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Das neue Jahr fand mich wieder an meinem Platz am Pult. Ich fühlte mich wie ein Neuerstandener, der aufrichtig dankbar zu sein hatte, daß ihm der Anblick des Marktplatzes, des Brunnens und des alten Rathausturmes noch wieder vergönnt worden war. Ein reiner Schnee lag auf Dächern und Straßen, doch war es ein stilles und klares Frostwetter ohne Wind, der meiner kaum genesenen Lunge hätte schaden können. Aber nicht nur die Natur empfing mich schonend und freundlich, auch die Menschen zeigten sich wohlwollend, teilnehmend und erfreut, mich in ihren Kreis wieder aufnehmen zu können. Der Alte in den Wolken empfing mich gütig, führte mich des Pfeifenqualmes wegen in ein Nebenzimmer und ermahnte mich, nun auch vorläufig noch auf meine Gesundheit recht bedacht zu sein; so eine längere Krankheit sei ja überall recht störend, und Herr Nutzsche und Bandler würden sich freuen, daß ich wieder da sei.
Prätorius und Martha hatten mich gleich am ersten Abend zum Tee gebeten. Allerlei Festgebäck fand sich noch vor, und es war wie eine stille Nachfeier weihnachtlicher Tage. Marthas Blicke ruhten wiederholt auf mir, und eine leichte Röte der Freude verklärte ihr seines, schmales Gesicht. Prätorius wollte musizieren, aber sie wehrte ab, um mich zu schonen. Dennoch spielte ich ein Adagio von Beethoven. Sie sah mich dankbar an. »Es hat mir unsäglich wohlgetan,« sagte sie leise, »ich habe solange nichts gehört.«
»Aber!« rief Prätorius betroffen, und sie errötete. »Ich will dir nicht weh tun, lieber Alwin. Dein Geigenspiel ist wie das tägliche Brot, das man nicht achtet und das doch eigentlich das liebe Brot ist. Aber so ein Adagio, von unserem Freund gespielt, ist wie eine Art Festkuchen, den man festlich begrüßt.«
Er war es zufrieden und meinte nur: »Man soll aber auch für das tägliche Brot dankbar sein.«
»Das soll man, und ich bin es auch.« Sie reichte ihm die Hand, und ich freute mich ihrer seinen Art, ihn zu schonen.
*
Die Faschingszeit brachte als glanzvollstes Ereignis einen Maskenball in der Kasinogesellschaft. Uns Buchhandlungsgehilfen wurde eine Einladung zuteil; wir wurden dadurch sehr geehrt, denn nur die Honoratioren und die wenigen Offiziere der kleinen Garnison gehörten diesem Zirkel an. So waren wir nicht wenig stolz und ließen uns durch das Gefühl, eigentlich doch wohl nur als Lückenbüßer gebeten zu sein, nicht beunruhigen.
Das Wichtigste für uns war nun, uns um eine passende Maske zu bemühen. Das war nicht schwer, denn im ersten Stock eines Hauses am Markte hatte eine Garderobiere aus der Residenz eine Niederlage von Theaterkostümen für die Faschingzeit etabliert. Die Auswahl war allerdings nicht leicht, da jeder so schön wie möglich erscheinen wollte. Endlich entschied ich mich für einen Malteserritter, dessen langer, weißer Mantel mir gut stand. Barett und Degen gaben mir ein Ansehen, des Kreuzes auf dem Mantel würdig. Bandler fand nichts Passenderes für seine langen Glieder als einen roten Husaren, der ihm dafür aber wie angeschneidert saß. Seine straffe Haltung paßte gut zu diesem militärischen Mummenschanz, und es fehlte ihm nichts, als ein keckes Bärtchen, das er hätte aufzwirbeln können. So waren wir denn beide befriedigt, dünkten uns höchst ansehnlich und der Kasinogesellschaft würdig, und hatten – ein paar große Kinder – nichts weiter mehr im Kopf als unseren Maskenball.
