalena darstellend, soll das Bildnis jenes Mädchens sein, in dessen weichen Armen der hohe Herr von der Mühsal des Regierens auszuruhen pflegte; sie kniet vor dem Heiland und läßt die schimmernden Wellen ihres herrlichen Goldhaars über seine schmalen Füße rollen, und er legt segnend die Hand auf ihren Scheitel und lächelt, denn im Himmel ist Freude über eine schöne, bußfertige Sünderin.

Nun hat aber der liebe Gott just heuer einen so warmen und goldigen Frühherbst in die Welt geschickt, mit so tiefblauem Himmel und klaren Fernen, daß in ganz Magdalenenbad kein Mensch ans Abschiednehmen denkt.

Sie haben sich aber auch alle wunderbar erholt, die Kurgäste dieses Sommers.

Am besten wohl das Ehepaar Niemaier. Auf dem Gesicht Herrn Franz Niemaiers, der in der Hauptstadt ein gutgehendes Bäckergeschäft besitzt, liegt die schöne Ruhe einer geschlossenen Persönlichkeit und 12 zahlungsfähigen Moral, und seine kugelrunde, rotbackige Behäbigkeit ist lebende Reklame für Doktor Burmesters Sanatorium. Was seine Gattin betrifft, so besitzt sie jene beruhigende Breite und Körperfülle, die bei einer Frau immer Treue, Seßhaftigkeit und gute Sitten verbürgt.

Auch die drei Bürofräulein, späte Mädchen in Safrangelb, Braun und Steingrün, haben rote Wangen bekommen; sie sitzen immer nebeneinander auf der Bank vor der Magdalenenquelle und schauen mit ihren kleinen, zerknitterten Gesichtchen zu, wie der Mond aufgeht – – stille, verspätete Statistinnen auf der Bühne des Frauenlebens, in den Jahren, wo die Wünsche schlafen gehen und die Kritik des lieben Nächsten erwacht. Sie sehen eine wie die andere aus und man unterscheidet sie eigentlich nur an den Farben ihrer Kleider; sie haben alle denselben Gang, die gezierten, trippelnden Schrittchen überreifer Frauen, die einmal gut getanzt haben, damals, als der Walzer noch Mode war. Auch ihre Namen sind einander ähnlich und Frau Doktor Burmester, die auf Ordnung hält, verwechselt sie immer wieder miteinander und klagt über schwindendes Gedächtnis, obwohl es doch wirklich gleichgültig ist, ob das safrangelbe Fräulein Meier heißt und das steingrüne Müller oder umgekehrt.

Und sie beobachten alle mit gleicher Schärfe und Zielbewußtheit ihre Umwelt – – wie lange, scharfe 13 Nadeln stechen ihre Blicke in alle Dinge und durchforschen jede Menschenseele nach ihren geheimsten Gedanken und Gefühlen.

Sie haben zum Beispiel mit Mißbilligung festgestellt, wie der Ingenieur Heinrich Rhode, Direktor einer großen Maschinenfabrik, der einzige Kurgast, dessen Zustand dem Chefarzt einige Sorge bereitete – – wie dieser stille, leise alternde Mann in lächerlicher und unpassender Weise mit einem der blutjungen Hausmädchen verkehrte und sich erst dann auf seine Würde besann, als die verwitwete Frau Elfriede Trautmann mit ihrem zehnjährigen Buben hierherkam. Und sie wissen von jedem Spaziergang, den der Ingenieur mit Frau Trautmann macht, und finden es sehr taktvoll von ihr, daß sie den kleinen Wolfgang immer mitnimmt.

Was Professor Scheidemantel betrifft, so sucht er hier in der frischen Waldluft die Befreiung von einem kleinen, unbedeutenden Halsübel, Folge beruflicher Überanstrengung in staubigen Schulzimmern. Er ist dank der trefflichen Methode Burmester vollkommen geheilt, und wenn er den Damen Regenfeld, an deren Tisch er zu sitzen pflegt, nach alter Couleurgewohnheit zutrinkt und dabei ruft: »Es lebe die edle Weiblichkeit!« so hallt es laut und freudig von der Decke zurück; dann lächelt Mama Regenfeld mit mütterlichem Wohlwollen – – sie lächelt selten, denn sie ist sehr nervös und sehr schwer zu behandeln und gibt nur 14 zögernd eine kleine Besserung ihres Befindens zu, obgleich sie die Kur schon lange gebraucht und recht stark geworden ist. Sie leidet an chronischem Rheumatismus und an zwei unverheirateten Töchtern und sucht für beide Übel Heilung, jeden Sommer in einem anderen Kurort.

Es gibt kein ungleicheres Schwesternpaar: schlank und rank die eine, die andere klein, verschüchtert, in sich zusammengeschlüpft, unscheinbar wie ein Mäuschen. Das Fräulein Aura – – sie heißt eigentlich Aurelie. aber niemand darf sie so nennen – – trägt den Kopf mit dem prächtigen rotblonden Haar stolz und frei und mit einem schmalen Reifen aus gehämmertem Silber geschmückt; ihre Lippen sind rot und voll, und die grauen Augen blicken sehr wissend in die Welt. Die kleine rundliche Helene, erst achtzehn Jahre alt, braun, schweigsam, unbeholfen, versinkt neben ihr zur Belanglosigkeit eines Kindes.

Daß Professor Scheidemantel von seinem Halsleiden geheilt ist, gereicht der ganzen Sommergemeinde von Magdalenenbad zu hoher Freude. Denn er trägt nicht umsonst den Zufallsnamen eines sehr gefeierten Sängers, von dem freilich die heutige Generation nichts mehr weiß; er besitzt einen wunderschönen, gefühlvollen Bariton, und oft hört man im Konversationszimmer, das zugleich Musikraum ist, die Lieder der »Schönen Müllerin«, den »Wanderer«, das »Ständchen« von Schubert, oder »Tom den Reimer« 15 und sogar moderne Gesänge von Richard Strauß und Hugo Wolf.

Aber am schönsten und gefühlvollsten singt er, wenn ihn das rotblonde Fräulein auf dem Klavier begleitet. Sie musizieren oft zusammen, und dann steht immer die Maus, klein, rundlich und verschüchtert, hinter der angelehnten Türe und lauscht voll Andacht. Wenn das Lied zu Ende ist, bedankt sich Professor Scheidemantel sehr artig für die Begleitung bei Fräulein Aura – – manchmal sagt er bloß Aura zu ihr, und dann duftet und klingt und leuchtet der seltsame Name wie eine tropische Blume im weißen Mondlicht.

Denn Herr Professor Scheidemantel und das Fräulein Aura – – doch nein, das gibt ein Kapitel für sich . . . 16

 


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