Gustav Theodor Fechner
Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen
Gustav Theodor Fechner

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Vorwort.

Ich gestehe, einiges Bedenken getragen zu haben, den so ganz träumerisch erscheinenden, im friedlichsten Naturgebiete liegenden Gegenstand, den ich folgends behandeln werde, zu einer Zeit zur Sprache zu bringen, wo der großartige Drang und Gang der Zeit jedes, auch des sonst Friedlichsten, Aufmerksamkeit und Interesse so überwiegend und in bezug auf Gegenstände von so viel größerer Bedeutung in Anspruch genommen. Verlange ich denn nicht, daß man das bisher in stillster Zeit nie gehörte Flüstern der Blumen jetzt beim Rauschen eines Windes zu hören beginne, der ältestbewurzelte Stämme zu stürzen vermag, daran glauben, darauf achten lerne zu einer Zeit, wo die lauteste Menschenstimme es schwer findet, zur Geltung zu kommen oder solche zu behaupten. Auch hat diese Schrift schon längere Zeit fertig und müßig gelegen.

Indes las ich einmal, wie bei mancher Art Taubheit leise Stimmen gerade um so besser vernommen werden, je lauter zugleich eine Trommel gerührt wird. Die Erschütterung, die ein waches Ohr betäubt, erweckt das schlafende. Nun weiß ich wohl, daß die Trommel der Zeit nicht zugunsten der leisen Stimmen der Blumen gerührt wird; aber könnte sie dem Hören dieser Stimmen nicht auch zustatten kommen? Wie lange war unser Ohr taub dagegen, oder vielmehr, wie lange ist es her, daß es taub dagegen geworden; und wird es nun nicht um so leichter wieder von diesen verschollenen Stimmen einer frühen Jugendzeit gerührt werden, je fremdartiger und neuer sie in das Rauschen hineinklingen oder davon abklingen? Ja bin ich zu kühn, wenn ich es möglich halte, daß das ungekannte, leise Spiel, das sich hier entfalten wird, manchem wie ein vorgegriffener Akkord aus einer frischen Jugendzeit erklingen werde, die dereinst im Wissen wie im Tun aus dem Grabe erblühen muß, in das mit schon hörbarem Rollen die alte Zeit versinkt?

Zu dieser Betrachtung, durch die ich mich selbst zu ermutigen suchte, trat der Gedanke, daß, nachdem der erste Drang des unmutig gewordenen Zeitgeistes, wenn nicht beschwichtigt, doch in seiner Spannung etwas nachgelassen, und die längere Dauer der Bewegung selbst schon hier und da das Bedürfnis nach Wechsel und Ruhepunkten hervorgerufen, ein Zurückkommen auf stillere Interessen auch hier und da genehm erscheinen könnte. Wird nicht mancher selbst von denen, die das Treiben in der Menschenwelt hart angegangen, auch einmal gern kurze Zeit einen Ruhepunkt suchen in einer anderen Welt, unter Wesen, die sich still befriedigt zu seinen Füßen schmiegen, deren keins ihn selber, keins das andere drängt, und die nur so viel sprechen, als er selber sie sprechen lassen will? In solche Welt will ich den Leser führen und will selber den kleinen Wesen vorantreten und ihren Dolmetsch machen, auf daß, nachdem alles Volk seine Vertreter gefunden, auch dieses Völklein dessen nicht entbehre. Nur wem es willkommen ist, braucht ja der Einladung zu folgen.

Vielleicht findet man das Titelwort dieser Schrift gesucht; es ist aber in der Tat bloß gefunden. Da ich derselben zu kürzester Bezeichnung einen Eigennamen vorzusetzen wünschte, wählte ich eine Zeitlang zwischen Flora und Hamadryas. Jener Name schien mir doch zu botanisch, dieser etwas zu steif antiquarisch, dazu bloß auf das Leben der Bäume gehend. Endlich stand doch Flora auf dem Titel, als mir in Uhlands Mythos von Thor (S. •147. 152) folgende Stelle begegnete, die mir so viel Anmutiges zu enthalten scheint, daß ich mir nicht versage, sie ganz herzusetzen, zumal sie so manchen näheren Bezugspunkt zum Inhalt unserer Schrift enthält.

