Gustav Theodor Fechner
Nanna oder Über das Seelenleben der Pflanzen
Gustav Theodor Fechner

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XVIII. Noch einige gelegentliche Gedanken.

Nachdem ich die Arbeit abgeschlossen, will ich mich vor die Tür setzen und noch ein wenig plaudern von einem ins andere.

Gar wohl erinnere ich mich noch, welchen Eindruck es auf mich machte, als ich nach mehrjähriger Augenkrankheit zum ersten Male wieder aus dem dunklen Zimmer ohne Binde vor den Augen in den blühenden Garten trat Das schien mir ein Anblick schön über das Menschliche hinaus, jede Blume leuchtete mir entgegen in eigentümlicher Klarheit, als wenn sie ins äußere Licht etwas von eigenem Lichte werfe. Der ganze Garten schien mir selber wie verklärt, als wenn nicht ich, sondern die Natur neu erstanden wäre; und ich dachte, so gilt es also nur, die Augen frisch zu öffnen, um die altgewordene Natur wieder jung werden zu lassen. Ja man glaubt es nicht, wie neu und lebendig die Natur dem entgegentritt, der ihr selbst mit neuem Aug’ entgegentritt.

Das Bild des Gartens begleitete mich ins dämmrige Zimmer zurück; aber es ward im Dämmerlicht nur heller und schöner, und ich glaubte auf einmal ein inneres Licht als Quell der äußeren Klarheit an den Blumen zu sehen, und Farben darin sich geistig auswirken zu sehen, die nur durchschienen in das Äußere. Damals zweifelte ich nicht, daß ich das eigene Seelenleuchten der Blumen sähe, und dachte in wunderlich verzückter Stimmung: so sieht es in dem Garten aus, der hinter den Brettern dieser Welt liegt, und alle Erde und aller Leib der Erde ist nur der abschließende Zaun um diesen Garten für die noch Draußenstehenden.

Stelle dir einmal vor, du hättest eine halbjahrlange Nacht am Nordpol zugebracht, und in der langen Zeit fast vergessen, wie ein Baum, eine Blume aussieht, nur immer öde Schnee- und Eisfelder gesehen, und würdest plötzlich in einen von mildem Licht beschienenen blühenden Garten versetzt und ständest etwa, wie ich, zuerst vor einer Zeile hoher Georginen, würdest du sie nicht auch wunderbar leuchten finden und ahnen, hinter diesem Schmuck, diesem Glanz, dieser Freude sei etwas mehr als gemeiner Bast und Wasser?

Jenes helle Bild verblaßte, wie so manches, was in jener ersten Zeit mein äußeres und inneres Auge mit einer Art Schauern rührte, die in den vom täglichen Genuß des Lichtes abgeftumpften Sinn nicht mehr fallen; die Pflanzen wurden, wie sich mein Auge gewöhnte, wieder zu den gewöhnlichen, irdischen, nichtssagenden, vergeblichen Wesen, die sie für alle sind, bis in dem träumenden Blick auf die Wasserlilie sich die Blumenseele von neuem lebendig vor mich stellte und mich des Geschäftes bestimmter mahnte, das ich nun erfüllt. Gewiß aber war ein Nachhall aus jener ersten Zeit dabei; und so, glaube ich, wäre dies Buch schwerlich geschrieben worden, wenn nicht mein Auge dereinst in Nacht gelegt und dann so plötzlich wieder dem Lichte zurückgegeben worden.

Nun habe ich manche Stunde damit zugebracht, was mir so in ein paar hellen Scheinen ins Gemüt gefallen, auch dem Verstande klar und anderer Gemüt zugänglich zu machen, und manch Sinnen nicht ohne Mühen hat es mich gekostet, ob ich’s erreichen möchte. Wie viel gab’s da auseinander- und wieder zusammenzulegen. Und hatte ich erst die Geister der Blumen gefaßt, fingen sie jetzt an mich zu fassen, und ließen mich nicht wieder los, und zwangen mich, den oft anders hin Wollenden, in ihrem Dienst zu bleiben; und wenn ich heute das Werg abgesponnen, das sie mir an den Rocken hingen, fand ich morgen wieder neues daran. So ist der Faden nun so lang geworden.

Nun aber freue ich mich, das Ende um die Spindel geschlungen zu haben, und hefte nur noch zu guter Letzt ein paar Bänder an, ins Freie zu flattern, mit dunklen und lichten Farben, wie es der Tag eben geboten, des Ernstes und der Heiterkeit der ganzen Arbeit Zeichen.