Aber ein Brief der Mutter dämpfte mir diese Vorfreude. Ich hatte nachträglich von meiner Krankheit berichtet, und da ich vielleicht, wie man es bei solchen Gelegenheiten wohl zu tun pflegt, die überstandene Gefahr mit etwas breitem Pinsel ausgemalt hatte, so hatte ich sie damit aufs höchste erschreckt. Besorgt schrieb sie zurück, ich möchte mich doch um des Himmels willen schonen und ihr erhalten, denn alles bräche jetzt über sie zusammen. Sie könne es mir nicht länger verschweigen, die arme Schwester sei sehr krank, so daß wenig Hoffnung wäre sie am Leben zu erhalten. Das Geschäft wäre so gut wie ruiniert, da der Vater seine Zeit im Wirtshaus oder beim Angeln verbringe; die Auflösung aller Verhältnisse sei in drohende Nähe gerückt, wenn nicht von irgendeiner Seite Hilfe käme.
Ich war ganz zerschmettert. Erst allmählich richtete ich mich an der Hoffnung auf, daß meine Mutter in dem Schmerz um die Kranke zu schwarz sähe. Ob denn ein Konkurs bevorstehe, fragte ich zurück, und erhielt umgehend einen etwas tröstlicheren Brief; ich solle mich nicht ängstigen, nicht aufregen, noch sei alles unentschieden, und man hoffe auf ein glückliches Arrangement. Die Gewißheit, daß ich vernünftig lebe und auf meine Gesundheit Bedacht nähme, würde ihr ein Trost in dieser schweren Zeit sein. Also war es doch nicht ganz so schlimm, wie ich befürchtete, und ich glaubte mich den Faschingsfreuden ohne Bedenken hingeben zu können.
Es lag Schnee, und wir zitterten vor Frost in der ungewohnten Tracht, als wir dem Schloß zustapften. Alle Fenster waren festlich erleuchtet, geputzte Lohndiener empfingen uns, und mir schlug mein Malteserherz unter dem Ritterkreuz wie vor der Schlacht. Auch Bandler verlor einen Augenblick die militärische Haltung und stolperte auf der Treppe über seinen Säbel. Wir fanden jedoch schnell unsere Sicherheit wieder, zumal wir glauben durften uns unbekannt unter die Menge mischen zu können, die in den beiden großen Sälen durcheinanderschwirrte.
Der verführerische Anblick so vieler reizender Masken berauschte uns. Wo kamen alle diese jungen und hübschen Mädchengestalten her? Lebten sie hinter Klostermauern und tauchten nur einmal im Jahr bei festlichen Gelegenheiten feengleich auf? Eine schlanke Zirkassierin zog meine Blicke auf sich, als ich von einem untersetzten holländischen Schiffer angerempelt wurde. Ich wandte mich, tat ernstlich beleidigt und legte die Hand an den Degen, worauf er mit allen Zeichen eines komischen Entsetzens floh; die schöne Zirkassierin aber war inzwischen verschwunden. Alle Augenblicke zerrte man an meinem langen Mantel, drehte mich um und betrachtete mich neugierig. Ich sah, daß ich auffiel und hörte, wie man sich fragte: wer ist dieser Malteser? Ich war selig, stolzierte mit meinem Degen durch die Säle, ließ den Mantel möglichst malerisch wallen und brachte die lange Feder meines Baretts durch ein häufiges vornehmes Neigen meines Kopfes in ein leises Auf- und Niederschwanken, wodurch ich mir ein erhöhtes Ansehen zu geben glaubte.
Die Musik hatte das Regiment gestellt, eine etwas lange Polonäse eröffnete den Tanz, und bald wiegten sich die Paare im Walzer durcheinander. Ich war ein schlechter Tänzer, und Mantel und Säbel hinderten mich noch mehr. Dennoch drehte ich mich ein paarmal durch beide Säle, das erstemal mit der dunklen Zirkassierin, die nach kurzem Zaudern meinen Arm genommen und mich geschickt führte; sie bekam es aber bald satt, ließ es mich merken, und ich führte sie zu Platz. Um so besser glückte es mir mit einer kleinen Tirolerin, die sich lustig plaudernd in meinen Arm hing, sich aus meinem Holpern nichts zu machen schien und über meine Ungeschicklichkeit herzlich lachte.
»Unterm Johanniterkreuz sucht man keine Tänzer,« sagte sie. »Tapferkeit und Frömmigkeit sind die Zierden eines Ritters, und an beiden lassen Sie es hoffentlich nicht fehlen.«
»Gott meine Seele und den Degen den Frauen,« antwortete ich.
