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Je mehr mir in der Poesie eine neue Welt aufgegangen war, je weniger konnte mir der untergeordnete Dienst im Hofstaat der Frau Musika noch zusagen. Oft seufzte ich unter der Last des Stundengebens, konnte sie aber nicht abwerfen, da meine literarischen Einnahmen nicht ausgereicht haben würden, eine Familie auch nur notdürftig zu ernähren. Gehen junge, alleinstehende Leute mutig ins Ungewisse, so ist das zu loben, vorausgesetzt, daß sie mit den nötigen Fähigkeiten ausgerüstet sind, worüber sie sich allerdings oft einem gefährlichen Selbstbetrug hingeben. Ich aber als Familienvater mußte den Kampf zwischen Sehnsucht und Pflicht vorläufig weiterkämpfen. So gab ich mit manchem heimlichen Seufzer meine Stunden weiter.
Als nun eines Tages ein junges Mädchen mit dem Wunsch zu mir kam. Literaturstunden zu nehmen, worunter sie freilich nichts anderes verstand, als eine Korrektur ihrer eigenen Verse, und eine weitere Unterweisung im Dichten, tauchte in mir der Gedanke auf, den reiferen unter meinen Musikschülerinnen literarische Vorträge zu halten. Eine Umfrage fand regeres Interesse, als ich vermutete, und bald hatte ich einen Zirkel junger Hörerinnen, die ich wöchentlich einmal in meiner Wohnung versammelte, um sie mit den Schätzen unserer deutschen Lyrik bekannt zu machen.
Unter ihnen war ein Mädchen, das ich seit seinem sechsten Jahr im Klavierspiel unterrichtet hatte, und das mir, obgleich ihre musikalischen Fähigkeiten nur gering waren, durch die Anmut ihres Wesens und die Lieblichkeit ihres Betragens im Laufe der Zeit so an das Herz gewachsen war, daß ich mich unversehens mitten in einer zärtlichen Leidenschaft für sie befand. Sie war nun achtzehn Jahre alt, schlank, mit einem lieben, hübschen Gesicht, das eine sich immer gleich bleibende gewinnende Freundlichkeit verschönte. Große graue Augen sahen rein und treu in die Welt, konnten aber auch schelmisch lachen.
Dieses liebe Wesen warf einen hellen Sonnenschein über die grauen Tage meines Frondienstes am Klavier. Ich freute mich auf die Stunden, wo sie am Klavier erschien, und sie wurde zu meiner jungen Königin und beherrschte mein Denken, das zuletzt wie ein willenloses Rad um diese Achse kreiste.
Sie hatte einiges Talent zum Malen, und was sie hervorbrachte, gefiel meinen voreingenommenen Augen. Ich suchte meine eigenen Malkünste hervor, und war glücklich, mich mit ihr in der gleichen Tätigkeit zu bewegen. Da sie mir voraus war, und weil es meiner Natur widerstrebte, ins Blaue hinein zu dilettieren, nahm ich Unterricht, und bewog einen jungen tüchtigen Künstler, der einst als Knabe mein Klavierschüler gewesen war, mich zu unterweisen. Er nahm aus Freundschaft und Gefälligkeit einen so alten Schüler in die kehre, und führte mich hinaus und zeigte mir, wie man die Natur mit Wasserfarben aufs Papier brachte. Da saß ich vor einem einsamen Baum auf weiter Koppel und verbrauchte viel Wasser und Grün und war zwischendurch eifrig bemüht, die Kühe abzuwehren, die neugierig herbeikamen und mein Kunstwert bestaunten. Als mein Meister mich hernach vor ein Teichmotiv führte, vor dem auch meine kleine Freundin ihre Kunst erprobt hatte, genoß ich bei jedem Pinselstrich ein besonderes Glück. Was ich so zustande brachte, war wirklich mit Liebe gemalt, und daß es nicht besser ausfiel, hatte andere Ursache, als Mangel an Fleiß und Vertiefung.
Mit lächelndem Verstehen und Gewährenlassen sah meine Frau dieser wunderlichen Liebe zu. Güte und Klugheit, diese beiden Haupttugenden des Weibes, waren die Schutzwehr, woran sie den Aufruhr sich brechen ließ.
Allmählich legte sich die wilde Flut, ein letztes Gewölk verflatterte, und die Sonne trat wieder am klaren Himmel hervor.
Ich aber befreite mich von dem letzten Rest dieser späten Liebe, indem ich den Poeten zu Hilfe rief. Er war nicht ganz unschuldig an der Anzettelung dieser Geschichte und mochte nun auch das Seine zum Guten beitragen. Und eines Abends sagte ich zu meiner Frau: »Du, ich möchte dir etwas vorlesen.«
»Ein Märchen.«
»Ein Märchen? Nun laß hören.«
Und ich setzte mich, so daß der grüne Schirm der Lampe zwischen uns war, und begann:
Es war einmal ein König, der hieß Klaus, der hatte eine Frau, die hieß Hanne. Die lebten glücklich und zufrieden. Ihr Königreich war nur sehr klein, nicht ganz so klein wie ein Hühnerei, aber auch lange nicht so groß wie Rußland. Darum mußten sie sich sehr einzurichten, sparsam wirtschaften und jeden Pfennig dreimal umkehren, ehe sie ihn ausgaben. Das taten sie denn auch. Und da sie sich sehr lieb hatten, keinen Hunger litten und sich nicht mehr Gedanken machten, als nötig und zuträglich, lebten sie tatsächlich wie die Könige, und ihr Vetter, der Zar von Rußland, mag mehr schlaflose Nächte gehabt haben als sie.
So klein nun auch ihr Königreich war, und so versteckt es lag, der Storch fand es doch. Er brachte ihnen ein niedliches Töchterchen, biß die Frau ins Bein und sagte: »Wohl bekomm's« und »Vergiß mich nicht.« Dann erhob er sich in Kirchturmshöhe und flog weiter. Der König aber stand am Fenster und sah ihm lange nach. »Du gutes Tier,« sagte er leise, »nun mußt du uns auch noch einen Jungen bringen.«
Hätte er es nur etwas lauter gesagt, denn es dauerte drei Jahre, bis der Storch es hörte. Aber das gehört eigentlich noch nicht hierher. Man soll nicht vorgreifen, auch dem Storch nicht.
Nun begab es sich leider, daß die Königin kränklich wurde; sie hustete, ward täglich magerer, und der Arzt sagte, sie müsse ins Bad.
»Ja,« sagte der König, »das soll sie. Ich hab' sie so lieb, daß sie das soll.«
Und dann dachte er lange nach, und dazu hatte er alle Ursache. Denn erstens gab es im ganzen Königreich kein anderes Bad als die Badewanne der Prinzessin, die meinte aber der Arzt nicht, und zweitens kostete eine Badereise Geld, und nun gar eine über die Grenze. Woher sollte er das Geld nehmen?
»Hm,« sagte der Arzt und zuckte die Achsel.
»Ja,« sagte der König und zuckte die andere Achsel.
»Dann lassen Sie Ihre Frau Lebertran nehmen,« sagte der Arzt.
»Nein,« rief die Königin, »Lebertran mag ich nicht. Lieber gehe ich ins Bad.«
Da suchten sie alle ihre Pfennige zusammen, sparten sich das übrige vom Munde ab, und die Königin kam ins Bad.
Da hatte der König nun lange Tage. Er hätte mit der Köchin sechsundsechzig spielen können. Aber die Köchin schielte, und mit Leuten, welche einen nicht gerade ansehen können, spielt man nicht gerne Karten.
Mit einem Pustrohr Erbsen zu verschießen, hätte ihm wohl Spaß gemacht, aber er fürchtete Grenzstreitigkeiten. Krieg um eine verschossene Erbse?
Da machte der König Verse. Das ist eine angenehme Beschäftigung. Die Zeit geht damit hin und man ist glücklich und zufrieden.
Der König war es auch. Hatte er einen Bogen voll, fing er einen neuen an, und alles reimte sich, daß es eine Freude war.
Nun wohnte in der Nachbarschaft schon seit langem ein kleines Mädchen, das hieß Mitimiti und war sehr niedlich und war munter und aufgeweckt, und der König hatte es immer gerne gehabt. Er hatte ihr Blumen geschenkt, hübsche Bücher und Bilderchen, was er gerade hatte, und Mitimiti hatte alles mit »herzlichem Dank« angenommen. Aus dem kleinen Mädchen war aber mit der Zeit ein großes Mädchen geworden, und als der König nun so viele lange Tage hatte und sich die Welt recht ansehen konnte, sah er, wie groß Mitimiti schon geworden war und wie hübsch.