Ich kam heute zu einem Begräbnis hinzu: Ein Prediger stand am Grabe auf dem Hügel frisch ausgegrabener Erde und redete über den Spruch (Kor. I. 15, 36–37): "Das du säest, wird nicht lebendig, es sterbe denn. Und das du säest, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, nämlich Weizen oder der andern eins." Zwei lange Palmzweige, vom Sarg abgenommen, lehnten innen am Geländer, das die Grabstätte umgab, und wehten mit grünen Fahnen hoch über die schwarzen Gitterstäbe hinaus; viel Blumenkränze, die auch zuvor den Sarg geschmückt, hingen an den Gitterstäben umher. Der Redner pries laut die Tugenden des Verstorbenen; indes flog eine Biene an den Kränzen herum, leis, doch wie unmutig summend, in allen Blumen suchend, in keiner mehr findend, was sie suchte; denn die Quellen des Duftes und der Süße waren versiegt; ein Schmetterling aber schwang sich, unbekümmert um die verdorrenden Quellen seiner früheren Freuden, über die Kirchhofsmauer ins Weite. An einem Kranze sah ich Tropfen hängen, ihn frisch zu erhalten, und in ein paar Augen Tränen, die wohl dort und hier bald trocknen mochten; dann welkten Blumen und Erinnerungen. Eine Trauerweide schattete über das benachbarte Grab, ihre Wurzeln aber reichten zerstochen ins frische Grab; sie sollte neu und nicht umsonst zu trauern scheinen. Eine weiße Tafel, von grünem Efeu umsponnen, nannte das Geschlecht derer, die sich hier zu ihren Vätern sammelten. So beging die Pflanzenwelt das Begräbnis eines Menschen mit.

Es fiel mir ein, indem ich das betrachtete, wie viel unbewußte Symbolik doch hier in die bewußte des Menschen hineinspielt; und dann, wie es eigen sei, daß, während der Mensch selbst so wenig sich das Sterben der Pflanzen zu Herzen nimmt, sie dafür sich so sehr bei seinem Sterben beteiligen. Geht doch auch die Frucht Zitrone und das Kraut Rosmarin mit zu Grabe; folgt doch mancher grüne Kranz dem jungen Mädchen in das Grab selbst mit; muß doch jedesmal ein Baum sterben, um mit seiner Leiche die Leiche des Menschen einzuschließen und damit zu verwesen. Nun weiß aber die Pflanze doch nichts davon, daß es bei dem, was sie hier mittut und mitleidet, den Tod einer Menschenseele gilt, wie der Mensch nichts davon weiß oder wissen will, daß mit den Pflanzen auch Pflanzenseelen hierbei ins Spiel kommen. Ja greift nicht überhaupt Leben und Sterben der Menschen- und Pflanzenwelt allwärts durcheinander, und doch kennen und grüßen sich die Seelen beider Reiche nicht, wie Menschen, die eine und dieselbe große Stadt bewohnen, sich durcheinander drängen und treiben, ohne einander zu rennen und zu grüßen. Ist das nicht ein traurig zersplittert Wesen im Seelenreiche? Jawohl traurig, wenn es so ist, wie wir es uns zumeist denken. Aber ich denke, ein höheres Wissen wird’s wohl geben, das der Menschen- und Pflanzen- und aller Seelen Schicksal in Beziehung miteinander denkt, ja selber in Beziehung setzt. Für dieses Wissen wird es sich weniger darum handeln, wie die Palmzweige, Kränze, Blumen, Bäume, Bienen, Schmetterlinge sich äußerlich zum Sarge und zum Grabe ausnehmen, sondern wie die Seelen der Palme, der die Zweige genommen, und der Blumen, die zu Grabe mitgehen, und der Bäume, die das Grab umstehen, und der Blumen, die wieder über dem Grabe erwachsen werden, und der Bienen und Schmetterlinge, die um und über den Blumen fliegen, sich zur Menschenseele in ihrem Heimgange ausnehmen. Und wie diesem wissenden Wesen das Schauspiel am genehmsten dünkt, wird es von ihm geordnet werden im Schauen von Angesicht zu Angesicht. Wir aber sehen alles nur stückweis wie durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, und wenn ein symbolischer Lichtschein davon in unsere Seele fällt, meinen wir nun gar, er sei aus unserer Seele herausgefallen.

Nicht überall zwar spielen Blumen, Pflanzen dieselbe Rolle beim Tode des Menschen wie bei uns. Wilde Völker schlachten statt Blumen, Pflanzen, vielmehr Pferde, Schafe, Hunde auf dem Grabe oder opfern sie in das Grab. Aber da mag’s eben liegen. Einer großen Herrin ziemt’s überhaupt nicht, ohne untergeordnetes Gefolge in fremdes Land zu reisen. So soll auch die Herrin der Erde, die Menschenseele, nicht ohne Gefolge anderer niederer Seelen ins Himmelreich reisen. Nun nimmt sie hier Tier-, dort Pflanzenseelen mit. Aber warum bei uns eben Pflanzenseelen? Ist’s etwa darum, daß im Christentum zwar von einem Paradiesgarten jenseits die Rede ist, aber nicht von Tieren darin? Nun soll jede Menschenseele auch ihren Beitrag von Blumenseelen dazu mitbringen. Um Tiere ist es nicht zu tun. Nur der Schmetterling muß symbolisch mitfliegen, es möchte den Blumenseelen sonst im Garten droben gar zu einsam werden; und der Himmel soll doch auch für sie ein Himmel sein.