»Das ist hübsch von Ihnen; obgleich Gott auch eigentlich auf Ihren Degen Anspruch hätte. Aber ziehen Sie ihn nur für uns; wir armen Würmer haben soviel auszustehen, daß wir den Schutz eines tapferen Ritters wohl brauchen können.«
»Na, na,« sagte ich, »ist es so arg?«
»Gewiß ist es das. Ich bin auch so ein armes Wurm. Herr Leutnant, gelt, Sie gehen in den Tod für mich?«
Sie lachte schelmisch auf: »Herr Leutnant, hab' ich gesagt. Mein Gott, so ein Malteserleutnant!«
Wieder rempelte mich der Seemann an.
»Na, Dicker,« fuhr sie ihn an. »Er ist hier nicht an Bord, immer hübsch manierlich.«
»All right!« sagte der Holländer und verschwand in der Menge.
»Kennen Sie den?« fragte sie.
»Nein, Gnädigste.«
Ein Türke, der uns schon eine Weile beobachtet hatte, näherte sich und bat um einen Tanz.
»Wenn der Komtur mich freigibt,« meinte sie lachend. Mit einer ritterlichen Verbeugung trat ich zurück.
Ich drängte mich durch die Menge und sah mich nach einer anderen gefälligen Maske um, als ein Clown auf mich zukam, der sich bisher in beiden Sälen umhergetrieben hatte, ohne viel mehr Humor zu entwickeln, als hier und da einen Pritschenschlag auszuteilen. »Kommen Sie, Kollex,« sagte er, nahm mich ohne weiteres unter den Arm und zog mich mit sich fort. An dem »Kollex« erkannte ich ihn. So pflegte der Sohn unseres Chefs uns vertraulich zu nennen.
»Sie?« fragte ich überrascht.
»Ich!«
»Und wie haben Sie mich erkannt?«
»Gar nicht; Bandler hat Sie mir verraten. Man hält Sie hier allgemein für einen Leutnant des Regiments, das früher hier in Garnison lag, und der als ein großer Schwerenöter in lebhafter Erinnerung bel allen Frauenzimmern geblieben ist.«
Etwas Angenehmeres hätte er mir kaum sagen können, und ich folgte ihm nur ungern, als er mich mit Gewalt fortzog.
»Es ist ja schauderhaft heiß unter der Maske,« sagte er. »Das hält ja kein Pferd aus. Wir sitzen schon lange im Turmzimmer beim Sekt.«
Gern hätte ich die kleine Tirolerin noch einmal aufgesucht, die mich also auch für den Schwerenöter von Leutnant gehalten hatte. Welche Abenteuer könnten mir noch blühen, wenn ich jetzt die Rolle weiterspielen würde. Die Zirkassierin hatte mich natürlich auch für diesen Leutnant gehalten. Vielleicht war sie eine vornehme Seele und der Ruf des jungen Offiziers nicht zum besten. Oder vielleicht eine alte Geschichte, ein verwundetes Herz. Ein Roman. Ich segnete den Leutnant und verfluchte den Clown.
Im Turmzimmer, einem gemütlichen, runden Gemach, saßen Bandler, der »Legationsrat«, Kluge und ein mir unbekannter junger Mann hinter der Sektflasche. Kluge warf mir einen spöttischen Blick zu. Er war also der Holländer, der mich wiederholt angerempelt hatte?
»Vorzüglich!« rief Bandler mir zu. »Kein Mensch erkennt Sie. Und wenn Sie wüßten, wie die Damen hinter Ihnen her sind.«
»Na! Aber alles andere!«
»Das werden nette Geschichten sein!«
»Dummes Zeug! Ein leichtsinniges Huhn war er, aber ein famoser Kerl!«
»Und gar nicht einmal hübsch! Aber die Weiber liefen ihm nach.«
»Im Umkreis von drei Meilen ist wohl kein Dorf, wo er nicht ein Mädel sitzen ließ!«
»Na, danke!«
»Wollen Sie mich gefälligst dem Herrn vorstellen?« fragte der Unbekannte. Wir wurden bekannt gemacht, und Herr Studiosus Lammert setzte sich würdevoll wieder hin. Er war der Sohn von Kluges Chef und fühlte sich als die Blüte der Haute volée; ein blasses, blasiertes, übrigens ganz hübsches Herrchen. Er war anfangs Kadett gewesen, doch der Drill hatte ihm nicht zugesagt; jetzt studierte er Medizin.