Wenn doch Zudelmaus auch erst so groß wäre, dachte der König. Aber das hatte noch lange Weile, denn Prinzeßchen Zudelmaus lag noch in der Wiege, und Mitimiti war schon achtzehn Jahre alt und war schön und war schlank und war weiß und hatte wunderhübsch große graue Augen. Wenn man da hineinsah, glaubte man ein Märchen aus Tausendundeine Nacht zu lesen. Und der König hatte von jeher gerne Märchen gelesen.
Mitimiti war aber eine Hexe. Niemand wußte das, auch der König nicht. Und so konnte sie ihn behexen, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Und der König, der sonst ganz harmlos und munter war, wurde auf einmal ganz grillig und wunderlich.
Er bildete sich nämlich ein, die Sonne hätte nicht geschienen, wenn er nicht wenigstens einmal in Mitimitis schöne Augen gesehen hätte. Die Sonne mochte noch so hoch am Himmel stehen, daß alle Leute »Puh« sagten und in Hemdärmeln gingen, für ihn war sie nicht vorhanden. Wenn sich ihm Mitimitis Augen verschlossen, dann war er sehr traurig, machte nur Verse, worin sich weinen auf scheinen reimte und Tränen auf Sehnen und Schmerzen auf Herzen, und aß nicht und trank nicht.
»Der gute König,« sagte die Köchin, »so nahe geht ihm die Trennung von seiner Frau. Möchte der liebe Gott sie doch bald wieder gesund machen!«
Der gute König aber wurde noch viel trauriger, wenn er an die Königin dachte. Er fühlte selbst, wie krank er war, und hoffte, wenn die Königin erst wieder da wäre, würde es besser mit ihm werden. Hatte sie auch keine Märchenaugen, so hatte sie doch sehr schöne, liebe Augen, in die er immer gerne hineingesehen hatte, so recht tief, bis in ihr liebes, gutes, königliches Herz.
Inzwischen suchte er auch wohl Heilung bei Prinzessin Zudelmaus, setzte sich an ihr Bettchen und wiegte sie oder machte dideldideldi und kitzelte sie mit dem Zeigefinger. Aber so recht wollte das nicht helfen. Er dachte zuletzt doch immer wieder, ob Zudelmaus auch wohl so groß und so schön und so klug wird wie Mitimiti. Und dann küßte er Zudelmaus so heftig, daß das Kind laut an zu schreien fing und die Köchin herbeilief und es ihm wegnahm und auf die ungeschickten Mannsleute schalt, die nicht mit kleinen Kindern umzugehen wüßten.
Nun war aber die Königin inzwischen wieder gesund geworden und kam wieder nach Hause. Der König und die Königin umarmten sich.
»Lieber Klaus!«
»Liebe Hanne!«
Als sie sich aber näher ansahen, erschraken sie beide, so blaß und mager waren sie geworden.
Die Königin aber dachte nicht anders, als die Trennung von ihr hätte den König so mitgenommen, und sie wurde ganz gerührt.
»Du armer Kerl,« sagte sie, »was hast du allezeit ohne mich gemacht?« Da wurde der König sehr rot, und da er doch etwas sagen mußte, sagte er: »Verse.«
»Verse?« fragte die Königin. »Ei, wie hübsch. Die mußt du mir alle vorlesen. Heute abend nach dem Tee, wenn die Lampe brennt und Zudelmaus schläft.«
Als sie nun die Verse hörte, sagte sie: »Das sind ja lauter verliebte Sachen. Wie hast du dir das alles so ausdenken können? Man sollte meinen, du hättest das alles erlebt. Ich glaube, lieber Klaus, du bist ein wirklicher Dichter.«
»Hm,« machte der König. Es wurmte ihn, daß das ausgedachte Sachen sein sollten. Aber verraten durfte er doch nichts. Es plagte ihn aber doch, und wes das Herz voll ist, des fließt der Mund über. Da merkte die Königin, wie es mit ihm bestellt war. Sein drittes Wort war Mitimiti. Wenn die Königin von einem neuen Mantel sprach, so fand der König Mitimitis Jäckchen sehr kleidsam. Bemerkte die Königin, daß es regnete, so meinte er, es wäre doch gut, daß es gestern nicht geregnet hätte, als Mitimiti zu ihrer Tante ging. Man konnte vom Nordpol sprechen oder von Schlei mit Butter und Petersilie, Mitimiti war das Ende vom Lied.
Da wurde die Königin sehr traurig.
»Ich will nichts mehr von Mitimtti hören,« sagte sie.
»Aber Frau,« sagte der König, »es ist ja doch alles ganz unschuldig. Ich könnte ja ihr Vater sein. Warum soll ich sie nicht gern haben? Du verlierst doch nichts dabei. Ein Herz ist doch keine Hutschachtel, die ausgefüllt werben kann und dann »Deckel zu«. Ein Herz ist doch – wie soll ich sagen – na ja, ein Herz ist doch keine Hutschachtel.«
Da weinte die Königin ganz laut.
Ob sein Herz eine Hutschachtel wäre oder nicht, das wäre ihr ganz gleich; sie wolle ein für allemal nichts mehr von Mitimiti hören.
Und dann weinte sie noch lauter. Da wurde der König ganz gerührt und küßte sie.
»Es ist ja alles Unsinn,« sagte er. Und dann gab er ihr noch einen Kuß. Es war aber kein Unsinn, sondern es war eine Krankheit. Der König war behext, da halfen alle schönen Reden nichts. Er wurde immer kränker, und die Königin fürchtete für seinen Verstand. Wenn er sich in ihrer Gegenwart nicht so sehr zusammengenommen hätte, so wäre ihre Befürchtung bald zur Gewißheit geworden, denn war der König allein und konnte sich gehen lassen, dann trieb er allerlei wunderliches Zeug. Er seufzte ganz laut, rief plötzlich in die leere Luft hinein: »Mitimiti!«, zählte die Leute, die vorübergingen, die Wagen auf der Straße, die Hausnummern, und war es eine gerade Zahl, war er glücklich, denn Mitimitis Name bestand aus acht Buchstaben, und acht ist eine gerade Zahl.
Die Acht wurde für ihn zur heiligen Zahl.
Er tat alles achtmal. Abends beim Zubettgehen und morgens beim Aufstehen sagte er achtmal Mitimitt.
Trank er auf ihr Wohl, so tat er es in acht Schlucken, und er trank nichts, ohne auf ihr Wohl zu trinken, auch seinen Kaffee. Verschluckte er sich dabei, so war er sehr traurig, denn es galt ihm als ein böses Omen. Manchmal verbrannte er sich auch wohl den Mund dabei.
Zuletzt trieb er diese Tollheiten so weit, daß er sogar acht Hemden übereinander trug.
Da wurde die Königin untröstlich und betete Tag und Nacht, der liebe Gott möge doch den König wieder gesund werden lassen. Aber es half ihr alles nichts, und Lebertran oder eine Badereise hätte auch nicht geholfen.
Nun wohnte in einem großen Walde ein Zauberer. Von dem hörte die Königin zufällig durch ihre Köchin, die eine alte Tante hatte, deren Großmutter einmal durch bloßes Anhauchen von diesem Zauberer von sieben Krankheiten zugleich geheilt worden war. Und diese sieben Krankheiten waren das Zipperlein gewesen, ein offenes Bein, ein verfettetes Herz, eine rote Nase, ein verstopfter Katarrh, wie die Köchin sagte, und noch zwei Krankheiten, die sie wieder vergessen hatte.
Die Königin meinte, ob es vielleicht die Liebe gewesen wäre. »Nein,« sagte die Köchin, »die Liebe war es nicht, es war was mit dem Magen.«
»Ach,« seufzte die Königin, »vielleicht war es doch die Liebe.« Jedenfalls war ein verfettetes Herz darunter, und es war Hoffnung vorhanden, daß der alte Zauberer auch andere Herzkrankheiten heilen konnte.
Die Königin ging also zu ihm und klagte ihm ihr Leid, fiel vor ihm auf die Knie und bat, er möge ihr doch helfen.
»Ja,« sagte der Zauberer, der schon über tausend Jahre alt war und immer mit dem Kopfe wackelte, »wenn er schon acht Hemden übereinander anzieht, ist die Krankheit schon recht eingewurzelt. Aber ich kann Euch dennoch helfen, wenn Ihr mir acht Küsse geben wollt.«
Nun schauderte die Königin. Aber um die Liebe des Königs wieder zu gewinnen, hätte sie das Schwerste getan, und sie überwand sich und gab dem greulichen Alten acht Küsse. Dazu brauchte sie eine lange Zeit, denn da er beständig mit dem Kopfe wackelte, ging mancher Kuß vorbei, und der wurde nicht mitgezählt.
