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III

Eine lange Eisenbahnfahrt bis in das Herz von Thüringen hatte mich ermüdet. Gern hatte ich das dumpfe, überheizte Abteil mit seinen harten Bänken verlassen, hatte meinen kleinen Koffer in die Hand genommen und mich auf den Weg ins Städtchen gemacht; das lag ein paar Minuten vom Bahnhof entfernt. Doch bevor ich in die erste Gasse einbog, hatte mich ein mäßig hoher, schön geformter Hügel angelockt; er erhob sich unmittelbar vor den Häusern und ermöglichte einen prächtigen Überblick. Hier saß ich nun auf einem großen Feldstein, den Koffer neben mir im Grase, und sah meinen künftigen Aufenthaltsort inmitten einer sonnigen Frühlingslandschaft zu meinen Füßen liegen.

Eine liebliche Hügellandschaft, die letzten Ausläufer des Thüringer Waldes, betteten das Städtchen in einen sanften Talkessel. In der Nähe zeigte sich zwischen ausgebreiteter Heidedecke ein sandiger Boden, hier und da mit kurzem Gestrüpp bestanden. Weiterhin bewaldeten sich die Hügel mehr und mehr und reckten sich höher; die beiden höchsten standen in der Ferne wie zwei dunkle Zwillingsbrüder unmittelbar nebeneinander und grüßten ernsthaft herüber.

Es war mir wohlig zumute in der schönen Frühlingswelt um mich herum, und ich vergaß wirklich emen Augenblick, daß ich nicht lange auf meinem Stein verweilen durfte, sondern mich meinem Prinzipal pflicht- und höflichkeitsgemäß alsbald vorzustellen hätte. Das Rund der stillen Hügel und Wälder umgab mich wie mit weichen Friedensarmen, die ersten Insekten summten im Kraut zu meinen Füßen, und das gleichmäßige Getön spann mich ein, so daß ich in ein selbstvergessenes Träumen verfiel, aus dem mich erst die schwatzenden Stimmen nahender Weiber jäh auffahren ließen. Schwer bepackt, die vollen Körbe auf den gebeugten Rücken, gingen sie unten vorbei, und jedes warf einen verwunderten Blick zu mir herauf, den der Reisekoffer ihnen als einen zugereisten Fremdling offenbaren mochte.

Ich sah nach der Uhr und sprang schnell auf. Zu lange hatte ich mich hier verträumt. Eiligst griff ich nach meinem Koffer und schritt in die abenddämmerigen Straßen hinunter. Hier fand ich alsbald am Markt die einzige Buchhandlung am Platz. Es war eins der ansehnlichsten Häuser; zweistöckig, von solidem Äußeren, lag es breit und wohlgenährt zwischen zwei Gasthöfen. Der eine war offenbar der vornehmste des Ortes und nannte sich denn auch »Hotel zum goldenen Engel«, während der andere, von geringerem Aussehen, sich schlicht und recht mit der Bezeichnung »Lindes Gasthof« begnügte. Da vor der Tür aus einem geräumigen Marktbrunnen ein klares Wasser mit Geräusch hervorsprudelte, konnte es mir an diesem Ort meiner zukünftigen Tätigkeit an leiblicher Erquickung und Stärkung wahrlich nicht fehlen, zumal sich der Buchhandlung gegenüber, wie ein schneller Rundblick mir zeigte, auch noch tröstlicherweise die Apotheke befand.

Der Marktplatz war noch stiller als die Gassen, die ich vorher hallenden Schrittes durchwandert hatte; nur in der offenen Tür der Apotheke rekelte ein blonder Jüngling, der mich angelegentlich durch sein Augenglas musterte. Gewiß wußte er, wer ich war, da ich so geradeswegs auf mein Ziel zusteuerte.