Nun hub eine große Trinkerei an, der Sohn unseres Chefs fühlte sich berufen den Wirt zu machen. Der »Legationsrat« glaubte als Geschäftsführer der Firma, in deren Wohnräumen dieses Fest abgehalten wurde, sich gleichfalls hervortun zu müssen, und so kam eine Flasche nach der anderen auf den Tisch und leer wieder herunter. Zigarren und Zigaretten glimmten. Ein dichter Rauch hüllte uns ein, und bald war es in dem kleinen Turmgemach heißer und schwüler als im Tanzsaal. Doch schon waren die Köpfe soweit erhitzt, daß an eine Rückkehr in die Gesellschaft nicht zu denken war. Rauschend klang die Musik zu uns herein und wir schrien und lärmten dagegen an. Gläser zerklirrten, und ab und an erschien jemand an der Tür und warf einen verwunderten Blick hinein. Ein Diener, der in der Absicht gekommen zu sein schien, etwaigen Unfug zu steuern, verschwand, als er den »Legationsrat« in unserer Mitte sah.
Ich war, durch meinen Erfolg als Malteserritter gehoben, bald in eine übermütige Stimmung geraten; der Sekt löste alle meine Geister, und ich war zu meiner eigenen Verwunderung laut, wortführend und witzig. Kluge hingegen, auf den der Pommery einschläfernd zu wirken schien, saß mit geröteten Augen und schwerer Zunge mir gegenüber. Ihn zu sticheln und zu necken vergnügte ich mich besonders, da ich nur auf diese Weise Genugtuung für die jedenfalls absichtliche Anrempelei im Saal nehmen konnte. Der Schwerfällige vermochte in keiner Weise gegen mich aufzukommen. Endlich aber schien doch mein Witz mich zu verlassen. Ich sollte, wie ich nachher hörte, Anspielungen auf seinen Namen gemacht haben, entsann mich aber nicht eines der Worte, die ich übermütig herausgesprudelt hatte. Kluge jedoch war plötzlich aufgefahren und hatte mich angeschrien: »Das verbitte ich mir!« »Unerhört!« krähte auch der Studiosus mich an, dem ich überdies ein Dorn im Auge zu sein schien.
»Das verlangt Genugtuung,« ereiferte er sich. Als Kadett und Student mußte er natürlich ein besonders kitzliges Ehrgefühl zur Schau tragen.
»Er ist ja betrunken!« sagte Kluge verächtlich.
»Wer ist betrunken?« schrie ich.
Wir fuhren aufeinander los, und man mußte uns trennen. Als ich mich wieder setzte, merkte ich, daß der Wein seine Wirkung getan hatte; alles kreiste, und ich mußte mich gewaltsam zusammenreißen. Es gelang mir, aber ich sah alles nur wie durch einen Schleier.
Ob wir gleich die Sitzung aufhoben oder noch eine Weile weiter tranken, ist meinem Gedächtnis entschwunden. Genug, ich fühlte mich am Arm gefaßt und hinausgeführt. Undeutlich sah ich im Saal das Gewoge der bunten Masken, die Tirolerin huschte an mir vorbei und gab mir einen derben Schlag auf die Schulter, Trompeten schmetterten aus dem Saal – Gelächter – ein paar Walzertakte ...
Mir schwand die Besinnung. Als ich zu mir kam, hing ich im Boudoir der gnädigen Frau über einen Stuhl. Bandler stand neben mir, halb entsetzt und halb belustigt. Eine Magd war um uns beschäftigt, Scherben aufzusammeln, und aus einer roten Ampel fiel ein gedämpftes Licht auf die kleine Szene.
»Komm, komm!« mahnte Bandler, zog mich in die Höhe, stülpte mir meinen Federhut auf und schleppte mich hinaus. »Wie kommst du denn da hinein?« fragte er. Ich wußte es nicht. Er hielt einen Diener an, flößte mir Selterwasser ein, und ich kam langsam zu mir.
Wie wir die Treppe hinunter und aus dem Hause gekommen sind, weiß ich nicht. Draußen war es mondhell, frischer Schnee war gefallen und lag fußhoch.