"Nanna, Baldurs (des Lichtgottes) Gattin, ist die Blüte, die Blumenwelt, deren schönste Zeit mit Baldurs Lichtherrschaft zusammentrifft. Dafür spricht zunächst der Name ihres Vaters Nep (Nepr), Knopf, Knospe; Tochter des Blütenknopfes ist die Blume.. . Bei Saro entbrennt Baldurs Liebe zu Nanna, als er ihre glänzende Schönheit im Bade sieht; die entkleidete, badende Nanna, von Baldur belauscht, ist die vom Licht erschlossene, frischbetaute Blüte; die Poesie des Altertums denkt sich den zartesten Blumenglanz nie anders als vom Tau gebadet. Mit der Abnahme des Lichtes geht auch das reichste, duftendste Blumenleben zu Ende. Als Baldurs Leiche zum Scheiterhaufen getragen wird, zerspringt Nanna vor Jammer; dieser Ausdruck ist auch sonst für das gebrochene Herz gebräuchlich; er eignet sich aber besonders für die zerblätterte Blume. Aus Hels Behausung (der Unterwelt), wo Nanna mit Baldur weilt, sendet sie den Göttinnen Frigg und Fulla Geschenke, ersterer ein Frauentuch, letzterer einen goldenen Fingerring. Frigg ist die Göttin, die über der ehelichen Liebe waltet, darum erhält sie das Schleiertuch, das auch sonst als Abzeichen der Hausfrau vorkommt. Fulla, Friggs Dienerin und Vertraute, mit den jungfräulich flatternden Haaren, ist die vollgewachsene bräutliche Jungfrau, daher geziemt ihr der Verlobungsring. Schleier und Goldring, welche Nanna noch aus der finsteren Unterwelt zum Gedächtnis heraufschickt, sind wohl nichts andres als Blumen des Spätsommers. Wie man Thiassis Augen und Orvandils Zehe unter die Gestirne versetzte und nach Friggs hausfräulichem Rocken ein Sternbild schwedisch Friggerock benannt ist, so wurden auch Blumen- oder Pflanzennamen der Götterwelt entnommen: Baldurs Braue, Tys Helm, Thors Hut, Sifs Haar, Friggs Gras, daran sich nun Friggs Schleier und Fullas Fingergold anreihen mögen. Das bunte Spiel der norwegischen Wiesenblumen ist berühmt; ein kurzer, doch heißer Sommer läßt sie in seltner Fülle und Mannigfaltigkeit erblühen ... — So wie Thor den übrigen Göttinnen der schönen und fruchtbaren Jahreszeit, Freyja, Idun, Sif, befreundet ist und sich ihrer tätig annimmt, so muß ihm auch der Tod Nannas, des lieblichsten Schmuckes der von ihm beschützten Erde, nahe gehen, und er äußert seinen trotzigen Unmut, indem er ihr den Zwerg Lit, der ihm vor die Füße läuft, in das Feuer nachwirft. Lit (Litr), die Farbe, der reiche, frische Schmelz des Frühsommers muß mit hinab, wenn Baldur und Nanna zu Asche werden."

Da es nun Zweck dieser Schrift ist, die Pflanzen in einer allgemein gottbeseelten Natur als eines individuellen Anteils dieser Beseelung wieder teilhaftig erscheinen zu lassen und insbesondere ihren Verkehr mit dem Lichtgotte Baldur zu Schildern oder, kürzer und einfacher, ihnen eine eigene Seele beizulegen und ihren Verkehr mit dem Lichte psychisch auszulegen; — da auch sonst das deutsche Wesen sich jetzt verjüngen, wieder selbstwüchsig werden und den, ach nur zu schönen, antiken Zopf abstreifen will, so schien mir die alte wälsche Heidin Flora der jungen deutschen Göttin Nanna wohl weichen zu müssen. Hat doch ohnehin schon seit langem die erstere ihren einen Fuß ganz im Grabe der Herbarien gehabt, und bald wird wohl das ganze fremde Altertum sich in die Särge der Geschichte zur Ruhe geben. Eine heimische Geisterwelt, wolle Gott auch wieder göttliche Welt, möge dafür aus dem heimischen Boden hervorsteigen und Nanna mit im Vortritt die neue Blütezeit bedeuten.