Nun hatte mir das Herz ein wenig geklopft, je mehr ich mich dem Hause näherte, und ich tat zuvor einen tiefen Atemzug, ehe ich in den Laden eintrat. Hier kam mir sogleich ein wunderliches Männchen entgegen. Es trug eine schwarze, recht abgetragene Pudelmütze auf dem dichten, blonden Krauskopf, den indessen schon einige Silberstreifen durchzogen, und hatte um den Hals einen dicken, bunten Wollschal, der, zweimal herumgewickelt, doch noch mit ansehnlichen Enden nach hinten über die Schulter hing. Mit vorgestrecktem Gesicht schoß es auf mich zu und gab ein paar Schnaubtöne von sich, indem die lange Nase die Luft heftig einsog, als wollte sie sogleich eine Witterung von mir gewinnen. Das Männchen, das mich an meinem Reisekoffer gleich erkannt haben mochte, musterte mich von oben bis unten, wobei es ein Paar kurzsichtige Äuglein fast ganz zusammenkniff. »Sind Sie es?« fragte es mit singendem Tonfall. »Wo kommen Sie denn nun jetzt her? Der Zug ist doch schon seit fünf Uhr eingelaufen?« Dabei warf es seine Pudelmütze auf den Ladentisch und riß sich mit ein paar kühnen Windungen den Wollschal vom mageren Hals. Es hatte sich mir nicht vorgestellt, aber ich vermutete gleich den Geschäftsführer in ihm, mit dem ich über den Antritt dieser Stellung korrespondiert hatte; sein Name, Nutzsche, schien mir zu seinem Äußeren zu passen. Mein Herzklopfen war längst verschwunden, denn dieses Männchen hatte nicht das Aussehen eines gestrengen Gebieters, vor dem man Furcht zu haben braucht. Doch entschuldigte ich mich, im Bewußtsein, eine Ungehörigkeit begangen zu haben, noch demütig genug: ›Es hätte mich gelockt, von dem bequemen Hügel gleich einmal einen Rundblick über meinen künftigen Wohnsitz zu genießen, und da hätte ich mich im Anblick der lieblichen Landschaft ein wenig verträumt.‹

Dieses schien ihm zu gefallen. »So, so,« sagte Herr Nutzsche gutmütig. »Nun, es ist recht.« Er murmelte aber noch ein paar unverständliche Worte vor sich hin, deren Ton auch wieder auf Mißbilligung schließen lassen konnte. »Wir hatten Sie schon viel früher erwartet,« sagte er dann wieder laut. »Wir glaubten schon, Sie kämen überhaupt nicht mehr.« Er zog hastig die Uhr, die er mehr beschnüffelte als besah und meinte: »Wir schließen ja gleich. Es geht ja schon auf sieben. Da will ich Sie noch schnell dem Herrn Chef vorstellen, damit er doch weiß, daß Sie hier sind.«

Ich war ihm inzwischen in einen kleinen Nebenraum gefolgt, in dem sich das Kontor befand. Hier stand an einem Pult ein langer, flachsblonder, junger Mann mit einem goldenen Kneifer auf einer kleinen, kecken, fast kindlichen Stupsnase. »Herr Bandler, Ihr Kollege,« stellte das Männchen vor. Wir machten uns eine steife Verbeugung, beäugelten uns neugierig und gaben beide zu gleicher Zeit einen kurzen Räusperlaut von uns. »Bitte,« sagte das Männchen, »kommen Sie mit nach oben.«

Ein alter, freundlicher Herr mit dem Aussehen eines Theologen empfing uns. Er führte jedoch den Titel Justizrat, hatte seine Rechtsgeschäfte aber längst aufgegeben, wie ich nachher erfuhr. Wieweit er sich um die Führung der Büchergeschäfte kümmerte, ist mir nie ganz klar geworden; im Laden ließ er sich selten oder nie sehen, und die Seele des Geschäftes war jedenfalls das Männchen mit dem kurzsichtigen, ewig schnüffelnden und schnaubenden Gesicht. Doch war auch ein kleiner Verlag mit dem Sortiment verbunden, und diesem mochte wohl vorzugsweise die Tätigkeit des Herrn Justizrat zugute kommen.

Nach einer kurzen, freundlichen Begrüßung und nach ein paar Fragen nach Herkunft, Alter, Familie und Reise war ich entlassen und stieg mit dem schnaubenden Männchen wieder in die Geschäftsräume hinab, wo der Lehrling schon beschäftigt war, den Laden zu schließen, und wo der flachsblonde Kollege auf unsere Rückkehr gewartet hatte.