Auch bei den Griechen ging es etwas anders her als bei uns. Da Leib und leibliches Leben selbst bei ihnen noch eine blühende Bedeutung hatten, da legte man auch den Leib des Menschen selber wie eine Blume oben auf das Holz, und Baum und Leib gingen zusammen in feurigen Flammen gen Himmel zum Wohnsitz der Götter. Bei uns, wo die Ansicht von Leib und Leben selbst verholzt ist, schließt man auch den Leib wie einen toten Wurm in das tote Holz zur Speise anderer Würmer, und legt nur äußerlich Blumen auf Sarg und Grab. So ging es vom Leben bis in den Tod hinein so viel schöner bei den Griechen zu als bei uns. Doch nur so viel schöner sinnlich, indes wohl manches dafür bei uns sinnig schöner zugeht

Hierbei fällt mir das schöne Totenfest ein, das jährlich in Leipzig in Johannis begangen wird. Da geht jeder, der jemand auf dem Kirchhof schlafen hat, dessen er noch in Liebe denkt, hin, sein Grab zu kränzen; und wer keins zu bekränzen hat, geht hin, die Kränze und die Kränzenden zu sehen. Da wird auf dem sonst einsamen Acker alles bunt und rege und drängt sich durcheinander und kommt und geht, eine lebendige Gesellschaft über der stillen. Erst abends wird’s auch oben wieder still und leer; nur die Kränze bleiben, ihrer Bestimmung eingedenk zu welken.

Wie viel schöne Girlanden und Kränze kann man da sehen. Wie auf einem Balle die Lebendigen sich im Schmucke überbieten möchten, so versuchen es jetzt die Gräber. Aber der schönsten Blumen und Kränze vergißt man bald; wer kann sich der einzelnen erinnern? Nur eines einfachen Kleeblümchens kann ich nicht vergessen, das wir nach so vielen reich geschmückten Gräbern auf einem grünen Grabe einsam liegend begegnete. Die Seele war sicher anders als die anderen, die unter all dem reichen Schmuck dem bescheidenen Blümchen seine Stelle gab.

Ich möchte nicht gern mit Grabgedanken schließen, und so erinnere ich mich nun gern daran, wie die Pflanzen ja nicht bloß an leidigen, sondern auch freudigen Begegnissen der Menschenwelt so viel Teil nehmen und wie der Mensch selbst ihnen so viel von seiner Lust verdankt. Soll man nicht sagen, das ganze Pflanzenreich schlinge sich wie eine schöne Arabeske um und zwischen das Menschenreich durch? Der Mensch selbst wächst mit aller Pracht seiner Gewänder und allem kunstreichen Gerät wie halben Leibes von unten aus der Pflanzenwelt hervor; und von oben wachsen wieder Blumen und Trauben der darnach langenden Hand, dem verlangenden Munde entgegen. Und über all diesem schwebt der schönste Duft poetischer Beziehungen.

Wo gibt es ein Fest, das nicht Blumen verschönerten, wo ein Gedicht, dem sie nicht Bilder liehen, wo ein Geschenk, dessen Wert sie nicht durch Verzierung zu mehren vermöchten? Die Myrte bringt den Kranz, die Braut zu schmücken; die Blumen kommen aus allen Gärten herbei, sich ihr zu Füßen zu legen; die Türen umwinden sich mit bunten Blumenbehängen, sie durchzulassen; der Hochzeitsbitter brüstet sich mit dem Strauß in seinen Händen; auf der Tafel warten wieder Blumen auf; und abends beim Tanze noch wie manche Blume an der Brust und in dem Haar. — Der Lorbeer waltet der besten Ehren, Vergißmeinnicht erinnert ans Erinnern; Schneeglöckchen lockt die Kinder zum ersten Male in den grünen Wald; die erste Aster sagt: nun kommt der Herbst; die Linde deckt ein grünes Dach über den Tisch vor dem Hause; die Eiche ruft den Deutschen noch im fremden Lande als ihren Landmann an. Die Tanne wirft ihre Tannenzapfen weg und tritt mit goldenen Äpfeln und Lichtern und noch wie viel schönen Gaben in den Saal. So möge sie nun auch zu diesem heiligen Christ den Schönsten das Schönste, den Besten das Beste, den Ärmsten das Meiste bringen.

Alle Pflanze aber in ihrer Niedrigkeit bleibe dessen gedenk, daß sie ein Gewächs ist von Gott und vor Gott, das seine Freiheit nur hat im Bande und sie nur brauchen soll im Verbande.


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