Endlich hatte der Zauberer seine acht Küsse und sagte: »So hört nun aufmerksam zu: Hier habt Ihr acht Stricke. Der erste Strick heißt ›Schlau‹, der zweite ›Festhand‹, der dritte ›Sanfthand‹, der vierte ›Schmeckst du gut‹, der fünfte ›Geduld‹, der sechste ›Wie du mir, so ich dir‹. Die beiden letzten sind Reservestricke, falls Ihr in Not kommt. Mit diesen Stricken müßt Ihr den König binden, so daß er sich nicht rühren kann. Den ersten Strick legt Ihr ihm um den Hals, den zweiten um den rechten Arm, den dritten um den linken Arm, den vierten aber um den Leib, und mit dem fünften bindet Ihr ihm die Füße. Mit dem sechsten aber schlagt Ihr ihm aufs Herz. Und das müßt Ihr acht Tage und acht Nächte lang tun und dabei unaufhörlich Mitimiti sagen. Ihn selbst aber dürft Ihr nicht zu Worte kommen lassen.«
Die Königin war hocherfreut und tat alles, wie ihr geheißen.
Der König wußte anfangs nicht, wie ihm geschah. Aber die Königin ließ ihn gar nicht erst zu Worte kommen und sagte in einem fort: »Mitimiti, Mitimiti« und schlug ihm dabei aufs Herz.
Der König machte erst ein sehr dummes Gesicht, allmählich aber lächelte er, sah sie zärtlich und dankbar an, und je länger sie Mitimiti sagte, je heiterer und milder und glücklicher sah er aus, schlürfte mit den Lippen und schnalzte mit der Zunge, wie einer, der mit dem köstlichsten Wein getränkt und mit den schönsten Leckerbissen gefüttert wird.
Am dritten Tage schon verlor die Königin die Geduld.
»Du bist und bleibst verrückt!« rief sie und sprang wütend auf.
Was wollte sie machen? Sie war untröstlich.
Der Zauberer wackelte ganz fürchterlich mit dem Kopf und sagte, da sie nicht acht Tage und acht Nächte ausgehalten hätte, wäre er entschuldigt. Jetzt könne er nichts mehr dabei machen. Jetzt bliebe ihr nur noch übrig, sich an das Hexchen selbst zu wenden. Und da mit Hexen im Bösen nichts anzufangen wäre, denn das mache sie nur widerspenstiger, so müsse sie es im Guten versuchen. Vielleicht glücke es ihr. Denn manche Hexe hätte ein gutes Herz und verdiene statt des Scheiterhaufens eine Kutsche mit sechs Schimmeln und einen Prinzen zum Gemahl. Mitimiti aber verdiene noch einen Schimmel extra mit einem Vorreiter darauf, denn sie wäre eine von den ganz guten Hexen, die selbst nicht wüßten, daß sie eine wären, und ihre Zauberkünste in aller Unschuld betrieben.
Warum er ihr das nicht gleich gesagt habe, schalt die Königin.
Da lachte der Zauberer und wackelte so fürchterlich mit dem Kopf, daß die Königin glaubte, er würde ihm abfallen.
»Weil ich weiß, daß ein Frauenzimmer lieber zehnmal zum Teufel geht, als einmal zur Nebenbuhlerin,« sagte der Zauberer.
Da zog die Königin die Unterlippe, zahlte ihren Taler und ging weg.
Zu Hause zog sie ihre schönsten Kleider an und ging geradenwegs zu Mitimiti. Als sie das junge Ding sah, wollte sie erst zornig werden. Aber sie besann sich und bat leise und freundlich, das Hexchen möchte ihr doch das Herz ihres Mannes wiedergeben, sie wolle ihr auch alles dafür geben, was sie haben wolle.
»Der alte Esel,« lachte das Hexchen.
»Was?« rief die Königin. »O, bitte sag' ihm das doch selbst. Bitte, bitte, das wird gewiß helfen.«
»Aber das kann ich doch nicht,« sagte das Hexchen und wurde rot.
»Warum denn nicht?«
»Weil er es vielleicht für eine Schmeichelei nehmen könnte. Verliebte sind blind und taub oder sehen und hören doch ganz anders als andre Leute. Und dann sagt der König am Ende, ich wäre ihm entgegengekommen. Und das ist nicht war!« rief sie heftig und stampfte ganz zornig mit dem Fuß.
»Aber mir fällt etwas Besseres ein,« tröstete sie.
»O bitte, sag' es mir,« bat die Königin, »ich will dir all mein Lebenlang dankbar sein.«
»Laßt mich nur machen,« sagte das Hexchen. »Sorgt nur, daß der König heute abend im Garten ist.«
»Ein Rendezvous?« fragte die Königin bestürzt und mißtrauisch.
»Wie man es nehmen will,« lachte das Hexchen.
»Gut,« sagte die Königin. »Aber mach es nicht so schlimm. Denn er ist nicht schlecht, er ist nur krank und tut mir so leid.«
»Mir auch,« sagte das Hexchen ganz treuherzig. »Aber seid unbesorgt, es tut nicht weh.«
Als der König nun in den Garten kam, stand Mitimiti an einer Rosenhecke und suchte Käfer ab. Sie war schön und war weiß und war lang, und dem König schlug das Herz.
»Guten Abend, Fräulein Mitimiti,« sagte er.
»Guten Abend, Herr König.«
»Prachtvolles Wetter, heute abend.«
»Ja, gar nicht mehr so heiß.«
»Nicht wahr?«
»Ja.«
»Wie geht es, Fräulein Mitimiti?«
»Danke schön, Herr König, mir geht es sehr gut. Und wie geht es Euch in Euren acht Hemden?«
»Acht Hemden?« stotterte der König und wurde ganz rot.
»Wie könnt Ihr es nur in Euren acht Hemden aushalten?« sagte Mitimiti. »Ihr verweichlicht Euch.«
»O, gar nicht.«
»Ihr solltet sie doch ablegen.«
»Nicht um alles in der Welt.«
Das Hexchen sah ihn schelmisch an.
»Was gilt die Wette?«
»Das wäre,« sagte der König. »Die Wette werdet Ihr verlieren.«
»Wenn ich Euch nun etwas gebe –«
Das Hexchen stockte verlegen, und der König horchte hoch auf.
»Aber nein, das geht doch nicht,« sagte das Hexchen noch verschämter.
Da drang der König in Mitimiti, sie solle doch sagen, was sie meine. Es ließe sich ja vielleicht darüber reden.
»Wenn ich es denn sagen darf,« sagte Mitimiti. »Ich meine, wenn ich Euch nun etwas gebe, was ich Euch noch nie gegeben habe?«
Da wurde der König purpurrot.
»Mitimiti!« rief er und breitete beide Arme aus.
»Halt!« rief sie. »Erst die acht Hemden.«
»Aber das geht doch nicht!«
»Warum denn nicht?«
»Hier auf der Stelle?«
»Auf der Stelle.«
»Aber nein.«
»Gut, denn nicht,« sagte Mitimiti, machte ein gekränktes Gesicht und wollte gehen.
»Es sei!« rief der König. »Aber ich darf mich doch hinter diesen Baum stellen?«
»Gewiß, das dürft Ihr.«
Da trat der König hinter den Baum und begann hastig die acht Hemden abzuwerfen, eins nach dem andern.
Als aber sieben im Gras lagen, dachte er: ›Das muß genug sein.‹
Aber Mitimiti bestand auf ihren Willen.
»Gut,« sagte der König, »aber nun bekomme ich auch einen Kuß. Und mit ausgebreiten Armen ging er auf das Hexchen zu und spitzte die Lippen.
Mitimiti aber richtete sich in ihrer ganzen Größe auf und war so schön und so weiß und so lang und sagte: »Da habt Ihr, was Euch zukommt und was ich Euch noch nie gegeben habe.« Und damit gab sie ihm einen herzhaften Nasenstüber, machte einen Knicks, und weg war sie.
Da stand nun der König ohne Hemd und war sehr klein und war sehr rot und sah sehr, sehr dumm aus. Und hätte die Königin nicht aus dem Fenster gerufen: »Klaus, was machst du da im Garten? Wo hast du deine Hemden gelassen?« so stände er heute noch da.
Aber er hat seine acht Hemden zusammengesammelt und ist still und bescheiden ins Haus geschlichen und hat zwischen sich und dem Hexchen eine hohe, hohe Mauer aufgerichtet, die war aber doch nicht so hoch, daß sie sich nicht dann und wann »Guten Morgen!« zurufen konnten.
»Guten Morgen, König Klaus!«
»Guten Morgen, Fräulein Mitimiti!«
Und das war sehr nett und zeigte, daß sie beide das Herz auf dem rechten Fleck hatten und sich nichts übel nahmen. Einen Nasenstüber zur rechten Zeit soll kein Mensch übel nehmen. Mit denen zur unrechten Zeit kann es jeder halten, wie er will.