»Herr Bandler wird so freundlich sein, Sie in Ihre Wohnung zu führen,« sagte das Männchen. »Wenn sie Ihnen nicht gefällt, findet sich wohl eine andere. Einstweilen dürfte sie ausreichen. Guten Abend, meine Herren; morgen um neun Uhr sind Sie wohl zur Stelle.«

Er hatte sich seinen Wollschal mit zwei raschen Schwenkungen um den Hals gewickelt, setzte seine Pudelmütze auf und verließ uns mit einem freundlichen Kopfnicken.

*

An der Ecke des Marktplatzes und der zum Bahnhof hinunterführenden Hauptstraße lag ein wunderliches, altes Fachbauwerk. Es bestand aus Vorderhaus und Hinterhaus, die einen länglichen Hof einschlossen. Das Gewese hatte früher einmal landwirtschaftlichen Zwecken gedient, gehörte aber schon seit Generationen keinen Ackerbürgern, sondern biederen Handwerksmeistern. Hier hatte man mir zwei Zimmer gemietet; sie lagen aber im Hinterhaus, und ich konnte zu ihnen nur über eine gedeckte Galerie kommen, die, nach der Hofseite hin offen, Vorder- und Hinterhaus miteinander verband. Unten lag der mistbedeckte Hofplatz, auf dem die Hühner ihr Wesen trieben, und in dessen schmutzigster, verjauchter Ecke sich ein paar Schweine wohlfühlten. Ein kräftiger, ländlicher Duft stieg von da empor.

Mein gefälliger Begleiter hatte mich meiner Wirtin überliefert, einer alten, freundlichen Frau, die mich herzlich willkommen hieß. Sie führte mich in meine Wohnung, zündete die kleine Petroleumlampe an, die auf dem Tische stand, und fragte, ob ich Tee wünsche oder zum Abendessen ins Wirtshaus ginge, und ob sie mir etwa beim Auspacken meines Koffers behilflich sein könnte.

Ich sagte ihr, daß ich an diesem ersten Abend zu Hause bleiben würde, und bat um Tee. Sie brachte ihn mir, wünschte guten Appetit und eine gute Nacht und verließ mich zögernd, als ob sie sich gern noch ein wenig unterhalten hätte.

Sie hatte die Tür geräuschlos hinter sich geschlossen. Die Lampe verbreitete ein trauliches Licht in dem behaglichen Raum, aus der braunen Teekanne stieg der Brodem als ein seines Dampfsäulchen vergnüglich hervor, und das kleine Sofa hinter dem Tisch lud mich in seine Ecke ein. Da wurde mir's mit einmal so gemütlich und heimisch in dem stillen Gemach, daß ich vor lauter Behaglichkeit fröhlich mit den Fingern knipste, mich sorglich in das weiche Polster schmiegte und es mir gut sein ließ. Nach dem Essen erst machte ich mich daran, meinen Koffer auszupacken, die Kleider und Wäschestücke in den Schrank und den Schubladen der kleinen Kommode zu verteilen. Das ging mir schnell von der Hand, nur bei einigen Kleinigkeiten hielt ich mich länger auf, und als ein Letztes fiel mir ein Bündelchen Briefe in die Hand; es waren Briefe der Mutter. Ich konnte mich nicht enthalten, die Schnur zu lösen und auf diesem und jenem der teuren Blätter einen flüchtigen Blick ruhen zu lassen, um mich in dieser ersten Stunde meines Einwohnens in der Fremde auch eines Grußes aus der Heimat zu versichern. Der reine Hauch mütterlicher Liebe, der diesen zarten, feinen Schriftzügen entströmte, legte sich mir warm ums Herz und stimmte mich weich; ich gedachte eines allerletzten Päckchens, das noch auf dem Grunde des Koffers zurückgeblieben war, und holte nun auch dieses hervor. Es war ein Stück selbstgebackenen Osterkuchens, das mir die Mutter bei meinem Abschiedsbesuch im Elternhause in einen sauberen Bogen weißen Schreibpapieres eingewickelt hatte; es war nun schon ein paar Tage alt und ganz zusammengetrocknet, aber ich brach einen Brocken ab, schob ihn halb widerstrebend in den Mund und würgte daran. Dabei quoll es warm und weh in mir auf; dicke Tränen stahlen sich hervor und rannen mir langsam über die Backen. Ich trat ans Fenster, wie wenn ich mich dieser Tränen schämte und sie verbergen wollte, wo doch keiner im Zimmer war, der sie hätte bemerken können. Draußen war indessen der Mond in die Höhe gekommen und warf ein weißes Licht auf die stille Seitenstraße, die sich unter meinem Fenster zu einer etwas tiefer liegenden Quergasse hinabsenkte, hinter der eine Wildnis hoher Baumkronen sichtbar war. Ganz still und friedsam lagen die Gäßchen da; die schwarzen Schatten der vielgestaltigen Häuser und Dächer zeichneten sich wunderlich genug ab. Nur die hohen Bäume standen mit ihren zierlichen Frühlingszweigen wie silberne Filigrangewebe dunkel gegen die blaue Luft.