Ich fing an zu singen. Bandler gebot mit zu schweigen, fing aber bald selbst an. Doch war er nüchtern genug, um mich schwankenden Ritter mit festem Arm durch den Schnee schleppen zu können. Fürsorglich brachte er mich ins Haus und führte mich bis vor mein Bett. Hier sank ich sogleich mit Mantel und Degen auf die Kissen nieder und in einen wüsten Schlaf, aus dem ich spät erwachte. Ich fand mich quer über das Bett liegen, griff nach meinem schmerzenden Kopf und erhob mich mühsam. Alle Glieder waren mir wie zerschlagen. Ich entledigte mich meines Ritterkleides, das mir, mit den Augen des Jammers angesehen, recht schmierig und lumpig vorkam. Ich suchte das Barett und fand es unter dem Bett wieder.
Ich war eben mit dem Ankleiden fertig, als auch Bandler schon erschien. Er war ganz auf den Beinen, aber höchst ärgerlich, ja verstört.
»Was sind das für Sachen?« redete er gleich auf mich ein. »Da hast du dir eine schöne Suppe eingebrockt!«
»Ich?«
»Ja, du!«
»Was ist denn? Wovon redest du?«
Da bekam ich denn zu hören, in welche Händel ich mich gestern verstrickt hatte, ohne daß mir irgend etwas bewußt geblieben war. Daß ich das Boudoir der gnädigen Frau in Unordnung gebracht und eine recht wertvolle Vase zerbrochen hätte, wäre noch das wenigste; aber ich hätte mit Kluge kontrahiert, wir hätten unsere Karten gewechselt, der Studiosus und der Einjährige hätten Öl ins Feuer gegossen, und der Zweikampf sei unvermeidlich, wenn ich mich nicht durchaus lächerlich und unmöglich machen wolle.
»Das ist ja alles Unsinn,« entgegnete ich. »Ich weiß tatsächlich von gar nichts, erinnere mich an nichts mehr.«
»Aber es ist so, und die Zeugen werden noch heute mittag erscheinen.«
»Und da soll ich mich duellieren?«
»Oder revozieren!«
»Blödsinn! Ist ja Kinderei!« rief ich.
»Ich werde hierbleiben,« sagte Bandler, »und ich will vermitteln, wenn dieser ekelhafte Patron, der Lammert, sich einstellt.«
»Er wird im Auftrag Kluges die Forderung überbringen.«
Also in allem Ernst ein Duell. Ich hatte nie eine Waffe in der Hand gehabt. »So ein Blödsinn!« rief ich ein über das andere Mal, während ich im Zimmer auf und ab ging. Das Ganze wollte mir noch so wenig glaubhaft vorkommen, daß von irgendeiner Furchtempfindung oder Besorgnis nicht die Rede war. Vielmehr schimpfte und schalt ich mich in einen Heroismus hinein, der bei mir, der ich kaum noch mit Flitzbogen und Pusterohr umzugehen wußte, etwas Groteskes hatte.
Als nun aber der Student erschien und mir mit ungeheuer wichtiger Miene Kluges Forderung überbrachte, kam ich aus meinem Heldenrausch wieder zu mir und stand mit beiden Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit. Der schien mir indessen doch bedenklich zu schwanken. Es war also ernst. Ich sollte mit der Pistole in der Hand Genugtuung für eine getane Beleidigung geben, und der Überbringer der Forderung wartete mit einer verletzenden Miene, die Zweifel an meinem Mut aussprach, auf meine Antwort. Bandler bemühte sich vergebens, zu vermitteln. Der blasierte Jüngling vor mir verlangte, ich solle erklären, daß ich in der »Besoffenheit« gehandelt habe, alles zurücknähme und um Entschuldigung bäte.
Das Wort »Besoffenheit«, von diesem Munde verächtlich ausgesprochen, reizte mich. Ich wurde sehr heftig. Alles, was dieser Kluge mir im Laufe der Zeit zugefügt hatte, schoß mir durch den Kopf. Anna! Der ganze Klub! Wie lächerlich, wie gedemütigt würde ich sein, wenn ich feige zurücktreten würde. Ich dachte an die zweimalige Anrempelung im Ballsaal.