Jedes Jahr aber, wenn sich der Nasenstüber jährte, warf der König ein paar Rosen über die Mauer und rief: »Danke schön, Fräulein Mitimiti!«
Und Mitimiti rief: »Bitte sehr, gern geschehen!«
Der König aber und die Königin lebten noch lange und glücklich zusammen. Der Storch kam noch achtmal und brachte abwechselnd ein Mädchen und ein Knäbchen. Jedes bekam sofort ein Hemd an, und der König gab jedem bei der Ankunft einen Nasenstüber. »Auf daß ihr später keinen bekommt,« sagte er.
Alle aber hatten sie von diesem Nasenstüber Stubbsnasen, und das sah sehr drollig aus.«
»Verworrene Wege, wo lief es hinaus?
Du lächelst und hast mich wieder zu Haus.«
Und es war ein Haus, in dem sich auch ein unruhiges Dichtergemüt wohl geborgen fühlen konnte. Die Kinder wuchsen gar hold heran, und ein drittes gesellte sich dazu; diesmal war's ein Junge, zur großen Freude der Eltern. So verging Jahr um Jahr, und der Kranz meines bescheidenen Glückes vergrößerte, sich und seine Farben wurden tiefer und satter.
Um was hätte ich noch bitten sollen, als einzig um Bestand eines so freundlichen Loses. Wer, auch der Glücklichste und Reichste, ist des Tages, der Stunde sicher? Bei mir aber stand doch alles allein auf meinen zwei Augen. Was der Tag geerntet, verschlang der Tag, und das einzige Kapital, womit ich rechnen konnte, war meine Gesundheit. Daß die mir immer treu blieb, hatte ich als schönstes Geschenk des Himmels dankbar anzuerkennen, aber trotzdem es mir immer vergönnt war, nach Kräften das Meine zu tun, war ich doch oft genug genötigt, Schulden zu machen und den Kredit guter Freunde in Anspruch zu nehmen, die gefunden zu haben ich als ein weiteres großes Himmelsgeschenk anzusehen hatte.
Freunde in der Not
Gehen zehn auf ein Lot.
Die Wahrheit dieses Sprichwortes zu erproben, war mir immer erspart geblieben. Und als nun mein fünfzigstes Lebensjahr zu Ende ging, hatte ich abermals Gelegenheit, mich als einen Auserwählten und Begünstigten des Schicksals mit ebensoviel Staunen als Beschämung zu erkennen. Eine ungeahnte Geburtstagsgabe überraschte mich: Hamburgs Senat und Bürgerschaft zeichneten mich durch einen lebenslänglichen Ehrensold »wegen meiner Verdienste um die deutsche Literatur« aus.
Ich, der scheuste Vogel, saß nun mit goldener Kette am Fuß auf offenem Markte und sollte singen. Die Nachtigall will ihr heimlich Dunkel. Sie flieht die lauten Straßen. Tausendfach verletzten mich der freche Tag, die neugierigen Augen, die taktlosen Lober. Ich sah, daß mir jede Anlage, stolz zu sein, mich zu fühlen, mich wichtig zu nehmen fehlte. Der Kranz, der über Nacht auf meinen Scheitel gefallen war, genierte mich, eine peinliche Kopfbedeckung. Und ich mußte sie gar so öffentlich und weithin sichtbar tragen.
Und ich gedachte der Würdigeren, gedachte vor allem Liliencrons. Und es kamen Stunden, wo ich nicht glücklich war, und wo ich bange war. Ich hatte meine Unbefangenheit verloren. Ich sah bei jedem Vers tausend Augen auf mich gerichtet.
Und der Singvogel flog in sein dichtestes Buschwerk zurück, und die Leute standen davor und fragten: Wo blieb er? Warum singt er nicht? Er soll doch singen! Er bekommt doch dafür bezahlt!
*
Eines Tages kam eine anonyme Postkarte ins Haus: »Sie nähren sich von dem Schweiß der Steuerzahler!« Und sie blieb nicht die einzige. Die niedrigste Gemeinheit kroch aus ihrer Höhle und beschleimte meinen Weg. Neid, Mißgunst, Klatschsucht richteten ihre grünen Augen auf mich und erhoben ihre widerlichen Stimmen.
Ich lernte verachten.
Und ich lernte stolz sein.
*
Doch den Stunden des Stolzes folgten Stunden des Zweifelns. Ich schlug nach meinem Kranz und fragte mich: ›Wer bist du, daß man dich krönt? Auf welchem Hügelchen stehst du, und oben fliegen mit stürmischem Rauschen die wahren königlichen Vögel hoch über deinem Haupte?‹ Und ich sah um mich, und ich sah tausend ruhmhungrig gereckte Hälse, und ich hörte ein Lärmen und Lobposaunen, und es mußte die Welt voller großer Talente und Genies sein. Der »Berühmte«, der »Geistvolle«, der »Originelle«, der »Bahnbrecher«, der »Ganzgroße«! So schwirrte es durcheinander. Und wenn ich selbst diese Ganzgroßen an den wahrhaft Großen maß, an einem Goethe, Shakespeare, ja an Geistern wie Hebbel und Keller, wie klein erschienen sie mir. Und war ich mehr als sie?
Es gibt keine größere Qual als diese, wenn du gedemütigt im Staube liegst und dein Leben wie eine taube Nuß in den Händen hältst. Wenn deine Nächte schlaflos sind und du dich wundringst um das Rätsel deines kleinen persönlichen Daseins und des Lebens überhaupt.
Der Schritt der Stunde, wenn du schlaflos liegst,
Und die Gedanken sich wie Schwalben jagen,
Wenn sehnend du bis an die Sterne fliegst
Und leer zurückkehrst, flügellahm, zerschlagen.
Der Schritt der Stunde, wenn du schlaflos liegst,
Und aus dem Dunkel starren stumme Klagen,
Daß du dich schluchzend in die Kissen schmiegst
Und weißt nicht ein und aus. Schon wird es tagen,
Das Leben jauchzt auf tausend hellen Geigen,
Du aber hörst nur durch den muntern Reigen,
Nachzitternd, dumpf, wohin du fliehen magst,
Den Schritt der Stunde, da du schlaflos lagst
Und rangst und fühltest in fruchtlosem Klopfen
An Gottes Pforten deine Kraft vertropfen.
*
Manchmal kam ein Brief, von irgendwo her, von unbekannter Hand: »Schenken Sie uns wieder ein paar Verse, die wir als Schatz im tiefsten Herzen hüten und, wenn wir allein sind, ganz leise vor uns hinsprechen – wie ein Gebet. Das sind Ihre Verse für mich und das sind sie auch für viele, viele andere.«
Nur ein mitfühlendes Herz finden, nur einen Tropfen himmlischen Öles spenden, irgendeiner fernen, fremden, leidenden Seele – wer kann das von sich sagen? Ist es so wenig? Ist es umsonst gelebt?
Bist du auch kein stolzer Baumeister deiner Kunst und führst den Tempel höher, an dem die Genien deines Volkes bauen, ein farbiges Fenster lieferst du doch zum Bau, durch das die Welt sich schön und lieblich ausnimmt.
Und manchmal dachte ich: »Wie, wenn du damals hättest studieren dürfen? Wie anders wäre es dir geworden! Wieviel Jahre hast du nun verloren, so dumpf in dumpfen Niederungen dahinlebend. Und bist nun aufgewacht, hast Flügel über Nacht bekommen – – und sitzt auf dem Stock und an der Kette.‹
Mein Weib und all mein holder Kreis,
Mein Kind und all mein lachend Glück.
Ich rühre an die Saite leis,
Wie hell klingt es zurück.
Nur manchmal, wenn von ferne ich
Die großen Ströme rauschen höre.
Wenn sich der vollen Lebenschöre
Ein Ton in meine Stille schlich,
Schrei laut ich auf und hebe Klag':
Mehr Licht, mehr Licht, nur einen Tag!
Und blutend leg' ich, abgewandt,
Mein Herz in eure Liebeshand,
Bis es von aller Angst entbunden
Und wieder seinen Takt gefunden,
Den Gleichtakt zwischen Wunsch und Pflicht.
Herddämmerglück, Herddämmerlicht.
*
Von Lübeck war eine Einladung gekommen, ich solle mich meinen alten Landsleuten zeigen und ihnen aus meinen Dichtungen vorlesen.
Da saßen sie und klatschten Beifall. Geibels Schwiegersohn und sein Enkel waren unter ihnen, und ich gedachte der zaghaften Mutter, die sich nicht getraut hatte, die Türklinke des berühmten Mannes zu berühren.
Und es waren von meinen ehemaligen Freunden unter ihnen, und sie erinnerten sich meiner und erwiesen mir Liebes. Fritz aber war nicht mehr in unserer Vaterstadt, und meine Vaterstadt war nicht mehr die Alte. Auch mein Vaterhaus fand ich nicht mehr; statt seiner sah mich ein modernes Geschäftshaus kalt und fremd an.