Die Möglichkeit einer triftigen Lösung unserer Aufgabe vorausgesetzt, mag es doch vielleicht manchem scheinen, daß kein so großer Aufwand dazu hätte gemacht werden sollen, als hier geschehen ist. In der Tat muß ich es noch dahinstellen, ob das Interesse anderer mir so weit wird zu folgen vermögen, als die eigne Liebe zur Sache mich geführt hat. Inzwischen, da es hier die ernsthafte Begründung einer Ansicht galt, die jetzt noch ebensowohl die gemeine als wissenschaftliche Meinung gänzlich gegen sich hat, und der Gegenstand gar mancherlei Seiten und Angriffspunkte darbietet, hatte eine zu kurze Behandlung dem Zwecke nicht entsprochen. Man dürfte überdies bald finden, daß die Frage, um die es sich hier handelt, kein so vereinzeltes Interesse hat, als es vielleicht für den ersten Anblick scheinen möchte. Ob die Pflanzen beseelt sind oder nicht, ändert die ganze Naturanschauung, und es entscheidet sich mit dieser Frage manches andere. Der ganze Horizont der Naturbetrachtung erweitert sich mit Bejahung derselben, und selbst der Weg, der dazu führt, bringt Gesichtspunkte zutage, die in die gewöhnliche Betrachtungsweise nicht eintreten.

Schleiden sagt in der Einleitung zu seiner Schrift über die Pflanze (S. 2):

"Ich versuchte zu zeigen, wie die Botanik fast mit allen tiefsten Disziplinen der Philosophie und Naturlehre aufs engste zusammenhängt und wie fast jede Tatsache oder größere Gruppe von Tatsachen geeignet ist, so gut in der Botanik wie in jedem anderen Zweige der menschlichen Tätigkeit die ernstesten und wichtigsten Fragen anzuregen und den Menschen vom Sinnlichgegebenen auf das geahnte Übersinnliche hinzuführen."

Man wird wohl glauben, daß, wenn die Betrachtung der materiellen Seite des Pflanzenlebens einer solchen Bedeutung sich rühmen darf, um so mehr die Betrachtung der ideellen Seite sie in Anspruch nehmen wird. Ich erlaube mir daher, jene Worte nur mit der Änderung auf meine Schrift anzuwenden, daß ich, anstatt die überflüssig sich darbietenden Bezugspunkte unseres Gegenstandes zur Philosophie mit Vorliebe zu verfolgen, vielmehr der, nur zu großen, Aufforderung dazu mit der größtmöglichen Zurückhaltung zu begegnen suchen werde; da ich in der Tat glaube, daß das Maßhalten in dieser Beziehung hier eher Dank verdienen werde. Noch einige Worte hierüber in folgendem Eingange der Schrift!

Was mit beigetragen hat, den Umfang dieser Schrift zu vergrößern, war der Wunsch, mit Darlegung der Gründe für unsere Ansicht eine Darlegung der tatsächlichen Umstände zu verbinden, welche für die Entscheidung unserer Frage überhaupt von Belang zu sein versprechen. Unstreitig wird der Gesichtspunkt, aus welchem diese Zusammenstellung hier versucht worden, falls er anders als gültig erachtet werden sollte, nur beitragen, das Interesse, welches die hier einschlagenden Tatsachen schon sonst besitzen, zu vermehren; aber auch abgesehen hiervon dürfte die kleine Sammlung derselben, als Stoff für jede sinnige Betrachtung des Pflanzenlebens überhaupt, manchem nicht unwillkommen sein; und ich habe in diesem Interesse, ohne den Bezug zu unserm Gegenstande zu überschreiten, doch ein etwas reicheres Material gegeben, als zum bloßen Genügen für denselben erforderlich gewesen sein würde (vergl. besonders den 7ten, 8ten, 9ten, 11ten und 12ten Abschnitt) Botaniker von Fach freilich werden, statt einer Vermehrung, nur eine Benutzung ihrer Schätze hier finden, um die es aber auch hier nur zu tun sein konnte.

Was wird zuletzt der Erfolg dieser Schrift sein?

Entschlage ich mich aller poetischen Illusionen, so denke ich, folgender:

Ein junges Mädchen von meiner Bekanntschaft hat nicht über alles die triftigsten Ansichten. Man gibt sich nun wohl Mühe, durch bestmögliche Darlegung von Gründen sie eines Triftigeren zu belehren. Sie hört die Gründe an oder auch nicht an, und sagt zuletzt einfach: "wenn auch!" und bleibt bei ihrer Meinung.

Meine Gründe mögen gut oder schlecht sein; man wird wohl auch sagen: "Wenn auch!"

Aber, wenn auch! — Hegte ich nicht einige Hoffnung, es könnte doch wenigstens das Gefühl des jungen Mädchens bestochen werden, das, wie nun junge Mädchen sind, stets bei ihr dem Verstande vorausläuft, so würde ich freilich alle Mühe sparen. Sollte aber dies gelingen, so würden nachher auch alle Gründe vortrefflich klingen. Unter dem jungen Mädchen aber meine ich die junge Zeit.

d. 24. August 1848.


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