»Er! Er! Er ist derjenige, der mit mir anzubandeln sucht!« rief ich außer mir. »Auf Schritt und Tritt stellt er sich mir in den Weg, reizt mich, verspottet mich! Ei zum Teufel, da fährt man auch einmal los. Man ist ja kein Schaf.«
»Sie haben Herrn Kluge in offener Gesellschaft ein lächerliches Schaf genannt!«
»Ist er auch! Ist er auch!« schrie ich außer mir.
»Aber Kollex,« rief Bandler mahnend.
»Schriftlich gebe ich es ihm!« schrie ich noch wütiger.
»Sie halten also Ihre Beleidigung aufrecht?« fragte der Student. »Sie werden also Genugtuung geben, oder als feige und ehrlos –«
Er trat einen Schritt zurück, so dicht war ich ihm mit einem Satz auf den Leib gerückt.
»Ja, ja! Ich schieße mich! Mit Vergnügen schieße ich mich! Sagen Sie das dem Herrn Kluge! Fatzke! Fatzke!«
Ich zischte ihm das Wort dreimal entgegen, zitterte am ganzen Körper und mochte ihn zornig genug angeblitzt haben, denn er sagte kein Wort mehr, verbeugte sich stumm, nahm seinen Hut und war draußen.
*
Da hatte ich mir nun etwas Schlimmes eingebrockt. Mein Mut hielt solange vor, wie mein Zorn. Als der verraucht war, dachte ich mit Herzklopfen an einen bösen Ausgang. Bandler übernahm es, alles Weitere mit dem Studenten zu vereinbaren. Der Sohn unseres Chefs bot sich mir als zweiter Zeuge an, doch nahm er die Sache, halb zu meinem Ärger, halb zu meinem Trotz, gar nicht so sehr tragisch. »Das ist recht, nur nicht zurückziehen,« sagte er seelenruhig, »brennen Sie ihm eins aufs Fell.«
Der Ausdruck schien mir roh. So gerne ich dem Kluge einen gehörigen Denkzettel gönnte, aber ihm eins aufs Fell brennen, ein Loch in den Leib zu schießen, darauf brannte ich nicht.
Die Bedingungen waren dreimaliger Kugelwechsel. Wir wollten uns frühmorgens um vier Uhr in einem kleinen Birkenwäldchen schießen, das ich bei meinem Einzug ins Städtchen vom Hügel herab mit liebevollen Augen angelacht hatte. Eduard fragte mich, ob ich noch irgendwelche Wünsche und Bestimmungen hätte. Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, und es fiel mir jetzt alles schwer aufs Herz. Ich setzte mich zu einem letzten Brief an die Mutter hin, zerriß ihn, da er mir nicht schonend genug schien, und schob zuletzt das Schreiben bis zum Abend auf.
Inzwischen verlebte ich schlimme Stunden im Geschäft, wo ich kopflos vor meiner Arbeit stand, die Wände anstarrte, die ich nun vielleicht zum letzenmal sah und zwischen tiefer Niedergeschlagenheit und prahlerischem Mut hin- und herfieberte.
Gegen Mittag eröffnete mir Herr Nutzsche, der Chef wünsche mich zu sprechen, ich möchte einen Augenblick zu ihm hinaufkommen. Ich war überrascht und halb ahnungsvoll. Der Alte empfing mich am Schreibtisch, die Pfeife wie immer in der Hand, und in Tabakwolken gehüllt. Ich mußte mich setzen, und er eröffnete die Unterhaltung mit einem peinlichen Schweigen. ›Der weiß etwas,‹ dachte ich; ›das Duell ist verraten.‹ In der Tat war seine erste Frage: »Sie wollen sich duellieren?«
Ich wurde noch röter als ich ohnehin schon war und ließ ihn nur aus meinem beklommenen Schweigen ein Ja heraushören.
»Können Sie schießen?« fragte er.
»Das ist doch nicht schwer,« meinte ich.
Er lachte belustigt.
»Wissen Sie wohl, daß es eine große Albernheit ist, was Sie da vorhaben, und daß daraus natürlich nichts werden kann?«
Ich schwieg, denn was sollte ich sagen? Das eine gab ich ihm stillschweigend zu, und das andere hoffte ich ja auch, seit der ersten Stunde, nachdem der widerliche Kerl, der Lammert, mich verlassen hatte.