Und in einen der Türme von St. Jakobi, zu deren Füßen sie Geibel ein Denkmal gesetzt hatten, fuhr an diesem Tage der Blitz, doch fraß er nur die Spitze des Turmes.
Und keiner der schlanken Türme der Vaterstadt flammte an diesem Tage in goldenem Feuer. Ernst und strenge wiesen sie in einen grauen Himmel. Nur einen Augenblick, als ich sinnend zu ihnen hinaufschaute, war ein wunderliches Flimmern um die königlichen Türme von St. Marien, als wäre die Luft bewegt von unhörbaren Glocken.
Und manchmal, wenn ich an dich zurückdenke, alte liebe Stadt an der Trave, wenn ich nur deinen Namen höre, ist es mir, als sei ein solches wunderliches Flimmern um alle deine alten Häuser und Kirchen. Ach, vierzig verflossene Jahre dämpfen Licht und Schein. Wie hinter einem Schleier sehe ich dich, aber mein Herz wird unruhig und traurig vor diesem Schleier, und Heimweh befällt mich nach der Stadt meiner Kindheit.
*
In Groß-Borstel, auf hamburgischem Landgebiet, baute ich mir ein Haus. Ein schmaler Streifen Wiesenland war urbar zu machen; nur ein alter Weißdorn stand darauf, der aus vielfachen Wurzeln drei phantastisch gewundene Stämme nach verschiedenen Seiten ausstreckte und so ein breites, in der Blütezeit von Bienen durchsummtes Dach herstellte. Sonst mußte jedes Sträuchlein gepflanzt werden, sollte sich die grüne Wiesenwildnis in einen Garten verwandeln. Wege wurden gezogen, Beete angelegt, ein Teich ausgehoben, und es entstand ein freundliches Besitztum, das die darauf verwendete Mühe vielfältig lohnte.
Wie lieblich ist es, eine eigene Schöpfung so nach und nach werden, das Gewordene sich ausbreiten und sich mit jedem Jahr treulich erneuern zu sehen. Ich genoß eine bisher noch nicht gekannte reine Freude; die Natur, der ich bisher nur als ein Liebhaber gegenüber gestanden, machte mich zu ihrem Vertrauten und verlor dabei nichts von ihren Reizen, wie es sonst wohl bei Annäherung an einen geliebten Gegenstand zu sein pflegt. Ich verlor mich so ganz an sie, daß für die ersten langen Wochen alles andere hinter meiner neuen Liebe zurücktrat. Meine Musikschüler hatte ich nach und nach entlassen, bis auf die Kinder von Otto Ernst, mit dem ich immerfort in herzlicher Freundschaft verkehrte. Doch erwies sich bald die Fortsetzung des Unterrichts von meinem neuen Wohnsitz aus als zu zeitraubend, und ich löste auch dieses letzte Band, was mich noch mit meinem Musikerberuf verknüpfte, der mir über zwanzig Jahre lang mein Brot gegeben hatte. Viele Freude, sehr viel Leid. Froh war ich, jetzt ein freier Mann zu sein und mit dem schweren Beruf auch der Enge der Stadt entsagt zu haben.
Wie hatte ich es nur solange in der Stadt aushalten können? Wo der Blick immer gegen Mauern prallt, und wo das vielfache Getöse des Tages, zu einem wirren, kaum mehr beachteten Lärm verschlungen, sich bis in die Nacht fortsetzt und uns wahnsinnig machen würde, wenn wir nicht dagegen abstumpften. Hier draußen war Friede und Stille, ein weiter Himmel, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, alle Jahreszeiten im sanften Wandel, hier war helles Grün des Sommers und leuchtender Schnee des Winters, war der violette Hauch des erwachenden Frühlings und waren die tausend Farben des noch einmal beim lauschenden Abschiedsfest aufjubelnden Herbstes; hier war der ganze Kreis des holden Lebens geschlossen, und der Mensch, teilnehmend, leidend und wirkend, mitten darin. –
– Ich liege im Gras in meinem Garten und lasse den Wind über mich hinstreichen. Um mich ist ein Summen von vielen Insekten, an den Blumen, den honigreichen, hängen Bienen und Hummeln; ich kann sie nicht sehen, denn meine Augen blinzeln nach oben, wo weiße Schäfchen auf der blauen Himmelswiese gehen.
Ach, so zu liegen und so zu träumen, nur zu sein! Nur den Atem heben und wieder senken: nichts als das. Wie die Blumen leben! Sich leise mit den Wurzeln in die Erde tasten und saugen; ein angewurzelt Menschenreis! So still und demütig, von der heiligen Kraft der Erde einschlürfen, Zweig für Zweig in das Licht hinaustreiben, und dann blühen dürfen, blühen! All den überquellenden Drang in einem Blütenfeuer befreien, einen ganzen langen flammenden Frühling hindurch! –
Junges Bäumchen, das ich selbst gepflanzt,
Sag, wann schenkst du mir die ersten Früchte?
Edel bist du. Deine Art will Zeit.
Langsam reifst du, und ich muß wohl warten.
Warten! Jugend ist dem Wort nicht hold,
Jugend pflückt gern Früchte aus dem Blauen,
Aus dem Leeren. Aber mählich dann
Lernt sie sich gedulden, sich bescheiden.
Doch das Alter, mannigfach geprüft,
Oft enttäuscht und nicht mehr reich an Hoffnung.
Schätzt nur noch den Apfel in der Hand,
Denkt des Guten, das er schon genossen.
Manche Ernte hab' ich eingeheimst.
Manche Ernte mag mir noch gedeihen.
Doch ich wart' und laß den Sommer brauen.
Weiß, der Segen läßt sich nicht erzwingen.
Du nur, Bäumchen, das ich selbst gepflanzt,
Edelbäumchen, Schoßkind meiner Sorge,
Bringst des Alters Gleichmut in Gefahr,
Und ich frag', wie lange soll ich warten?
Wär's auch nur, daß ich aus deinem Saft
Eines Apfels süßen Schaum genösse,
Wär's auch nur, daß man den ersten mir
Rötlich schimmernd in den Sarg mitgäbe.
Lieg ich dann auf meinem stillen Bett,
Sacht zerfallend mit der Frucht, der mürben,
Labst du meine Kinder, die mit Lust
Schmausen und den toten Gärtner segnen.
– Am Bach, der hinter meinem Garten fließt, sitze ich gern in aller Frühe im strohgedeckten Tempelchen auf der Bank. Das Wässerlein hat es immer eilig, als könnte es die Zeit nicht erwarten, wo es in den Mühlenteich fließt und von da in die Alster; immer tut es, als müsse es noch heute nach Hamburg, in die Stadt. Lauf zu und grüß'! Sag', ich säße gern hier und käme so bald nicht.
Drüben die stille Wiese, noch naß vom Morgentau, ist meine Augenweide. Von hohen Bäumen umrahmt liegt sie wie ein funkelnder Edelstein da. Je nach Jahreszeit und Tag und Stunde leuchtet sie in allen Farben. Am schönsten ist sie, wenn der Frühling seine goldenen Butterblumen und den gelben Hahnenfuß darüber streut, und das feine Birkenbäumchen hinten am Saum in seinem weißen Kleid märchenhaft dasteht; seine zarten Zweige schwanken leicht im Winde und leuchten im ersten hellen Grün, wie das Blondhaar eines Backfischchens.
Aber auch das dunkle Sommerlaub ist schön; und die Wiese bekommt dann so etwas Ernstes, Feierliches, wenn die hohen Bäume schweigend dastehen und ein dichtes Gewölk dahinter aufsteigt.
Und im Herbst und im Winter, wenn noch kein Schnee fiel und der graue Himmel durch die kahlen Bäume hindurchschaut und die Krähen in den leeren Kronen hausen, ganze Krähenschwärme, die sich hier mit Geschrei versammeln – immer sitze ich gern auf meiner Bank und sehe das Bächlein nach Hamburg laufen. –
Aber in das sonnige Idyll genügsamen Landlebens sollten gar bald tiefe Schatten fallen. Die Mutter, nach der Geburt unseres dritten Kindes zum zweitenmal dem Kinderlärm weichend, hatte in einem in christlichem Geiste gelenkten Stift eine bescheidene, aber freundliche Pension gefunden. Hier aber fing sie bald an zu kränkeln, eine Reihe von Schlaganfällen machten sie nach und nach hilflos, und eines Tages entschlief sie nach mancherlei Leiden, und ich konnte, an ihr Sterbelager gerufen, nur noch einen Kuß auf die eben geschlossenen Augen drücken.