*

Traumlos schlief ich bis in den hellen Morgen. Ich kleidete mich schnell an, trank hastig meinen Kaffee und begab mich ins Geschäft, wo ich alle schon zur Stelle fand; doch kam ich noch eben rechtzeitig genug, um mir eine Entschuldigung sparen zu können. Herr Nutzsche zog aber doch die Uhr, beäugelte und beschnüffelte sie und steckte sie mit einem gelinden Schnauben wieder ein; dann wies er mir meine Arbeit an.

Ich hatte mit Bandler meinen Platz an einem gemeinsamen, geräumigen Pult. Hinter uns an einem zweiten Doppelpult arbeitete ein großer, breitschultriger, etwa vierzigjähriger Mann mit einem roten Gesicht, aus dem zwei etwas verschleierte Augen blickten. Man sah es sogleich, der Mann war Trinker, oder war es doch gewesen. Er hieß Prätorius und hatte die Expedition und das Annoncenwesen an einer kleinen Zeitung zu leiten, die unter dem Namen »Der Waldbote« in unserem Verlag erschien und in der gesamten Umgebung fleißig gelesen wurde. Ihm zur Seite war ein blutjunges Schreiberlein gegeben, das hieß Jakob, war eine ehrliche Haut und trug gleich unserem Herrn und Meister bis in die warme Jahreszeit hinein einen wollenen Schal um seinen Hals gewickelt. Anders sein Pultkollege und Vorgesetzter, der Herr Prätorius; der trug auch bei der stärksten Kälte keinen Überrock. Er rieb sich dann wohl einmal die großen Hände und schlug die Arme kreuzweise um den breiten Brustkasten, während ein verräterischer Duft aus seinem Munde anzeigte, was er an kalten Tagen für zweckdienlicher hielt, als einen gefütterten Überzieher. Ich hatte außer einem Teil der Buchführung den Ladenverkauf unter mir. Es wurden fast nur Gesang- und Gebetbücher gefordert, und zwar meistens von den Bauerfrauen, die an bestimmten Tagen mit den Erzeugnissen ihrer Felder und Gärten in die Stadt kamen. Er waren evangelische und katholische Leute in der Gegend, und wir dienten beiden Konfessionen mit dem gleichen Fleiße. Das Hauptgeschäft aber wurde in Papier- und Schreibutensilien gemacht.

Dieses Papiergeschäft war meine persönliche Angelegenheit, und da ich an diesem Zweig des Ladengeschäftes mit einem kleinen Gewinn beteiligt war, so widmete ich mich ihm mit besonderem Eifer und wurde so unversehens aus einem Buchhändler zu einem Papierhändler. Anfangs machte es mir Schwierigkeit, mich mit den Leuten zu verständigen, denn die guten Dörfler sprachen unverfälschten Dialekt, und namentlich das schnelle, schnatternde Mundwerk der Weiber machte mir manches Mißverständnis. Dazu kam die geradezu babylonische Verwirrung, die in den Münzverhältnissen herrschte, denn das neue Geld war inzwischen aufgekommen, die Reichsmark und die Nickelpfennige. Damals aber waren die Münzen und Zettel sämtlicher kleiner thüringischer Staaten noch in Verkehr; Preußen und Bayern, beide in nächster Nachbarschaft, brachten ihr Geld über die Grenze, österreichische Gulden und Kreuzer schoben sich dazwischen, kurz es war ein Wirrwarr, der durch das viele Papiergeld, das hier wild durcheinander lief, noch vermehrt wurde. Die Bauern fanden sich schlecht in die neue Markwährung, und ich hatte mit dem Umrechnen der vielen Kreuzer und Gulden und Taler und Groschen meine liebe Not. Allmählich fand ich mich aber auch hiermit so gut ab, wie mit der singenden und zwitschernden Mundart, wozu nicht wenig beitrug, daß hier alles ohne Hast erledigt wurde, während in Hamburg immer die Peitsche dahinter war. Jeder Tag ging in einer lässigen und fast gemütlichen Pflichterfüllung vorüber. Manche müßige Viertelstunde blieb, wo wir nichts Besseres taten, als auf den Markt hinaus maulafften, uns über Wetter und Bier unterhielten, das Leben gut und an der Welt nichts auszusetzen fanden.