»Mein Sohn hat mir von Ihrer Dummheit erzählt,« sagte der Alte dann ernster. »Sie haben selbstverständlich zu revozieren. Sie haben noch heute die Sache ins reine zu bringen, indem Sie sich mit dem Herrn Ruge –«
»Kluge,« verbesserte ich.
»Kluge, so. Nun, der sollte auch klüger sein. Also Sie haben sich noch heute mit ihm auseinanderzusetzen, oder Sie können sich als entlassen betrachten und noch heute abend Ihren Koffer packen.«
Ich merkte, daß es sein unerschütterlicher Ernst sei und daß mir kein Ausweg bliebe.
»Ich will es versuchen,« sagte ich und erhob mich. Er nötigte mich wieder zum Sitzen.
»Ich bin noch nicht fertig,« sagte er strenge. »Als Ihr Chef habe ich das Recht und vor allem auch die Pflicht, an diesen Vorfall ein paar ernste Worte zu knüpfen, die Sie sich ruhig gesagt sein lassen können, da sie wohlgemeint und im guten ausgesprochen sind. Wir sind hier in einer kleinen Stadt. Sie dürfen sich nicht vergessen, sich nicht gehen lassen; alle Augen richten sich auf Sie. Und Sie haben nicht zu vergessen, daß Sie ein Angestellter unserer Firma sind, deren junge Leute sich bisher immer eines guten Rufes und daher auch einer besonderen Achtung erfreut haben.«
Ich errötete bestürzt, und er fuhr begütigend fort: »Ich will nicht sagen, daß Sie sich bisher haben etwas zuschulden kommen lassen; das kleine Gelage, über das ich meinem Sohn auch schon ein Privatissimum gehalten habe, ist durch den Freibrief der Faschingszeit entschuldigt. Aber diese Duellsache! Auf welche abenteuerliche Don Quijotterien werden Sie sich am Ende noch einlassen!«
Er paffte ein paarmal heftig und blies mir im Eifer die Rauchwolken ins Gesicht.
»Seien Sie vergnügt! Junge Leute wollen sich amüsieren. Ich hab's auch nicht daran fehlen lassen. Aber es will mir scheinen, als ob Ihre Arbeit in letzter Zeit darunter litte.«
Er sagte es leichthin, doch nicht ohne Vorwurf und sah mich antwortheischend an.
»Nehmen Sie sich ein Beispiel an Bandler. Der ist ein treuer, gewissenhafter Arbeiter, und Ihr Herr Vorgänger war es ebenso. Herr Nutzsche wundert sich, daß Sie so wenig aus dem Papierverkauf herausschlagen. Ihr Vorgänger hat in manchem Monat sein Salär dadurch verdoppelt, während Sie es kaum auf ein nennenswertes Plus bringen. Gewiß, die Zeiten sind wechselnd. Aber es ist nicht nur in Ihrem eigenen Interesse, daß Sie mit Ihren Einnahmen zufrieden sind, sondern auch in meinem. Sind Sie eigentlich gern im Geschäft?«
»Gewiß,« versetzte ich.
»Das freut mich! Sind Sie überhaupt gern Buchhändler?«
»Ja, ganz gern.«
Das kam etwas unsicher heraus, und ich sah an seinem Gesicht, daß er mir nicht recht glaubte.
»Haben Sie sich schon irgendeinen Zukunftsplan gemacht?«
Ich verneinte.
»Ich halte es für gut, daß die jungen Leute sich möglichst in der Welt umsehen. Natürlich sollen Sie nicht alle Jahre Ihre Stellung wechseln, aber es gibt an jedem Platz etwas Neues zu lernen. Doch das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Und im übrigen wissen Sie ja nun, was ich von Ihnen erwarte.«
Er stand auf und gab mir die Hand zum Abschied.
»Sie haben noch eine Mutter, nicht wahr?« fragte er und legte mir die Hand auf die Schulter.
Er ließ meine Hand los und ich war entlassen. –
»Gehen Sie nur gleich zu Tisch,« sagte Herr Nutzsche unten zu mir. »Herr Bandler ist schon vorausgegangen.«
Ich war dessen froh und lief mehr als ich ging zum Haus hinaus.