Ich streichelte die kalten Hände und den weißen spärlichen Scheitel und betrachtete mit Wehmut die Züge des lieben Gesichtes, in dem die guten Augen, in den letzten Jahren fast von Blindheit geschlagen, nun erloschen waren.
Sie hatte an dem letzten Umschwung meines Lebens liebevollen Anteil genommen und war untröstlich gewesen, daß sie meinen fünfzigsten Geburtstag nur von ferne mit segnendem Gedenken begleiten konnte. An meinem literarischen Erfolge hatte sie die größte Freude. Doch ließ sie andere kaum merken, daß sie auch stolz darauf war. Auch mich selbst glaubte sie vor Überhebung bewahren zu müssen und hatte schon viel gesagt, wenn sie einmal äußerte: »Wie schön, daß du das alles so kannst, und daß die Leute es so anerkennen. Da können wir doch nicht dankbar genug sein.«
Die Frömmigkeit ihres Wesens, die sich abhängig und verpflichtet fühlte, tritt auch in dieser Äußerung zutage. Und diese stille und gute und fromme Frau, als sie nun in der Kirche der Anstalt aufgebahrt war, und ihr weißes Gesicht, von dem flackernden Licht zweier Kerzen wunderlich belebt, einen tiefen Frieden atmete, sie mußte es über sich ergehen lassen, daß ein eifernder Mund über sie Worte von Hölle und Gericht sprach und nicht ein Wort des Trostes für die Hinterbliebenen fand, als das kalte seines eingelernten Bibeltextes.
Die Tote lag freilich still da und protestierte nur durch den seligen Frieden ihres schlafenden Antlitzes gegen so törichte Menschenrede.
Dann trugen wir sie hinaus, einen letzten weiten Weg nach dem winterlichen Gottesacker, und die harte Erde schloß sich über sie. Ein letzter Wunsch war ihr nicht erfüllt worden: meinen Bruder noch einmal zu sehen; als er mit Weib und Kind herübereilte, kam er zu spät und konnte nur noch einen Kranz auf ihren frischen Hügel legen.
*
Meine Mutter hatte mit ihren siebenundsiebzig Jahren das Alter erreicht, wo man gerüstet sein muß, der Natur ihren Tribut zu zahlen. Aber nun begann ein Sterben von jüngeren oder gleichaltrigen Genossen und Freunden um mich herum, das wohl geeignet war, mich zu mahnen, daß auch ich den absteigenden Weg bereits betreten hatte.
Prinz Emil zu Schönaich-Carolath, der edle, liebenswürdige und liebenswerte Schloßherr von Haseldorf, den ich als Dichter hochschätzte, war mir seit ein paar Jahren auch persönlich näher getreten. Ich war wiederholt sein Gast und durfte einmal sogar mit Frau und Kind drei herrliche Tage auf seinem schönen, stillen Marschensitz verleben. Da war es mir denn eine Freude und ein Gewinn, diesen Aristokraten von feinster und echtester Herzensvornehmheit in näherem Verkehr beobachten zu können und auch als Mensch immer mehr verehren zu lernen. Seit langem leidend, wußte er doch mit größter Selbstbeherrschung seinen vielen Gästen der immer liebenswürdige, selbstlose Wirt zu sein. Nur seine Augen, die oft verloren wie in eine andere, ferne Welt zu sehen schienen, verrieten von einem abgewandten und oft leidvollen Innenleben.
In jenen Tagen ereignete sich dort das Zusammentreffen zweier grundverschiedener Naturen, die nach kurzem Versuch, sich zu verständigen, schnell davon abließen.
Schon bei unserer Ankunft hieß es, es würde noch ein Herr aus Norden erscheinen. Doch ließ der Herr auf sich warten. Er kam erst am Nachmittag bei strömendem Regen auf den Hof gefahren und entschuldigte sich, er wäre in Gedanken über die nächste Bahnstation hinausgefahren.
Es war Gustav Frenssen, den sein junger Ruhm als Verfasser des Jörn Uhl auch persönlich aus seinem stillen Wohnsitz heraus unter die Leute brachte.
Ich war ebenso überrascht als erfreut, ihn zu sehen. Wir kannten uns schon. Er hatte mich bei Gelegenheit eines Vortrages, den er in Hamburg hielt, zu sich eingeladen, und ich war dann acht Tage in seinem Pastorat zu Hemme sein Gast gewesen. Er arbeitete damals an den letzten Kapiteln seines großen Bauernromans Jörn Uhl und teilte seine Zeit zwischen seinem Stehpult und mir. Draußen, auf unsern längeren Spaziergängen, war er oft von einem jungshaftem Übermut; am liebsten wäre er noch mit dem Springstock über die breiten Marschgruben gesprungen. Die gährende Fülle, aus der heraus er seinen Jörn Uhl geschrieben, schäumte noch in ihm über.
Hier, im Prinzenhause, fühlt er sich nicht wohl. Es schien ihm an Raum zu fehlen, freiweg springen zu können. Kurz, es bewegten sich zwei fremde Welten nebeneinander.
Es war Frenssens erster und letzter Besuch in Haseldorf. Leider sollte es auch mein letzter gewesen sein, trotz wiederholter Einladungen, die fast immer in Begleitung einer Jagdbeute – ein paar Hühner, Enten oder Hasen – eintrafen. Die Leiden, die zuletzt unsäglich gewesen sein müssen, rieben die zarte Konstitution des tapferen Dulders auf, und ein edler Dichter und wahrhaft vornehmer Mensch ging in jenes unbekannte Land hinüber, das eine echte, tiefe Religiösität ihm immer hatte verheißungsvoll erscheinen lassen.
Einem ähnlichen Schicksal, wenn auch nicht auf des Lebens Höhen, sondern auf dem engen, mühsamen, sandigen Talweg eines ärmlichen Daseins, erlag bald darauf ein anderer Dichtergenosse.
Schon oft war mir auf meinen Spaziergängen in Groß-Borstel ein mittelgroßer Mann aufgefallen, der halb den Eindruck eines Schulmeisters, halb den eines katholischen Priesters machte; was um so drolliger wirkte, als er meist einen Kinderwagen vor sich herschob. Das große, etwas leidende Gesicht wandte sich mir jedesmal zu und sah mich durch blanke Brillengläser forschend an. Es war Fritz Stavenhagen, der sein Töchterchen spazieren fuhr, und der, wie ich bald erfuhr, nicht weit von mir ein grünumranktes Häuschen bewohnte. Wir lernten uns dann kennen, und zwar machte er mir den ersten Besuch. Er war seit kurzem am Schillertheater in Altona Dramaturg geworden und hatte den Ehrgeiz, diese Volksbühne zu heben und zu veredeln. Ich hatte ein Märchenstück geschrieben, »Putzi«, das im herzoglichen Hoftheater in Meiningen in der Weihnachtszeit aufgeführt worden war, wie es hieß, auf allerhöchsten Wunsch. Den Hamburger Bühnen hatte ich es ohne Erfolg angeboten, selbst die Meininger Aufführung war keine genügende Fürsprache gewesen. Da erbat Stavenhagen sich das Stück; es sei so voller Poesie, daß es ihn zu einem Versuch reize. So kamen wir zusammen, und ich freute mich der gemeinsamen Arbeit. Als ich dann zu ihm ging, fand ich ihn sehr elend. Er klagte, er litte an einem hartnäckigen Magenübel; eben gerade hätte er einen heftigen Anfall überstanden und sich in Krämpfen auf dem Boden gewunden. Der Schweiß perlte ihm noch auf der blassen Stirn. »Morgen gehe ich ins Krankenhaus zur Operation«, sagte er. »So oder so, ich halte es nicht länger aus.«
Doppelt rührend war mir in diesem Augenblick die Ärmlichkeit seiner Umgebung. Er führte mich mit Stolz an seinen selbstgezimmerten Schreibtisch, der roh aus ein paar Kisten aufgebaut war. Er sollte nicht wieder an ihm arbeiten, und mein Stück, dem er so viele Liebe entgegengebracht, wurde erst ein Jahr nach seinem Tode aufgeführt. Der von vielen Entbehrungen geschwächte Körper Stavenhagens hatte zwar die Operation überstanden, hatte aber dann nicht mehr die Kraft gehabt, den Weg bis zur Genesung zurückzulegen. Mit ihm starb eine große Hoffnung. Es fiel gerade etwas Sonne auf seinen Weg, die Bühnen begannen sich seiner Stücke anzunehmen, da riß der Tod ihn weg.
Noch nie sah ich ein so vom Tode veredeltes, geadeltes Gesicht. An seinem Grabe standen nur wenig Leidtragende. Ein paar Freunde. Ein paar Journalisten. Vom Theater war niemand erschienen. Siegfried Heckscher hatte in der Friedhofskapelle nach der Rede des Geistlichen noch ein paar warme, überquellende Worte gesprochen. Erschüttert kehrte ich mit ihm heim, tiefbewegt von dem tragischem Geschick des unglücklichen jungen Dichters, des Shakespeares des plattdeutschen Theaters, wie ihn überschäumende Begeisterung genannt hatte.