Viel Augenweide bot der Markt für gewöhnlich nicht, wenn nicht gerade drüben vor der Apotheke einer der beiden Giftmischer erschien und unter Arm- und Kopfverrenkungen ein telegraphisches Gespräch mit uns anzufangen suchte. Nur an den Markttagen zeigte sich ein belebtes, heiteres Bild; da war der geräumige Platz von Buden und Tischen dicht besetzt, und dazwischen schoben sich die Planwagen mit ihrem mehr oder weniger weißen Linnendach. Eine Menge buntgekleideter Bauern und Bäuerinnen feilschten vor ihren Körben mit den Käufern, müßiges Volk, besonders die Jugend, lungerte umher und trieb Schabernack, und ein beständiges Gewirr von schnatternden Geräuschen, woran sich auch das verhandelte Gänse- und Entenvolk lebhaft beteiligte, drang durch die offene Ladentür zu uns herein. Was diesem Marktplatz einen besonderen Reiz auch für uns verlieh, waren die Wurstbuden, deren Duft gleichfalls den Weg zu uns fand. Eine hatte ihren Stand gerade vor unserer Buchhandlung, und wir versäumten denn auch nicht, unser Paar heißer Bratwürstchen, das appetitlich zwischen zwei Weißbrothälften lag, aus der Hand zu verzehren, worin uns Herr Nutzsche mit gutem Beispiel voranging.

Pünktlich um die elfte Morgenstunde kugelte sich an solchen Markttagen ein kleines, dickes Männchen in den Laden hinein, das von Fett und Behagen triefte; einen grauen, schmierigen Schlapphut auf einem großen Graukopf, in der Hand eine angebissene Wurstsemmel, deren Fett um seinen breiten Mund glänzte, in der anderen noch eine unversehrte Reservesemmel, benutzte er, mit oder ohne Gruß, je nachdem er den Mund gerade voll oder leer hatte, unseren Laden als Frühstückslokal. Aus welchem Grunde ihm dieses Vorrecht zugestanden wurde, habe ich nie erfahren. Vielleicht war er einmal ein guter Kunde des Geschäftes gewesen; zu meiner Zeit erinnere ich mich nicht, daß er je etwas kaufte, als einmal für einen Kreuzer Stahlfedern. Er hieß Kreußler und war Musiklehrer. Wir nannten ihn aber unter uns immer nur Wurstler, weil wir ihn nie anders, als mit einer Bratwurst sahen. Unterricht gab er damals nicht mehr; er privatisierte und verbrachte seine Abende am Stammtisch eines kleinen Lokals, das wir nicht besuchten. Prätorius kannte ihn ein wenig näher und behauptete, er sei früher ein tüchtiger Klavier- und Orgelspieler gewesen und verberge unter so absonderlichem Äußeren eine weiche Künstlerseele. Mir wollte das nicht in den Sinn, wenn ich das breite und schrille Lachen des kugeligen Männchens durch den Laden wiehern hörte. Wie kann dieser Mensch eine musikalische Seele haben? fragte ich mich. Erkundigte ich mich hier und da nach ihm, hieß es wohl: »O ja, der Kreußler. Man sieht es ihm nur nicht an.« Aber es waren auch immer welche da, die dazwischenriefen: »War mal, war mal!« Das hielt mein Interesse für den alten Musikanten wach, trotzdem er mir eigentlich unsympathisch war, und als er einstmals eine mitgebrachte Papierrolle auf dem Ladentisch hatte liegen lassen, konnte ich mich nicht enthalten, sie zu öffnen. Ich glaubte, es wären Notenblätter darin, die mir vielleicht einen Schluß auf sein Können gestatteten; es waren aber nur einige Reste einer alten fleckigen, blauen Tapete, die ich schleunigst wieder zusammenrollte.


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