Es sprach die Not: Ich quäle dich.
Es sprach der Mut: Ich stähle dich.
Es sprach der Sieg: Ruhm winkt und Licht
Es sprach der Tod: Ich will es nicht.
O Tod, das hast du schlecht gemacht,
So schöne Kraft für nichts geacht,
Viel Kräuter stehen hundertweis,
Was rauftest du dies Edelreis?
Spricht der Tod:
Fühl' nicht wie ihr, bin hart und schneid'
All' Kraut und Gras ohn' Lust, ohn' Leid,
Und schon' auch nicht der Blumen. Hüt'
Dein Röslein du, so lang' es blüht.
Auch Wilhelm Holzamer, der junge hessische Dichter, dem ich in herzlicher Freundschaft verbunden war, wurde mir bald darauf durch den Tod genommen. Er hatte sich an mir herangebildet und hatte mir sein erstes Versbuch in Dankbarkeit gewidmet. Auch ihm schien nach mancherlei Leiden einer zerstörten Ehe seit kurzem die Sonne eines neuen Glückes und eines endlichen wohlverdienten Erfolges, als ein heimtückisches Halsleiden ihn in das Dunkel stieß, vor dem ihm vorahnend manchmal gebangt hatte. »Ich bin ein Wanderer« hatte er einst gesungen.
»So muß ich wandern – tiefe Schluchten hin, –
Und schreit mein Herz auch auf in müder Nacht,
Am Morgen muß ich ziellos weiterziehn.
Und ruht mein Haupt auf weichem Moose aus,
Und träumt mein Herz von einem tiefen Glück,
Zu stetem Frieden baut ich mir kein Haus.
Und steckt ihr Rosen mir auf meinen Hut,
Und kränzt der Lorbeer selbst mein armes Haupt –
Ich stehe frierend bei der lichten Glut.
Ich bin ein Wandrer. – Und es ist kein Ort,
Wo mir ein häuslich-liebes Heim beschert – –
Ich habe nach den Sternen einst begehrt,
Nun treibt's mich ruhlos zu den Sternen fort.
Er war ein Mensch, der schwer am Leben trug, der jedes Unrecht, das er andern getan, zehnmal stärker empfand, als das ihm geschehene. Oft war ich das Gefäß, in das er seine bitteren, selbstquälerischen Klagen ausströmte, öfter noch wandte er sich an meine Frau, die ihm Verständnis entgegenbrachte, und deren Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit ihm wohlzutun schien.
*
Gewiß hatte ich die Mutter mit aller Innigkeit und Zärtlichkeit des Sohnes geliebt und durfte gewiß sein, daß sie sich darüber nicht im Zweifel befand, dennoch wollte mir scheinen, als ob ich manches an ihr versäumt hätte, manches zärtliche Wort, das sich schon auf die Zunge gedrängt hatte, manche kindliche Liebkosung aus falscher Scham unterdrückt hätte, denn immer war es mir von Kindheit an schwer geworden, meinen Gefühlen freien und unbefangenen Ausdruck zu verleihen, und ich hatte manche schmerzliche Stunde dadurch und manchen Nachteil.
Diese Schwäche, die aber wieder mit meinem Besten innig verwurzelt war, sollte auch ein anderes Band, was mich mit einem lieben Menschen verknüpfte, wenn auch nicht innerlich, so doch äußerlich durch die Verhältnisse begünstigt, lockern, bis endlich der Tod es ganz löste.
Liliencron hatte inzwischen auch geheiratet und sich in Alt-Rahlstedt niedergelassen. Die räumlich weite Trennung, die wachsenden Ansprüche der Familien, ließen uns so oft nicht mehr zusammenkommen. Auch er hatte inzwischen an seinem sechzigsten Geburtstag reiche Ehren eingeheimst; eine immer wachsende Schar von Verehrern, Anhängern, Freunden und Bekannten umlagerte ihn, und ich sah ihn sich mit Leuten duzen und brüderlich tun, von denen verdrängt zu werden mir wehetun mußte.
Nun war es nicht das »Du«; auf das hatten wir uns von Anfang zu verzichten das Versprechen gegeben.
»Ich merke, daß ich eine starke innerliche Keuschheit besitze,« schrieb er mir damals, »nicht natürlich die Gouvernantenkeuschheit, na, das wissen Sie ja, aber die seelische. Bei jedem Verlassen des ›Sie‹ hört jede Keuschheit auf. Das ›Du‹ ist stets der Anfang der Brutalität.«
Aber es war das Gefühl, daß ich äußerlich immer mehr und mehr zu einem Draußenstehenden wurde. Da hätte es mich gewiß nur ein Wort gekostet, aber dazu war ich zu stolz; er sollte und mußte auch ohne das wissen, daß ich ihm nicht verloren gehen konnte. Fuhr ich doch auch fort, mich öffentlich und bei jeder sich bietenden Gelegenheit laut und freudig zu ihm, als meinen Lehrer, Förderer und Freund zu bekennen. Dennoch mußte ich nachher erfahren, daß er sich beklagt hatte, ich wäre »kühl« geworden.
Er hatte mir einst die Hände geküßt, mich seinen Herzens-Falke genannt und geschrieben: »Sie wissen gar nicht, wie ich Sie liebe.«
Womit hatte ich es ihm vergolten? Nur mit einem Herzen voll treuster Anhänglichkeit, wie er es treuer nirgend hätte finden können, und doch konnte er sich im Recht glauben, wenn er mich jetzt »kühl« nannte. Es war die wortkarge Scheu meines Empfindens, die mir hier den tiefsten und wehesten Stoß gab. Alle lauten Worte und Gebärden waren mir peinlich.
Ich erinnere mich jener Anekdote von Mörike, der dem schwärmenden Geibel antwortete: »Das nennt man bei uns Schäfle«. So sprach auch ich lieber von Schäflen als von himmlischen Wolkenschauspielen. Ich habe in meinem Zimmer ein Pastell hängen, ein einsamer Knickweg im Schnee, von dem Hamburger Friedrich Schaper gemalt. Kaum ein Tag vergeht, wo ich nicht einen Blick auf das Bild werfe, und oft stehe ich davor und sehe es mit Augen der Liebe an, weil es meinem Empfinden so viel sagt, mag es anderen vielleicht auch stumm sein. Dieses Bild lobte ich einst einem anderen trefflichen Künstler mit den Worten: »Nett, nicht wahr?« Der aber fuhr heftig herum und rief ganz empört: »Nett? Nett? Das ist ein Kunstwerk!«
Ach, ein herzliches Wort der Liebe noch! Zu spät!
Ich stand an Liliencrons Totenbett und sah sein stilles schönes Gesicht vor mir in den Kissen, und es war mir, als müßten sich die gütigen blauen Augen noch einmal aufschlagen und mich vorwurfsvoll anschauen. Rote Rosen leuchteten auf seinem Bett; zu ihnen legte ich mein ehrfürchtiges und liebendes Schweigen.
*
Jahre sind seitdem vergangen, und ich begann unterdessen auf diesen Blättern die schlichte und doch wunderliche Geschichte meines Lebens zu erzählen.
Ich kramte viel in alten Papieren. Die Briefe des toten Freundes führten mich in die vergangenen Tage zurück. Da war ein Brief:
»Heute kam ich zu ganzen Bergen von Ihren alten Briefen aus den neunziger Jahren. Was waren das doch damals für frische Zeiten. Wir sahen uns wöchentlich und, wie ich aus den Briefen ersehe, hatte der Tag tausend ›literarische Ereignisse‹. Da finde ich denn auch eine ganze Menge Namen, an die kein Mensch heute mehr denkt. Ja an deren Persönlichkeiten ich mich nicht mal erinnern kann. Sie transit gloria mundi.«
Frische Zeiten! Und dann?
»Wo Engel sich die kühlen Hände reichen,« glaubte der Freund auch mich stehen. Vielleicht konnte es nicht anders sein. Vielleicht war es die Zeit, als er mich »kühl« wähnte, wo ich dem Strom entstieg, in dem ich zu lange gebadet, auf dessen Grund ich zu tief hinabgetaucht war. Und der Strom, gewohnt, ihn so lange in seinen Armen zu halten, grollte dem Entwichenen, und übersah, daß jener am Ufer stand, ihm zugewandt, und die herrliche, erquickende, kräftigende Flut in überfließendem Dankgefühl segnete.
Und in Briefe der Lebenden versenkte ich mich und ließ mich zurücktragen zu jenen Anfängen, über denen das ganze Glück des Frühlingshimmels war.
»Ach, lieber Falke: – schrieb mir Dehmel – meinen Sie denn, mir sei es nicht ›schmerzlich‹ gewesen, meine alten Briefe an Sie zu lesen? Vielleicht noch schmerzlicher als Ihnen! Sie waren schon damals im Begriff, sich das vielbespöttelte Schneckenhaus anzulegen, in das wir uns schließlich doch alle vor der Welt verkriechen müssen; ich kroch noch mit vollkommen nackter Haut in dem Weinberg des Herrn herum, und wie fühlbar ist sie mir seitdem geschunden worden! Man hat dann schließlich keine Zeit mehr für Hautbalgereien, sonst wird man mit dem Hausbau nie fertig. Aber ein Trost ist doch bei all dieser Schinderei: sie treibt uns nur scheinbar in uns selbst zurück: eben das Schneckenhaus, das wir uns bauen, wird ja einst der schönste Unterschlupf für die Armen, die nicht bauen können.«
*
Es ist heute der 1. März des Jahres 1912, einem kurzen, strengen Winter sind frühzeitig milde Tage gefolgt. Sommerwarm liegt die Sonne auf den werdenden Beeten und den braunen Büschen. An den Stachelbeersträuchern kommen die ersten kleinen grünen Spitzen keck hervor, Schneeglöckchen entfalten zaghaft ihre weißen Röckchen, wie junge Mädchen in Pfingstkleidern; nur mutig, es wird euch nicht frieren, heute nicht. Aus dem Nachbargarten leuchtet ein blankes Gelb herüber, eine winzige Krokusfamilie im Feststaat. Sonst ist alles noch kahl und winterlich. Doch nein, siehe da, erste Kätzchen an den Weiden und dort hinten am Teich, lang und schlank, wie goldene Fäden, Erlenkätzchen. Ja, nun ist der Frühling nicht weit. In all dem Buschwerk rumort es schon und in den schlanken Birken und in den Eichen und Ahornbäumen und in der jungen Rotbuche auf dem Rasenfleck; man müßte es hören können, hätte man nur feinere Ohren.
Wie ich euch liebe! Von klein auf wuchst ihr mir ans Herz. O, die Freude des Gärtners an seinem jungen Bäumchen!
Ich war als Gärtner ihm bestellt
Und zog es auf, so Jahr für Jahr,
Und war kein Bäumchen auf der Welt,
Das so ein liebes Bäumchen war.
Und hatten andere Freude dran,
War meine Freude größer noch,
Und kam einmal ein Nörgler an.
Ich lächelte – und liebt es doch.
Und jetzt, da es in Blüte prangt.
So zart und weiß und wunderfein,
Erschrickt mein Herz und zagt und bangt:
Das Bäumchen, Narr, ist ja nicht dein.
Die Früchte, die sich leise jetzt
Aus diesen Blüten ringen los,
O Gott, ein Fremder kommt zuletzt
Und schüttelt sie sich in den Schoß.
Doch das war ein junges Menschenbäumchen. Ihr aber blüht mir, und eure Früchte lohnen meine Liebe Jahr um Jahr. Wie lange noch?
Zu beiden Seiten, in den Nachbargärten, ging vor kurzem der Tod und bettete hier ein junges Leben unter dem Weihnachtsbaum zur frühen Ruhe und nahm dort einem Mann aus der Mittaghöhe des Lebens die Gartenschere aus der fleißigen Hand. Die Bäumchen, die dieser beschnitt, schwellen in Saft und wollen grünen, und auf den Steigen, wo die jungen müden Füße schwankten, liegt die volle Sonne und küßt auf den schwarzen Rabatten die ersten Veilchen wach. Auf der Abendseite des Lebens stehend, sehe ich über alle Gärten hinweg in die verschleierte Ferne, und sehe am violetten Saum der Welt zwei dunkle Flügel schweben.
*
Und nun, kleine bescheidene Feder, die sich nie groß gedünkt, die aber immer in Liebe und Zärtlichkeit und Dank getaucht war, schreibe du jetzt die letzten Seiten dieses wunderlichen und bunten Buches. Nicht den Toten soll unser letztes Wort gelten, sondern den Lebenden.
Dir, liebes Weib, die ich dich meine »Tempelhüterin« genannt habe.
Das hab' ich dir zu danken,
Daß du die grünen Ranken
Des Glücks zu einem stillen Zelt mir biegst,
Davor du ohne Klagen
Getreu an allen Tagen
Als meines Friedens wache Hüterin liegst.
Du hörst die leisen Klänge,
Die heimlichen Gesänge,
Und horchst mit einem halben Ohr hinein,
Und durch des Vorhangs Falten,
Den deine Hände halten,
Dringt nicht des Tages frecher Lärm und Schein.
So läßt du mich gewähren,
Und weißt den Gott zu ehren,
Der herrisch dich von meiner Seite scheucht,
Und träumst von Ruhmessternen,
Und siehst in goldne Fernen
Mit einem stillen, seligen Geleucht.
Und euch, ihr beiden Mädchen, deren Wege schwer sein werden, denn Ihr habt von dem Träumerblut Eures Vaters in den Adern. Ihr seht goldene Füße tanzen, wie er, und hört gleich ihm das Klingen silberner Harfen. Sei es in Freude, sei es in Leid, mögen immer Eure Tage im Rhythmus eines höheren Lebens kreisen über allem Gemeinen und Niederen.
Und du, mein Junge, in dem noch die Böcklein einer spielerischen Jugend gar närrische Sprünge machen, gib mir deine kleine Hand. Bist du auch der Unverständigste, so will ich dir doch das Beste und Ernsteste, was ich noch zu sagen habe, ans Herz legen.
Ich war ein Junge wie du, nur um weniges jünger, als ich von den Wällen meiner Vaterstadt die feurigen Türme, von denen ich auf den ersten dieser Blätter erzählte, in den aufgehenden Morgen hineinragen sah. Dieser herrliche Anblick prägte sich meiner kleinen Seele tief ein, und ich träumte Tag und Nacht von dem goldenen Bilde, und als ich größer wurde, war es mir ein Symbol alles Goldenen, was des Menschen Sehnsucht, himmlischer Abstammung sich bewußt, wie ein Winken aus der höheren Heimat über dem Dunst dieser Erde leuchten sieht. Aber das Leben ist ein Wandern auf breiten staubigen Straßen, und die goldenen Bilder erlöschen und versinken wohl auf lange Strecken, manchmal aber für immer.
Vielleicht hast du auch schon ein solches Bild in dir aufgenommen und trägst es verschlossen in deinem kleinen Herzen und hütest es wie ein schamhaftes Geheimnis; denn von solchen Erlebnissen pflegt man nicht zu sprechen, weil man ahnt, daß ein Hauch genügt, Heiligstes zu beflecken.
Bewahre dir fürs Leben so ein Heiligstes in der Seele. So lange noch ein Fünkchen glüht von diesem Golde, solange kannst du nicht ganz verloren gehen.
Du bist anders als dein Vater. Es ist fremdes Blut in deinen Adern, und ich muß manchmal daran denken, daß deine Mutter von den Wellen des Mississippi geschaukelt wurde, und daß deren Mutter als Kind die freie Luft der Schweizer Berge atmete. Möge dir von daher all das Gute gekommen sein, das dein Vater dir nicht mit ins Leben hat geben können. Ich denke, du wirst nicht beiseite stehen, du wirst zugreifen und dir das Deine nehmen.
Ich ließ jeden Tag an mich herankommen. Ich war wie ein verwehtes Saatkorn, das auf einem breiten Strom dahintreibt. Wird es sinken, oder wird es irgendwo an das Ufer gespült werden und Wurzel treiben und keimen?
Es war ein Glück, daß ich meinen Boden fand, und die Leute sagen, es sei kein wertloses Korn, das da angeschwemmt worden. Aber ein Glück bleibt es doch, und ich muß in Demut sagen, mein ganzes Leben stand unter einem guten Stern.
Ob das Samenkorn von der Rose weiß, die in ihm schlummert? Der Wurm von dem Schmetterling?
Ein ewiges Ahnen geht durch alle Kreatur von ihrer göttlichen Bestimmung. Und das war es, was mich trug, bis in diese Tage hinein, und was mich weiter tragen wird, solange ich die Sonne noch grüßen darf: ein kindliches Vertrauen, du ruhst in sicherer Hand. Andere nennen es Gottvertrauen. Und warum soll ich es nicht auch so nennen?
Und das ist es, was ich wünschte, dir und deinen Schwestern ins Blut gegeben zu haben, diese meine Art Frömmigkeit, die mich jeden neuen Morgen mit fröhlichem Herzen hat begrüßen lassen, und die auch heute noch klingende Türme vor sich sieht, die mit goldenen Fingern in den aufgetanen Himmel zeigen.
Ende